Geschichte der Wolgadeutschen

DAS DEUTSCHTUM IM AUSLAND

VIERTELJAHRSHEFTE DES VEREINS FÜR DAS DEUTSCHTUM IM AUSLAND
(ALLG. DEUTSCHER SCHULVEREIN) E. V.


Die Lage der deutschen Kolonien in Rußland

Im festen Vertrauen auf die Zusicherungen des Edikts der Kaiserin Elisabeth[1] hatten im Jahre 1763 die ersten deutschen Auswanderer Rußlands Boden betreten. Einem jeden wurde 30 Dessätinen Land als Eigentum übergeben, dazu wurde ihnen freie Religionsübung für alle Zeiten, Befreiung von allen Steuern und Lasten auf 30 Jahre, Befreiung vom Militärdienst und zinsfreies Darlehn zum Erbbau von Häusern und zur ersten landwirtschaftlichen Einrichtung zugesichert. Auch die Erlaubnis zur Rückwanderung wurde gewährt, wenn ein geringer Teil des in Rußland erworbenen Vermögens zurückerstattet war. — So entstanden im Laufe der Zeit mehr als 2000 deutsche Ansiedlungen in Rußland, die sich stets der Fürsorge der Regierung rühmen durften, und die nach den ersten schweren Jahrzehnten einen ansehnlichen Aufschwung verzeichnen konnten.

Im Jahre 1874 wurde die allgemeine Wehrpflicht in Rußland eingeführt, von der jedoch die deutschen Mennoniten auf Grund ihrer religiösen Überlieferung befreit blieben. Sie konnten als Ausgleich den Sanitäts- oder Forstdienst wählen und entschieden sich für den letzteren, was sie nicht hinderte, in den verschiedenen Kriegen, die Rußland führte oder in die es verwickelt wurde (Krimkrieg 1856, russisch-türkischer Krieg 1878, jap. Krieg 1905), freiwillig ihre besten Kräfte in den Sanitätsdienst zu stellen. Die Gemeinden übten indessen Wohlfahrtspflege und Wohltätigkeit im weitmöglichsten Umfange an den zurückgebliebenen Familien der Soldaten und an den heimgekehrten Verwundeten und veranstalteten Sammlungen zur Linderung der Not. Das ehemals zugesicherte Vorrecht der Befreiung vom Militärdienst „auf ewig“ ist formell seit dem japanischen Kriege nicht wieder bestätigt worden, so viel sich auch die Gemeinden darum bemühten.

Wenn man die Entwicklung der deutschen Kolonien von ihrem Entstehen an verfolgt, so wird man unschwer einsehen, daß in der Anpassung der ersten Ansiedler an fremde Boden- und Klimaverhältnisse, in der Abwehr der ständig drohenden Gefahr feindlicher Überfälle, in der Sorge um Gründung einer neuen Existenz, in der Abgeschlossenheit, die diese nach sich zog, die Beziehungen zum deutschen Mutterlande nahezu verloren gingen. Später stellten vielfach Lehrer und Pfarrer, die man aus Deutschland berief, die Beziehungen zum Mutterlande wieder her, die sich keineswegs verringerten, auch wenn Anpassungsfähigkeit und die Selbstverständlichkeit der Gewohnheit im neuen Boden Wurzel schlugen. Festhalten an Muttersprache und Glauben, Gründung deutscher Schulen, Büchereien und Zeitschriften, Jugenderziehung in deutschem Sinne waren das Ergebnis des Einflusses der Besten unter den Kolonisten. Die gegenwärtige Zeit hatte den geschichtlichen Sinn gestärkt, mit dem Bewußtwerden der Stammeszugehörigkeit waren neue Werte geschaffen, die neue geistige Beziehungen zwischen Mutterland und Kolonien ergaben. Die Bestrebungen der Führer unter den Kolonisten, die vielfach in Deutschland ihre Studien gemacht hatten, waren im letzten Jahrzehnt vor allem daraus gerichtet, durch geeigneten Lesestoff einen Gedankenaustausch und damit eine neue Form der Verbindung zwischen Kolonie und Mutterland herzustellen. Es war eine neue Literatur im Entstehen, die das Verhältnis der Deutschen zu ihrer einstigen Heimat und zugleich das Verhältnis zur neuen Heimat zu klären anstrebte und ihnen ihre Stellung beiden gegenüber anschaulicher gemacht hat. Die deutschen Kolonisten begannen, sich ihrer Eigenart sowie ihrer Lage und Pflichten nach zwei Seiten hin bewußt zu werden.

Als der Krieg am 1. August 1914 hereinbrach, fand die einsetzende Hetzarbeit der russischen Presse gegen die Deutschen in den Baltischen Provinzen und deutschen Kolonien einen aufnahmefähigen Boden im russischen Volke. Die seit Jahren laut gewordenen Anfeindungen, die hauptsächlich durch den gesteigerten Landerwerb der Kolonisten hervorgerufen, sich auch gegen die Privilegien der mennonitischen Kolonien (Befreiung vom aktiven Militärdienst) wandten, hatten ihn gut vorbereitet. Die konservative Presse forderte von der Regierung: Zwangsenteignung aller deutschen Kolonisten und Aufteilung des Landes an russische Bauern und Invaliden oder kurzfristigen Verkauf mit dem Ansiedlungsrecht in Sibirien. Die liberale, meist deutschfreundliche Presse und die Gouvernementsverwaltungen von Simferopol, Eupathoria, Taurien und Jekaterinoslaw vermochten mit einer Eingabe an die Regierung jener erbitterten Strömung nur geringen oder gar keinen Einhalt zu tun.

Im Februar 1915 wurde das anfänglich als Entwurf vorgelegene Gesetz: Die Einschränkung des Landbesitzes und die Landnutzung von Deutschen zum Gesetz erhoben, und im Gouvernement Kowno an der ostpreußischen Grenze durch Enteignung von 505 deutschen Gütern mit etwa 170000 ha Land bestätigt. Auch in polnischen Gouvernements ist dieses Gesetz durchgeführt, was sich aus strategischen Gründen noch verstehen ließe.

Unbegreiflich jedoch wird dieses Gesetz, sobald es auf die im inneren Lande gelegenen Kolonien ausgedehnt werden sollte, wie es bereits vorgesehen ist. Es wird den deutschen Reichsangehörigen und den Österreichern für die Zukunft nicht nur der Landerwerb und die Landnutzung in einer 100 bis 150 km breiten Grenzzone von Torneo längs der Grenzlinie bis hinab zum Kaspischen Meere verboten, sondern die seit nahezu 150 Jahren im Lande lebenden deutschen Kolonisten sind gezwungen, innerhalb zwei Jahren ihre Besitzungen und Landanteile zu veräußern. Da nun voraussichtlich weder das Reich noch die Bauernbank die Gelder für den Landankauf wird ausbringen können, das über 3 Millionen Hektar im Werte von 1500 bis 1800 Millionen Mark geschätzt ist, so soll die Bauernbank von der Regierung ermächtigt werden, Schuldscheine zur Zahlung auszugeben, die jedoch nicht auf den Markt gebracht werden dürfen, welche Maßnahmen für die Kolonisten auch den finanziellen Ruin bedeuten würden.

Von diesem Gesetz sollen deutsche Offiziere, Kriegsfreiwillige oder die Familien solcher Männer, die im Kriege gefallen sind, ausgeschlossen bleiben, welchem Passus man jedoch bei dem Gemeinschaftsgefühl der Kolonisten wenig Aussicht auf Erfolg geben kann.

Ein anderes Gesetz vom 24. Dezember 1914 beschäftigt sich mit Vorschlägen zur Einschränkung der deutschen Sprache in den deutschen Schulen. Welche Hemmung dieses Gesetz in der Entwicklung der deutschen Kolonien und ihrer seit den beiden letzten Jahrzehnten gesteigerten Beziehungen zum Mutterlands bedeuten würde, ist heute noch nicht abzusehen. Die deutsche Sprache soll fortan in den deutschen Schulen nur noch im ersten Schuljahre gestattet und für den Religionsunterricht freigegeben werden. War die deutsche Sprache bis zum Jahre 1891 die einzige, deren sich die Kolonisten zur Erziehung der jungen Generation in Schule und Haus bedienten, so ließ die Regierung von diesem Jahre ab die deutsche Sprache nur noch für den dritten Teil des Unterrichtes zu. Die zwangsweise Einführung der russischen Sprache war bisher zur besseren Verständigung mit der Umgebung den Kolonisten nur zum Vorteile gewesen. Im Hause, und im Verkehr untereinander, beim Gottesdienst und Unterricht wurde um so treuer an deutscher Sprache und der Pflege deutschen Gedankenaustausches festgehalten. Wird auch die Änderung im Schulunterrichte, die durch die neue Gesetzgebung heraufbeschworen, das augenblickliche System nicht allzufühlbar verändern, so besteht doch die Möglichkeit, daß durch rigorose Maßnahmen voreingenommener russischer Beamte, denen für gewöhnlich die Kontrolle untersteht, die deutsche Schule und mit ihr das Deutschtum in seinem innersten Wesen getroffen würde.

Wer es beurteilen kann, welche einschneidenden Veränderungen alle jene angedeuteten neuen Maßnahmen nach sich ziehen, der wird vor allem an die Pflege des Deutschtums in den Kolonien der I766 eingewanderten Herrnhuter Brüdergemeinde Sarepta an der Wolga und an die 1789 erstmalig eingewanderten Mennonitengemeinden denken, die im Süden und später an der Wolga angesiedelt wurden und die aus Grund ihrer religiös-ethischen Überlieferung die Entwicklungsstufe zu höherer Kultur in deutscher Sprache und Anschauung erkannten und pflegten. Die erfreuliche Entwicklung dieser Kolonien ist weithin bekannt geworden, sie vermochten sogar den umliegenden, später gegründeten Kolonien zu schnellerem Aufschwunge zu verhelfen. Die rühmliche Organisation der deutschen Ansiedlungen wurde vielfach vorbildlich für die Bestrebungen, den russischen Bauernstand zu heben, ja, ein Geschichtsschreiber behauptet, „die russischen Behörden seien sich stets darüber einig gewesen, daß die deutschen Kolonien zu den reichsten und am besten organisierten Ansiedlungen in Rußland, ja nicht nur in Rußland allein, sondern in der ganzen Welt gehören“.

Vom 17. März d. J. besteht eine Verordnung an die Generalgouverneure, die in ihren Bezirken wohnhaften Deutschen aufzuzeichnen und zur vereinzelten Ansiedlung zur Disposition zu stellen. Ein solcher Versuch wurde schon einmal in früherer Zeit von der Regierung gemacht, als man im Süden die Juden in ackerbautreibende Kolonien anzusiedeln sich bestrebte. Es wurden ihnen deutsche Musterwirte zugeteilt, die ihre Aufgabe zwar nicht ohne Erfolg durchgeführt haben, jedoch sobald als möglich ihre deutschen Kolonien wieder aufsuchten.

Die neuerdings ausgegebene Verordnung weicht jedoch wesentlich in ihren Motiven von der ehemaligen Bestimmung ab, und wie sich das Resultat im Empfinden der Kolonisten äußern wird, ist heute noch nicht zu berechnen.

Es ist zu erwarten, daß die russische Regierung noch weitere Bestimmungen folgen lassen wird, auf die dann wohl die letzten Konsequenzen der Kolonisten folgen werden.

Man kann annehmen, daß Deutschland trotz eigener Bedrängnis den Stammesbrüdern im Osten im Ringen um ihre gefährdete Existenz, um ihr gefährdetes Deutschtum mit Rat und Tat zu Hilfe kommen wird.

Helga Nicolassen.


[1] Richtig: Katharina II. – Anm. von A. Spack.


Das Deutschtum im Ausland, 1915, Heft 26, S. 415-419.