Geschichte der Wolgadeutschen

DEUTSCHE ERDE

ZEITSCHRIFT FÜR DEUTSCHKUNDE


Die Deutsche in Rußland.

Von Ernst Hasse.

(Mit Sonderkarte 6.)

Wenn man von dem Deutschtum im heutigen russischen Kaiserreich redet, dann muß man bedenken, daß dieses gewaltige Gebiet in allen Perioden der uns bekannten Geschichte ein Siedelungsgebiet des deutschen Volkes gewesen ist. In den Zeiten vor der Völkerwanderung war ein breiter Streifen des heutigen Rußlands von der Ostsee hinab bis zum Schwarzen Meer wahrscheinlich fast ausschließlich durch germanische Völker besiedelt. Und als dann nach der Völkerwanderung die slawischen Völker westwärts verdrängen, stellte sich bekanntlich bald eine Gegenströmung ein, die bis tief hinein nach Rußland reichte. Vom 9. Jahrhundert an waren die baltischen Gebiete, dann aber auch Polen die Ziele einer massenhaften deutschen Wanderung. Ganz besonders gilt dies bis zum 14. Jahrhundert. Aber auch seitdem rieselten unausgesetzt kleine Bäche deutschen Blutes nach dem fernen Osten. Eine organisierte deutsche Einwanderung nach Rußland fand dann wieder im 18. und 19. Jahrhundert statt, veranstaltet durch Peter den Großen und Katharina und endlich im 19. Jahrhundert durch Alexander I. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hörte die Organisation dieser Berufungssiedelung zwar auf, aber der Strom deutscher Auswanderer nach Rußland versiegte keineswegs. Leider können wir die Massen der deutschen Wanderer nach dem Osten und der deutschen Siedler auf dem heutigen Gebiet des Russischen Reiches schwer beziffern, und noch viel schwieriger ist es, anzugeben, welche Bruchteile der heutigen Bevölkerung des Russischen Reiches als Nachkommen jener deutschen Ureinwohner und jener späteren Einwanderer anzusprechen sind. Jedenfalls sind diese Bruchteile aber viel größer, als man in Rußland, aber auch in Deutschland, anzunehmen gewohnt ist. Ich habe mich über diese Dinge in meiner „Besiedlung des deutschen Volksbodens“ (s. D. E. 1905, S. 104) besonders S. 51 ff. und S. 69 ff. ausgesprochen und gedenke dies noch ausführlicher zu tun, wenn ich in einem späteren Bande meiner „Deutschen Politik“ „die deutsche Auswanderung“ als solche behandeln werde. Heute sei nur darauf hingewiesen, daß die deutsche Wanderung nach Rußland im 18. Jahrhundert auf 50—80000 Köpfe, von 1816—1826 auf 250000 Köpfe geschätzt wird. Für die spätere Zeit liegen uns einige Nachrichten vor in der russischen Paßkontrolle, die genau angibt, wieviele Personen, getrennt nach Staatsangehörigkeit, nach Rußland reisen oder Rußland verlassen[1]. Der Unterschied zwischen den die russische Reichsgrenze westwärts und ostwärts Überschreitenden kann als Einwanderungs- oder Auswanderungsüberschuß angesehen werden. Was die Deutschen anbelangt, so handelt es sich nur um einen Überschuß der Einwanderer nach Rußland über die Einwanderer nach dem Deutschen Reiche. Hiernach betrug die deutsche Einwanderung nach Rußland in den Jahren 1830—1882 790449 Köpfe, in den Jahren 1883—1885 wird sie auf 150000 beziffert, 1886—1895 auf 153459 und für 1896—1903 auf 219255. Das gibt für den Zeitraum von 1830—1903 1313163. Die deutsche Auswanderung nach Rußland im Laufe des 19. Jahrhunderts kann demnach auf rund 1 ½ Millionen Menschen beziffert werden.

Es fragt sich nun, welche Niederschläge haben die frühere Siedelung und diese Einwanderungen hinterlassen, welche Bruchteile dieser Wanderung haben ihre deutsche Muttersprache oder gar ihre deutsche Reichsangehörigkeit beibehalten? Die Statistik wird hierüber stets nur Mindestangaben machen können, weil Gründe dafür kaum beizubringen sind, daß bei statistischen Erhebungen mehr Menschen sich als Deutsche in Rußland bekennen sollten, als hierzu berechtigt sind; während leider die Vermutung dafür spricht, daß viele Deutsche oder deren Nachkommen ihr Deutschtum vergessen oder verleugnet haben.

Nach Rittigs „Ethnographie Rußlands“ und Petermanns Mitteilungen, Ergänzungsheft 54, winde die Zahl der Deutschen, d. h. „der deutsch Redenden, das ist sowohl russische Staatsangehörige in den drei baltischen Gouvernements, den Wolgakolonien, Bessarabien usw. lebend oder ihnen entstammend, als im Deutschen Reiche geboren oder deutsche Reichsangehörige“, noch russischen amtlichen Schätzungen für das Jahr 1870 angegeben auf 983659 im europäischen Rußland, 8876 im Kaukasus, 5050 in Sibirien, 236 in Mittelasien. Die russische Volkszählung vom Anfang des Jahres 1897 hat nun endlich einen deutlicheren Einblick in diese Verhältnisse gewährt, indem Rußland bei dieser Gelegenheit nicht nur die fremden Staatsangehörigen zählte, sondern auch die Muttersprachen der ortsanwesenden Bevölkerung auseinander hielt. Selbstverständlich stellt die Zahl der in Rußland lebenden deutschen Staatsangehörigen eine Minderheit dar gegenüber denen, die die deutsche Muttersprache sprechen. Die erstere Menge hat aber eine doppelte Bearbeitung gefunden, indem auf Grund internationaler Abmachungen das Zählkartenmaterial der in Rußland lebenden deutschen Staatsangehörigen an das Kaiserlich deutsche Statistische Amt in Berlin geschickt wurde. Dieses sind auf Grund dieses Materials in Rußland ohne Finnland 151102 deutsche Staatsangehörige in Rußland. Die Kaiserlich russischen statistischen Behörden bezifferten dagegen die deutschen Staatsangehörigen in Rußland auf 158103[2].

Die Abweichungen zwischen beiden Zahlen sind natürlich gleichgültig. Vom Standpunkt des deutschen Volkstums aus hat es aber auch wenig Wert, an der Hand der russischen Veröffentlichungen[3] diese 158103 deutschen Untertanen nach ihren Wohnsitzen und ihren Eigenschuften weiter zu verfolgen, da sie eben eine Minderheit innerhalb der großen Masse der Deutschen darstellen. Wir werden besser tun, die Ergebnisse der Zählung der russischen Bevölkerung vom Jahre 1897 nach der Muttersprache im einzelnen weiter zu verfolgen, und zwar nach ihrer geographischen Verbreitung und nach den Verbindungen zwischen Muttersprache und Religionsbekenntnis und einigen anderen Momenten, die von der russischen Statistik berücksichtigt worden sind. Wir unterdrücken dabei den von der amtlichen russischen Statistik in allen ihren Tabellen mit Recht gemachten Unterschied zwischen den beiden Geschlechtern, ebenso den überall durchgeführten Unterschied zwischen Stadtbevölkerung und Landbevölkerung und die Gliederungen nach Altersklassen und Zivilstand, sowie endlich die für Rußland außerordentlich wichtige Kenntnis des Lesens und Schreibens.

Wie unsere Tabelle 3 zeigt, fand die amtliche Volkszählung Rußlands im Gesamtgebiet des Kaiserreichs ohne Finnland 1790489 Deutsche. Bemerkenswerterweise berücksichtigt die amtliche russische Volkszählung von 1897 Finnland noch nicht. Dies erfreute sich auch 1900 noch einer so weitgehenden Selbständigkeit, daß, abweichend vom Russischen Reiche, dort im Jahre 1900 eine Volkszählung veranstaltet wurde, bei der man 1921 Deutschsprechende fand, von denen 1716 auf die Städte, 209 auf das Landgebiet entfallen, vorwiegend in den Gebieten Wiborg (886) und Nyland (755). Gezählt wurden also noch nicht ganz 1800000 Deutsche, während alle Kenner der russischen Verhältnisse die Zahl der dortigen Deutschen gegenwärtig auf mindestens 2 Millionen schätzen oder berechnen. Unter diesen Umständen ist die bei der Volkszählung gefundene absolute Zahl vielleicht von geringerem Belang, als die ausgewiesene Verteilung der Deutschen in Rußland über das Gebiet des Kaiserreichs und die nachgewiesene Gliederung der Deutschen nach dem Religionsbekenntnis und nach anderen Merkmalen.

Da zeigen nun unsere Tabellen 3 und 4 in Verbindung mit derjenigen auf S. 93 dieses Jahrgangs[4] und der 6. Sonderkarte, daß die Deutschen über das ganze Gebiet des Russischen Reiches bis hin nach Sibirien und Zentralasien zerstreut sind. Größere Anhäufungen finden sich nur in den alten deutschen baltischen Provinzen, in Polen, am Schwarzen Meer, an der Wolga und am Kaukasus sowie in den großen Städten, in erster Linie in Petersburg, Moskau und Warschau.

Auffällig klein ist die Zahl der Deutschsprechenden in den alten baltischen Provinzen Kurland, Livland und Estland. Dort finden sich nämlich nur 165626 Deutsche. Rechnet man zu ihnen die benachbart wohnenden Deutschen von Petersburg und Kowno, so gelangt man allerdings zu einer Anhäufung von 250846.

Mehr als doppelt so groß ist die deutsche Besiedlung von Polen, namentlich, wenn man das benachbarte Wolynien hinzurechnet. Dann findet man dort zusammen 578605 Deutsche, die besonders in den polnischen Industriegebieten von Lodz usw. zusammengedrängt sind. Kenner der dortigen Verhältnisse wollen allerdings behaupten, daß sich allein die evangelische Bevölkerung des russischen Polens auf 1 Million schätzen läßt.

Recht beträchtlich sind die Niederschläge der deutschen Siedelung an der Wolga und am Schwarzen Meer, im wesentlichen aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts stammend. Allein in den zwei Gouvernements Samara und Saratow finden wir 390864 Deutsche und in den an der Nordküste des Schwarzen Meeres benachbart gelegenen Gouvernements Bessarabien, Cherson, Jekaterinoslaw und Taurien zusammen 222943 Deutschsprechende. Aber auch das ganze Kaukasusgebiet, ganz Ostrußland und das Dongebiet sind mit vielen Deutschen durchsetzt[5]. Leider liegen freilich die Häufungsgebiete der Deutschen in Rußland weit auseinander, sodaß man für die Zukunft von dieser deutschen Besiedlung politisch wenig hoffen darf. Selbst eine den Völkern Rußlands gewährte nationale Autonomie würde den Deutschen verhältnismäßig wenig zugutekommen und sich nur auf Kirche, Schule und Gemeinde, kaum aber auf die Vertretung größerer Gebiete erstrecken können, es wäre denn, daß die baltischen Provinzen wieder an ihre alten deutschen Privilegien anknüpfen.

Eine gewisse Überraschung bietet unsere Tabelle 4, indem sie zeigt, daß die Deutschen in Rußland durchaus nicht ausschließlich den im Deutschen Reiche meist verbreiteten Religionsbekenntnissen angehören, sondern daß deutsche Minderheiten sich zu fast allen der vielen in Rußland vertretenen Religionen bekennen. Selbst 57 deutsche Muselmänner und ein deutscher Buddhist fehlen nicht. Auffälligerweise ist sogar in Polen die Zahl der deutschen Lutheraner größer als die der dort lebenden Römisch-Katholischen, und ebenso ausfällig ist es mindestens, daß die Römisch-Katholischen deutscher Sprache viel weniger in Polen, als vielmehr im übrigen europäischen Rußland, aber auch im Kaukasus gesiedelt sind. Ebenso ausfällig ist die Zahl von 13360 Deutschen, die sich zur russischen Staatskirche, der griechisch-orthodoxen, bekennen. Minder auffällig ist die große Zahl der deutschen Juden.


[1] Vgl. Monatsschrift zur Statistik des Deutschen Reiches, Jahrg. 1884, VIII, S. 20 ff., und Konrads Jahrbücher 1905, S. 69 ff.

[2] Die Deutschen im Auslande und die Ausländer im Deutschen Reiche, Vierteljahrsheft zur Statistik des Deutschen Reiches, Ergänzungsheft zu 1905, I, S. 3 (siehe D. E. 1905, S. 125 ff.).

[3] Premier recensement général de la population de l'Empire de Russe. 1897. Rédigé par Nikolas Troinitzky. Relevé général pour tout l'Empire de Russie des résultats du dépouillement des données du premier recensement de la population en 1897. II. St. Petersburg 1905.

[4] Die dort noch fehlenden Zahlen sind wie folgt zu ergänzen: Gouvernement Moskau 19116 Deutsche = 7,9 v. T., Gouv. Tambow 1244 D. = 0,5 v. T., Gouv. Tschernigow 5306 D. = 2,3 v. T.; im Inneren Rußland zusammen 1083104 D. = 12,2 v. T.- In Kaukasien: Baku 3430 D. = 0,4 v. T., Daghestan 261 D. = 0,05 v. T., Eriwan 210 D. = 0,03 v. T., Kutais 1065 D. = 1,2 v. T., Tiflis 8340 D. = 7,9 v. T.; zusammen in Kaukasien 56729 D. = 6,1 v. T. – In Sibirien: Amur-Provinz 135 D. = 1,1 v. T., Küstenprovinz 603 D. = 2,7 v. T., Tobolsk 1120 D. = 0,8 v. T.; zusammen in Sibirien 5424 D. = 1,0 v. T. – In Mittelasien: Samarkand 440 D. = 0,5 v. T., Semipalatinsk 100 D. = 0,1 v. T., Semiretschensk 40 D. = 0,0 v. T., Syrdarja 1887 D. = 1,3 v. T.; zusammen Mittelasien 8874 D. = 1,1 v. T. Einige Änderungen in den Anteilen der Deutschen an der Gesamtbevölkerung finden sich auf der 6. Sonderkarte.

[5] Die deutsche Bauernbevölkerung Rußlands würdigt eingehend das 16. Kap. des in 4. Aufl. vorliegenden bekannten Wallaceschen Buches über Rußland (Würzburg, A. Stuber): „Fremde Kolonisten in der Steppe“, dessen ausführlichere Besprechung vorbehalten bleibt.


Deutsche Erde, 1905, S. 205-207.