Geschichte der Wolgadeutschen

DEUTSCHE ERDE

ZEITSCHRIFT FÜR DEUTSCHKUNDE


Deutsche Abgeordnete der ersten Reichsduma.[1]

Als deutschbewußte Abgeordnete (dem russischen Staate selbstverständlich treu ergeben) konnten in der aufgelösten ersten Reichsduma wohl nur die aus den „Kolonisten“ hervorgegangenen vier nachstehenden gelten:

Gouvernement Bessarabien.
(60 206 Deutsche = 3,1 v. H. der Bevölkerung.)

Andreas Widmer, geb. 1856 in der deutschen Kolonie Malojarosslawez II (Posttal; 1300 Einw.) im Gouvernement Bessarabien, ev.-luth., besuchte die Zentralschule in Sarata, 29 Jahre Gemeindeschreiber in Tarutino (deutsche Wolost von 5257 Einw.), seit 1881 Akkermanscher Landschafts(Kreis-Semstwo)verordneter, seit 1903 Mitglied des Kreislandamtes u. Gouvernementslandschaftsverordneter, bekannter Landwirt, politisch gemäßigt, den „Oktobristen“ nahestehend. „Ich bin gut Deutsch und stehe fest ein für Erhaltung und Pflege der deutschen Sprache in unseren Schulen, denn nach meiner Überzeugung ist die deutsche Sprache allein Trägerin deutscher Art, deutscher Sitte, deutscher Gesinnung und — wenn ich so sagen darf — deutscher Tugend." (Aus einem au die deutsche „Odessaer Zeitung“ gerichteten Schreiben.)

Gouvernement Cherson.
(123 453 Deutsche = 4,5 v. H. der Bevölkerung.)

Johann Münch, geb. 1862 in der deutschen Kolonie Großliebenthal (2997 Einw.; siehe „Deutsche Erde“ 1903, S. 144 ff.) im Gouv. Cherson bei Odessa, ev.-luth., besuchte die dortige Zentralschule, 13 Jahre Lehrer, seit 1893 Landwirt, seit 1903 Oberschulz (Wolostvorsteher), der großen deutschen Wolost Großliebenthal (Mariinskoje) mit 11409 Einw., politisch gemäßigt, wie Widmer auf dem linken Flügel der „Oktobristen“.

Gouvernement Saratow.
(166 528 Deutsche = 6,9 v. H. der Bevölkerung.)

Jakob Dietz, geb. 1864 im deutschen Wolgakolonistenbezirk (Gouv. Saratow), ev.-luth., besuchte das Gymnasium in Saratow, Landwirt und Rechtsanwalt im Donschen Gebiet, später Rechtsanwalt in Kamyschin an der Wolga (2443 Deutsche), lebhaft literarisch tätig in Saratower Zeitungen über die deutschen Wolgakolonien, seit Jan. 1906 Herausgeber der fortschrittlichen Zeitung für das Wolgagebiet („Privolshskaja Gaseta“[2]), politisch linksstehend (linker Flügel der „Kadeten“).

Gouvernement Samara.
(224 336 Deutsche = 8,2 v. H. der Bevölkerung.)

Heinrich Schellhorn, geb. in dem großen deutschen katholischen Dorfe Rownoje an der Wolga (Wiesenseite; Gouv. Samara), röm.-kathol., Gemeindevorsteher von Rownoje u. langjähriger Kreis-Semstwo- u. Gouvernementslandschafts-Abgeordneter, Herausgeber u. Verleger der deutschen katholischen Wochenschrift „Klemens“ in Saratow (siehe „Deutsche Erde“ 1905, S. 32), angesehener Landwirt, politisch linksstehend („Kadeten“-Partei).

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Infolge lässiger Beteiligung an den Wahlmännerwahlen und Uneinigkeit unter den Wahlmännern waren die Deutschen in den Gouvernements Taurien (78 305 = 5,4 v. H.) und Jekaterinoslaw (80979 = 3,8 v. H.) in der ersten Reichsduma nicht vertreten. Ebenso gelang es den Deutschen in den Ostseeprovinzen nicht, einen Abgeordneten durchzubringen (im Stadtwahlkreis Riga z. B. stimmten für den deutschen Kandidaten nur 15, für den lettischen 71 Wahlmänner). Im Stadtwahlkreis Lodz in Polen (67248 Deutsche = 21,4 v. H.) ging die „Konstitutionell-liberale Partei Deutschsprechender“ mit den polnischen Parteien zusammen gegen die Juden, infolgedessen wurde ein Pole gewählt.

Deutscher Abstammung, aber mit Ausnahme des Erstgenannten wohl kaum noch als Deutsche anzusprechen sind noch eine Reihe anderer besonders adeliger Abgeordneter, die von Nichtdeutschen gewählt waren, so Eduard Freiherr von der Ropp aus dem bekannten baltischen Adelsgeschlecht, röm.-kathol. Bischof von Wilna, parteilos; ferner Peter Graf Heyden, der Führer des „Verbandes vom 17. Oktober“ (Gouvernement Pleskau), Gutsbesitzer Fedor Baron Steinheil („Kadet“; Gouv. Kiew), Alexander Baron Krüdener-Struve („Oktobrist“; Gouv. Moskau), Ingeniör A. N. von Rutzen (Gouv. Kursk), Eugen Scholp (Gouv. Kiew), Landwirt A. G. Fuhrmann (Gouv. Wolynien) u. a. m.

Deutsche oder deutschklingende Namen tragen noch eine Reihe von Abgeordneten anderer Parteien und undeutscher Volksstämme, die z. T. im unversöhnlichen Gegensatz zu den Deutschen stehen, so bei den Letten und Esten Großwald (Stadt Riga), Brehmer (Gouv. Livland), Kreizberg (Jude; Gouv. Kurland) sowie mehrere unter den 13 Juden „hebräischer“ Nationalität (Herzenstein, Frenkel, Rosenbaum, Bramson, Bruck u. a.).

Deutsche Abgeordnete des ersten Reichsrats (nach seiner Umgestaltung).

Von den Wahlmännern der Adelskorporationen
gewählt:

Gouvernement Kurland: Woldemar Graf Reutern, Freiherr v. Nolcken, Kammerherr, Majoratsherr auf Ringen bei Mitau.

Gouvernement Livland: Heinrich Baron Tiesenhausen, livländ. Landrat und Kammerherr, Inzeem bei Segewold.

Gouvernement Estland: Otto Baron Budberg, Ritterschaftshauptmann u. Kammerherr, Präsident der (deutschen) „Estländischen literarischen Gesellschaft“ zu Reval.

Öselscher Adel: Oskar von Ekesparre.

Von den Wahlmännern der Börsenkomitees
gewählt:

Nicolai von Cramer: Sekretär des Rigaischen Börsenkomitees, Riga.

Deutschnamige Mitglieder: P. L. Baron Korff, früheres Stadthaupt von Petersburg, Präsident des Petersburger Zentralkomitees des Verbandes vom 17. Oktober; Iwan Borgmann, Prof. der Physik an der Universität Petersburg (Kadet) u. a.

Prof. Paul Langhans.


[1] Die Einzelheiten verdanke ich großenteils Herrn Dr. Herm. Haacks Übertragung aus „Alphabetisches Verzeichnis und ausführliche Biographie und Charakteristik der Mitglieder der Reichsduma“. 8o, 158 S. Moskau 1906, I. D. Sytin. (In russ. Sprache.)

[2] Richtig: „Privolshsky Kraj“. – Anm. von A. Spack.


Deutsche Erde, 1906, S. 123-124.