Die Unterdrückung der deutschen Bürger
Russlands durch die zarische Regierung
Von Professor Dr. K. Lindemann.
Simferopol (Krim), vormals in Moskau
Die Einwanderung der Deutschen nach Russland begann zur Zeit des Zaren Johann der Schrecklichen und nahm während des 16. Jahrhunderts immer zu. Die Zahl der deutschen Einwanderer nach Moskau wuchs stark im 17. Jahrhundert während der Regierung des Zaren Alexej Michailowitsch. Diese Einwanderer waren damals hauptsächlich Ärzte und Handwerker und waren dem moskauischen Volke höchst willkommen, denn sie waren ihm als Lehrmeister verschiedener Handwerke und als Spender und Erhalter der Gesundheit sehr nützlich, da solche damals unter den Russen noch vollständig fehlten. Die Einwohner Moskaus verhielten sich zu diesen Einwanderern höchst freundschaftlich, wie zu lieben nützlichen Gästen. Zwischen diesen Gästen und den alteigesessenen Moskowitern entstanden gute, freundschaftliche Beziehungen. Das Leben war damals billig; Arbeitsgelegenheit war genug für alle, die eigewanderten Gäste lebten nicht besser als die Moskowiter, - und darum war kein Grund zur Entfachung jenes Neides, der in neuester Zeit die gegenseitigen Beziehungen zwischen Russen und Deutschen so stark trübte.
Die Einwanderung der Deutschen nach Russland wuchs stark an zur Zeit der Peters des Großen, und besonders stark wurde sie während der Regierungszeit der Kaiserin Katharina II., der Großen, da diese Herrscher verschiedene Ausländer (darunter namentlich Deutsche), aufforderten, nach Russland zu kommen, um hier die Entwicklung aller wirtschaftlichen Zweige im großem Staate zu vervollkommnen und zu beschleunigen. Nicht nur Ärzte und Handwerker wurden damals aufgefordert, nach Russland zu kommen, sondern auch Gelehrte, Beamte, Kriegs- und Seeleute, Fabrikanten mit ihren Meistern und Arbeitern und schließlich Landwirte, welche im Süden Russlands in zahlreichen Dörfern (Kolonien) sich niederließen, um hier aus den Fortschritt der russischen Landwirtschaft einzuleiten und zu fördern. Es waren also diese Einwanderer geladene Gäste, nicht eigenmächtig ins fremde Land gekommene Eindringlinge. Arbeitsam und kenntnisreich wie sie waren (namentlich die Mennoniten) errangen sie bald einen hohen Wohlstand, zuweilen sogar einen gewissen Reichtum und richteten darnach auch ihre ganze Lebensweise und die Organisation ihrer Wirtschaften. In dieser Hinsicht überragten sie sehr die russische Nachbarschaft und in den Städten die Bevölkerung, der gegenüber sie als Konkurrenten erscheinen mussten.
Die besten freundschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschen und Russen in Russland dauerten bis zur Regierungszeit des Kaisers Alexander III. Unter dem Einflusse der Kaiserin Maria Fedorowna, (der ehemaligen dänischen Prinzessin Dagmar) wurde der Kaiser deutschfeindlich beeinflusst. Seine Sympathien teilten selbstverständlich die Hofkreise und die Regierung. Äußere politische Verwicklungen, wie auch im inneren Leben Russlands entstandene Reibungen gaben Anlass zur Verschlechterung der gegenseitigen Beziehungen beider Nationalitäten, welche bis dahin in großer Freundschaft zu einander standen, sowohl im bürgerlichen Leben, als auch in den Hof- und Regierungskreisen. In der hervorgegangenen Periode, während der Regierungszeit des Kaisers Alexanders II. (Nikolaewitsch) spielten die Deutschen in Russland eine sehr große Rolle. Zahlreiche Stellen in der Verwaltung waren von Deutschen, baltischen Baronen besetzt, von den höchsten Spitzen der Administration an, bis zu den kleinsten Beamtenstellen in den Provinzen. Deutsche waren die dem Hofe nächststehenden Persönlichkeiten: Minister, Departments-Direktoren, Kommandierende Generäle im Heere u. a. In der Akademie der Wissenschaften in Petersburg waren die Mitglieder derselben beinah ausschließlich Deutsche. An den Universitäten wirkten viele deutsche Professoren.
Dies Vorherrschen deutscher Männer in Verwaltung und akademischen Kreisen war für den russischen Staat von größtem Nutzen. Die baltischen Provinzen waren ein Teil Russlands und deren Bewohner – treue russische Untertanen, ganz ebenso wie die Russen z. B. aus den Gouvernements Orel und Tula. Als russische Untertanen hatten sie natürlich ein Recht, ihrem Staate zu dienen und in demselben führende regierungsstellen zu besetzen. Dies war auch dem Reiche von großem Nutzen, denn es kann gar nicht geleugnet werden, dass damals die Deutschen durch ihre Bildung und kulturelle Entwicklung viel höher standen als ihre russischen Mitbürger. Andererseits war diese führende Stellung der Deutschen in Russland auch historisch erklärlich, ja selbstverständlich, da auf dem russischen Throne seit Mitte des 17. Jahrhunderts deutsche Kaiserinnen, wie Katharina II., Anna Ioannowna, saßen, welche von Balten und Deutschen aus Preußen u. a. umgeben waren.
Zur Zeit Alexander III. erstand eine starke Gegenströmung gegen dieses Vorherrschen der Deutschen in Russland. So mancher deutsch-baltische Baron in der Regierung verhehlte seine Abneigung und selbst seine Verachtung gegenüber den Russen nicht und betrachtete seine Stellung als eine Art Monopol der Deutschen. Dies erregte den Hass und den Neid der Russen. Dies umso mehr, als die Bildung der russischen Gesellschaft, die russische Literatur und Wissenschaft gerade in dieser Zeit eine hohe Entwicklung erreichten, so dass sich die Russen ihrer Fähigkeiten bewusst wurden, ihren Staat selbst zu regieren und nicht weiter unter der Führung der Balten in untergeordneten Stellungen arbeiten wollten. Diese Bewegung begann schon während der Regierung des Kaisers Alexander II., in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Der Aufschwung des russischen Selbstgefühles fand seinen Ausdruck in einem damals erschienenen Werke, das eine große Bedeutung in der entstandenen Missstimmung gegen die Deutschen in Russland erhielt. Es war das Buch von Juri Fedorow[itsch] Samarin, betitelt: „Die Grenzgebiete Russlands“. Dieses Buch kann als ein leidenschaftlicher Protest gegen die Vorherrschaft der Balten und die Zurücksetzung der Russen in der Verwaltung des Reiches betrachtet werden. Es wurde von der russischen Gesellschaft (und besonders in Moskau) mit großer Genugtuung aufgenommen. Solche Werke sind gleichbedeutend mit einer Fahne, deren Losung die Massen anzieht und nach sich reißt. Das Buch von Samarin wurde zu einer solchen Fahne und entfachte im ganzen Russland Unzufriedenheit gegen die deutschen Bürger desselben. In den höchsten Hofkreisen machte es tiefen Eindruck und gewann großen Einfluss auf die Spitzen der Regierung. Unter dem Drucke der entstandenen Stimmung fand es der Kaiser Alexander II. angezeigt, einige höhere deutsche Beamten zu entlassen und ihre Stellen durch Russen zu besetzen, was in der Moskauer Gesellschaft mit großer Befriedigung entgegengenommen wurde.
Diesen in Russland wirkenden Zeichen der Unzufriedenheit und des Neides gegen die Deutschen schlossen sich noch außenpolitische Faktoren an, welche ebenfalls dahin zielten, den Einfluss der Deutschen in Russland herabzusetzen.
Mitte des 19. Jahrhunderts führte Preußen und Österreich Krieg gegen Dänemark, der für Preußen-Österreich siegreich endete. Dänemark verlor dabei Schleswig-Holstein, (das aber deutsche Bewohner hat und nur Dank der inneren Zerrissenheit Deutschland nicht schon längst zu diesem gehörte – die Schriftleitung), also einen großen Teil seines Territoriums. – Der Verlust dieser schönen Provinzen verursachte in Dänemark eine große Verstimmung und erzeugte in gewissen Kreisen den bittersten Deutschenhass.
Um dieselbe Zeit entsteht die Eifersucht Englands auf das Aufblühen der deutschen Industrie und des deutschen Handels, welche namentlich nach dem Jahre 1871 (nach dem siegreichen Kriege mit Frankreich) ungemein rasch aufzublühen begannen.
Bis zu diesem Kriege war die Industrie in Deutschland wenig entwickelt und sein Welthandel unbedeutend. Nach 1871 wuchsen Welthandel und Industrie, wurden die Kolonien in Afrika gewonnen, wie auch in China und in der Südsee. Deutschlands Handel drohte dem englischen mit starker Konkurrenz.
Englands Staatsmänner sahen schon gleich nach dem Kriege 1871 voraus, dass Deutschland der englischen Weltherrschaft (und namentlich dessen Handel) sehr bald und sehr stark gefährlich werden dürfte. Sie suchten noch Mitteln, diesem gefährlichen Anwachsen des Konkurrenten eine Grenze zu ziehen. Einen Krieg mit Deutschland zu beginnen, war gefährlich, denn Deutschland besaß damals einen starken Verbündeten, nämlich Russland. Der Kaiser Alexander II. war ein treuer Freund Deutschlands, durch vielfache verwandtschaftliche Beziehungen mit den deutschen Fürsten-Häusern verknüpft und der deutschen Kultur sehr zugeneigt. Es galt darum, dieses freundschaftliche Verhältnis zwischen Deutschland und Russland zu trüben, und die Sympathien der russischen Gesellschaft zu England zu lenken. Die englische Diplomatie fand bald die nötigen Mittel, um dieses Ziel zu erreichen. – Der Deutschenhass in Dänemark sollte ausgenützt werden, um Russland von Deutschland zu trennen und die Jahrhunderte dauernde Freundschaft dieser Länder in Hass zu verwandeln. Als Hebel zu diesem Vorgange sollte die dänische Prinzessin Dagmar dienen, welche, wie auch die ganze königliche Familie in Dänemark, Deutschland hasste und sich mit Revanche-Gedanken trug. Die Prinzessin Dagmar sollte russische Kaiserin werden und so ihren Hass gegen Deutschland und ihre Freundschaft zu England, mit dessen Herrscherhause sie verwandt war, nach Russland verpflanzen, wo die literarische Arbeit Samarins (Hetzarbeit mit unheilvollen Folgen – Die Schriftleitung) schon den Boden für die deutschfeindliche Bewegung vorbereitet hatte.
Dieser Plan Englands misslang zunächst, denn der russische Thronfolger, Großfürst Nikolai, der die Prinzessin Dagmar zur Gemahlin haben sollte, verstarb. Aber die englischen Diplomaten ließen sich dadurch nicht beirren. Es wurde beschlossen, die Prinzessin dem neuen Thronfolger Russlands, dem Großfürsten Alexander zu vermählen, welcher bald darauf als Kaiser Alexander III. den russischen Thron bestieg. Die Prinzessin Dagmar wurde die russische Kaiserin Maria Federowna.
Sie brachte nach Petersburg die Fackel des lodernden Deutschhasses und entzündete denselben in der Seele ihres bornierten Gemahls und in der Hofgesellschaft, von wo aus derselbe sich rasch in die Kreise der Regierung, des hohen Militärs, der Beamten und vielen Kreise der „unabhängigen“ Gesellschaft verbreitete. Einige Organe der Presse fanden es ebenfalls für angezeigt und rentabel, das russische Volk gegen Deutschland zu stimmen und gegen die deutschen Bürger Russlands. Nun beginnt auch die systematische Hetze gegen die deutschen Kolonisten, deren friedliche Arbeit bisher Anerkennung gefunden hatte. Den ersten Ausfall in dieser Richtung unternahm ein gewisser Welitzin, Beamter einer Petersburger Kanzlei. Er veröffentlichte in den letzten achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts in der moskauischen Monatsschrift „Russkii Westnik“ einen Artikel gegen die deutschen Kolonisten in Südrussland, die als Landwirte gar keine politische Rolle in Russland spielten und mit der Balten-Wirtschaft in Petersburg gar keine Verbindung hatten. Obwohl es allen gerecht denkenden Beobachtern klar war, dass diese deutschen Kolonisten als tüchtige Bauern, Fabrikanten, Viehzüchter und Kaufleute eine große nützliche Rolle im Süden Russlands spielen, brachte es H. Welitzin doch fertig, sie als staatsgefährliche Leute zu kennzeichnen, welche aus der Deutschen Reichsbank Gelder erhielten, um den ganzen Süden Russlands in deutsche Besitzungen zu verwandeln, in den Dorfschulen die Idee des Pangermanismus kultivierten, den Hass gegen Russland verbreiteten und die russischen Wirte verdrängten. Auch das empörte den H. Welitzin, dass die deutschen Kolonisten hier ihre Muttersprache und ihren Glauben beibehalten hatten und dadurch abgesondert vom russischen Volke blieben und sich nicht mit demselben verschmelzen wollten. Er faselte weiter, dass in den Gemeindesälen die Bildnisse Bismarcks und Moltkes an den Wänden hängen sollten, und nicht die Bilder der russischen Kaiser. Das war einfach Lüge, denn nicht das Bild eines Moltke, sondern das Bild des russischen Generals Immhoff, Präsident des von der russischen Regierung eingesetzten Fürsorge-Komitees zur Verwaltung der deutschen Kolonien, war in den Sälen der Gemeindeversammlungen und in den Schulen aufgestellt, was aber Welitzin als gleichbedeutend erschien. Eben so war auch nicht das Bild Bismarks, sondern das des Fürsten Potemkin bei den Kolonisten zu sehen, der sich den deutschen Kolonisten gegenüber bei deren Einwanderung nach Russland hilfreich und höchst freundschaftlich gezeigt hatte. Welitzin wollte ja nur der Petersburger Regierung nach dem Mund reden, und so seine persönliche Interessen in den Vordergrund stellen, nicht aber etwa Tatsachen konstatieren. Denn selbst, wenn die Bilder Bismarks und Moltkes bei den Kolonisten beliebt gewesen wären, wäre das immer noch deren Privatsache gewesen. Die falschen Beschuldigungen der deutschen Kolonisten durch Welitzin riefen eine eingehende sachliche Kritik seitens des Adelsmarschalls in den Kreisen Bachmut und Mariupol Kamensky, später Mitglied des Reichsrates, hervor. In einem Büchlein wies er alles fälschlich im Artikel Welitzins angeführte nach und trat energisch zum Schutze der deutschen Kolonisten in Russland auf. Die Moskauer Zensur wollte das Werk Kamenskys zurückhalten, die Veröffentlichung desselben verbieten; aber der Gouverneur des Gouvernements Jekaterinoslaw (wo sehr viele alteingesessene deutsche Kolonien leben) erklärte in einem offiziellen Schreiben, dass alles, was P. V. Kamensky in seinem Manuskripte sage, vollkommen der Wahrheit entspräche und veröffentlicht werden dürfte.
Dadurch wurde für eine gewisse Zeit die Pressehetze gegen die deutschen Kolonisten in Russland unterbrochen. Aber zu Beginn des Krieges mit Deutschland (1914) begann diese Hetze von neuem. In der Zeitung „Nowoje Wremja“ von Samarin begannen Artikel zu erscheinen, welche das russische Volk gegen dessen deutsche Mitbürger aufreizen musste. Ein bis dahin wenig bekannter Zeitungsschreiber Seretrennikow (=Rennikow) publizierte eine Reihe Hetzartikel, in welchen er ganz unbegründete, selbsterdachte Beschuldigungen gegen die deutschen Kolonisten vorbrachte, ihnen den Vorwurf machte, sie seien alle insgesamt russenfeindlich gestimmt, bereit, Russland an Deutschland zu verraten; sie schadeten den russischen Gutsbesitzern und Bauern, indem sie alles Land zu pachten und dadurch die Entwickelung und Vervollkommnung der russischen Bauernwirtschaft zurückhielten.
Gleichzeitig trat in Odessa (1915 und 1916) das Mitglied des Bezirksgerichtes Scheluchin in zwei Broschüren und öffentlichen Vorträgen (später auch in Kiew) gegen die südrussischen deutschen Kolonisten auf, vielfach dieselben beschuldigend und sie als Agenten der deutschen und österreichischen Regierungen denunzierend. Gestützt auf falsche Dokumente, die er in gewissenloser Weise veröffentlichte, versicherte Scheluchin, dass die Kolonisten bei Odessa von der Deutschen Reichsbank in Berlin mit Geldmitteln versehen werden zwecks schnellerer Kolonisierung und Germanisierung Schwarzmeergebietes. Er beschuldigte die deutschen Kolonisten in Russland dessen dass alle ihr Sympathien Deutschland gelten, dass sie den heißesten Wunsch hegten, Russland möge in begonnenen Kriege mit Deutschland unterliegen. Er wärmte die alten Beschuldigungen Welitzins auf, wonach die russische Bauernwirtschaft durch die deutschen Kolonisten bedrückt und ihr Fortschritt lahm gelegt werde, dass die deutschen Schulen den Riss zwischen den Russen und den Deutschen hier immer tiefer und breiter zu machen strebten und so eine Verschmelzung der beiden Völker hintertrieben. Ein in Odessa höchst angesehener deutscher Mann, L. G. Reichert, forderte den Verleumder Scheluchin auf, in einer öffentlichen Diskussion die Wahrheit seiner Beschuldigungen zu beweisen. Aber der Verleumder ging darauf nicht ein, denn er wusste es ja nur zu gut, dass seine sogenannte Dokumente gefälscht und seine anderen Beschuldigungen erfunden waren. Die von den Freunden und Beschützern der deutschen Kolonisten geforderte öffentliche Besprechung der vorgebrachten Verleumdungen kam nicht zustande, weil Scheluchin darauf nicht eingehen wollte. Aber der Verleumder erreichte sein Ziel, - er wurde später zum Justizminister in der Ukraine, zur Zeit des Hetmans Skoropadsky ernannt, verblieb aber auf diesem Posten nur kurze Zeit und ist gegenwärtig vergessen, bedeutungslos geworden.
Im Jahre 1917 erschien eine Broschüre eines Beamten Bondar über die Mennoniten. Es war eine Sammlung aller schon früher gegen die deutschen Kolonisten vorgebrachten Beschuldigungen: unpatriotische Gesinnung, Staatsverrat, Germanophobie, schädlichen Einfluss auf die Wirtschaft der Russen, Abgeschlossenheit usw. Im Jahre 1919 besaß dieser Bondar einen Posten im Ministerium beim General Denikin in Rostow am Don, wo der englische Einfluss stark arbeitete und englisches Gold überall seine Wirkung ausübte, wie in den Jahren 1912 und 1913 in Petersburg.
So arbeiteten die ganz unbekannten Beamten Welitzin, Serebrennikow, Scheluchin und Bondar im Interesse der Beamtenwelt gegen die deutschen Bürger Russlands und versuchten das russische Volk gegen diese ihre Mitbürger aufzuhetzen in einem Reiche, welches (namentlich im Süden Russlands) aus einer großen Zahl verschiedener Nationalitäten besteht und also eine taktvolle Behandlung dieser zahlreichen Völkerschaften verlangen musste, im Interesse des Staates, im Interesse einer friedlichen Gesamtarbeit derselben zum Nutzen des Reiches. Aber die Beamten, die eine so kurzsichtige Deutschenhetze provozierten, verfolgten ihre persönlichen Ziele und dachten wenig an das Gesamtwohl des Staates. Vielleicht arbeitete dabei auch das auswärtige Gold.
Der Funken des Deutschenhasses, den die Prinzessin Dagmar nach Petersburg gebracht hatte, erlosch dort nicht, sondern loderte zur hellen Flamme auf und erfasste, von der Höhe des Thrones ausgehend, immer weitere Kreise des Volkes, das schon lange mit neidischen Augen den immer größer werdenden Wohlstand der deutschen Ansiedler betrachtete. Zu Beginn des Krieges mit Deutschland offenbarte sich dieser Hass mit großer Gewalt. Noch vor seinem Beginn wurden in Petersburg und in den Provinzen zahlreiche deutsche Beamte aus dem Dienste entlassen und durch Russen ersetzt. Mehrere deutsche Mitglieder der Akademie der Wissenschaft und Professoren der Hochschulen mussten ihre Tätigkeit einstellen und russischen Lehrkräften ihren Platz abtreten. Die Universität in Dorpat wurde schon vom Kaiser Alexander III. russifiziert und selbst umbenannt (nach der russischen Stadt Jurjew). Damals setzte auch die Verfolgung vieler Pastoren im Baltenlande ein. Sie wurden vielfach gemaßregelt für sogenannte „Verbrechen in Sachen der Religion"[i] Viele wurden verschickt, andere ins Gefängnis geworfen oder ihres Amtes entsetzt.
Die großen Verluste zu Anfang des Krieges; das Misslingen im Kampfe mit Deutschland und die ununterbrochenen Niederlagen, welche das russische Heer erlitt; die Besetzung Polens, Kurlands und der westlichen Gouvernements Russlands steigerte den Hass der Russen gegen die Deutschen aufs höchste. Man beschuldigte die deutschen Mitbürger, Spionendienst und Verrat an Russland geübt zu haben. Auf Befehl des Höchstkommandierenden, des Großfürsten Nikolai Nikolaewitsch, wurden die deutschen Kolonisten aus dem Dorfe Hirschenhof bei Riga (85 Wirte mit ihren Familien) nach dem Osten Russlands verschickt, wobei es einigen von ihnen gelang, sich in Moskau niederzulassen. Auf Befehl desselben Großfürsten wurden alle deutschen Kolonisten aus Wolhynien ausgesiedelt, wie auch aus den Gouvernements Kiew und Podolien. Im ganzen wurden damals über 120.000 Deutsche aus diesem Gebiet in das innere und östliche Russland verschickt. Diese Aussiedelung wurde mit großer Grausamkeit ausgeführt; die Leute mussten in kurzer Frist ihre Heimat, ihr Haus und Land verlassen und durften nur Weniges von ihrem Eigentume mitnehmen. Zahlreiche Leute starben unterwegs, namentlich Kinder und Alte, welche sie Schwierigkeiten der Aussiedelung nicht vertragen konnten.
Am 2. Februar und 13. Dezember 1915 erließ der Kaiser Nikolai Befehle, welche den Namen „Liquidationsgesetze“ erhielten und von den Ministern N. Maklakow und A. Chostow ausgearbeitet waren. Diese Gesetze sollten den deutschen Kolonisten das ihnen gehörende Land wegnehmen und so die deutsche Landwirtschaft vernichten. Das ihnen weggenommene Land sollte den Soldaten der russischen Armee zugeteilt werden. Den Kolonisten wollte man für das enteignete Land besondere Scheine geben, deren Einlösung erst nach Ablauf von 25 Jahren vor sich gehen sollte, wobei nur dem enteigneten Wirt oder seinen direkten Nachkommen ein Anrecht auf Bezahlung dieser Scheine eingeräumt wurde. Auch durfte diese Scheine nicht in Banken versetzt oder einer anderen Person übergeben werden. Einige Hunderttausende deutscher Bürger Russlands wurden durch dieses Gesetz zu Bettlern gemacht und von ihrer heimatlichen Scholle vertrieben. Im Laufe des Jahres 1916 wurden diese „Liquidationsgesetze“ noch weiter verschärft. Eine besondere Kommission, welche den Namen „Komité zur Bekämpfung der deutschen Übermacht“ erhielt, wurde beauftragt, weitere Zusätze zu den Gesetzen auszuarbeiten.
Am 4. August (alten Styls) des Jahres 1914 (zu Anfang des Krieges) empfing Kaiser Nikolai II. in Moskau die Vertreter der Stadt, die höhere Beamten, den Adel und die Kaufmannschaft der alten Zarenstadt und hielt an diese Versammlung eine Ansprache , in welcher er unter anderem folgendes ansprach: “Wir sind gezwungen worden den Krieg mit dem Erbfeinde Russlands, d. h. mit Deutschland zu beginnen“. Diese Ansprache wurde sofort in Tausenden von Flugblättern publiziert und im ganzen Russland verbreitet. Das ganze russische Volk erfuhr aus dem Munde seines Kaisers die große Lüge, Deutschland sei der Erbfeind Russlands!
Es ist klar, dass das Volk sein Verhalten zu den deutschen Bürgern Russlands nach diesen aufreizenden Worten einrichtete. Als Kaiser Nikolai diesen schändlichen Gedanken aussprach, musste er wissen, dass er eine Lüge sagte, denn er wusste genau, dass bis zur Zeit des Kaisers Alexander III. alle seine Vorfahren, seit zwei Jahrhunderten, in engster Verwandtschaft mit den deutschen Fürstenhäusern standen und dass auch er selbst eine deutsche Prinzessin zur Gemahlin hatte. Während dieser zwei Jahrhunderte standen alle Zweige des russischen Lebens in engster freundschaftlicher Beziehung zu Deutschland: Die russische Wissenschaft und deren Vertreter, die russische Industrie und der Handel, die russische Kunst und Literatur waren eng mit der deutschen Geistigkeit verknüpft. Wir können alle als Töchter der deutschen Wissenschaft, der Industrie und des Handels ansehen. Wie konnte da der Zar von Erbfeindschaft zwischen Russland und Deutschland reden. Das gegenseitige Verhältnis der beiden Reiche kann man nicht anders als mit dem Worte Erbfreundschaft bezeichnen. Von der Höhe des kaiserlichen Thrones wurde aber die schändliche Lüge ins russische Volk geschleudert. Der Vorsitzende im Ministerrat A. F. Trepow wiederholte dieses kaiserliche Wort in der Regierungs-Deklaration, welche er am 19. November 1916 in der Versammlung der Reichs-Duma verlas, indem er sagte:
„Erst jetzt haben wir mit großer Klarheit erfahren, unter wie schwerem Einflusse und Drucke seitens Deutschland alle Seiten des russischen Lebens gestanden haben. Die russische Industrie, Schule, Wissenschaft und Kunst, alles lag in den Händen deutscher Einwanderer. Es ist jetzt die dringlichste Aufgabe Russlands, sich von dieser deutschen Vormundschaft zu befreien und den Weg der Selbständigkeit zu betreten.“
In der ganzen Versammlung der Reichsduma fand sich kein einziger Abgeordneter, welcher gegen diese Lüge auftrat. Die Duma war mit dieser Lüge einverstanden. Auch die Revolution brachte in dieser Beziehung keine Wandlung. Am ersten Tage nach der Februarrevolution (1917) hielt der ehemalige Führer der Kadeten-Partei, Abgeordneter P. N. Miljukow, eine Ansprache an das „erste revolutionäre Regiment“, welches in der Reichs-Duma erschien.
In der Ansprache sagte er u. a.:
„Es steht uns jetzt ein Kampf mit den inneren Deutschen bevor.“
Miljukow vertrat dabei ganz den Standpunkt Trepows, mit dem belastenden Unterschiede, dass er diesen Kampfesruf einer bewaffneten Masse ungebildeter Soldaten vortrug und dieselbe dadurch indirekt anfeuerte, den Deutschenhass tätlich zu offenbaren. Die Soldaten mussten sich dabei an den Deutschen-Pogrom in Moskau erinnern, welcher am 27. Mai 1915 entfesselt und vom General-Gouverneur Fürst Jusupow-Sumarokow-Elston organisiert wurde. Diese Aufwiegelung der Soldaten-Massen gegen „inneren“ (d. h. russländischen) Deutschen seitens Miljukow war ein Verbrechen gegen die Humanität, unverzeihlich einem liberalen Parteiführer, welcher sich brüstete, dem Fortschritte der Volksaufklärung und der Freiheit zu dienen. Die Geschichte der Kultur in Russland darf diesen Ausfall Miljukows nicht vergessen.
Der Deutschen-Pogrom, der in Moskau am 27. Mai 1915 stattfand, war eine Kundgebung der russischen Hofgesellschaft und Beamtentumes und war anbefohlen und organisiert vom Fürsten Jusupow, dem damaligen General-Gouverneur von Moskau, einem der reichsten Aristokraten und Verwandten der kaiserlichen Familie. Er nahm es sich vor, die kaiserlichen Worte über den Erbfeind tätlich zu demonstrieren. Am erwähnten Tage bewegte sich in den Hauptstraßen Moskaus ein wilder Pöbelhaufen, welcher von Leuten geführt wurde, die ein Verzeichnis deutscher Handelshäuser und einigen deutschen Privatwohnungen hatten, den Haufen lenkten und ihm anbefahlen, diese Häuser zu demolieren. Es wurden damals 759 deutsche Handelsgeschäfte und Wohnungen demoliert und ausgeraubt, was einen Verlust von 29 Millionen Goldrubel vorstellte. Dabei wurden 40 Deutsche verwundet und 3 gemordet, nämlich: Frau Fabrikbesitzerin Engels, Fabrikdirektor Karlsen und Ingenieur Enzen. Die Hauptstraßen entlang ziehend, kam der Pöbelhaufen an die Weinhandlung von Bauer und betrank sich hier ganz tüchtig. Hernach wollte er nicht mehr seinen Führern gehorchen. Der Mob begann seiner Zerstörungswut freien Lauf zu lassen. Es wurden nicht bloß deutsche Häuser, sondern auch andere, welche dem Mob durch ihren Reichtum verhasst waren, zerstört. Mehr als 300 russische, französische und englische Handelshäuser wurden bei dieser Gelegenheit demoliert. Das hatte die Administration allerdings nicht gewollt; es wurde sofort eine Versammlung der Stadt-Duma (Magistrat) einberufen, zu welcher auch der Fürst Jusupow-Sumarokow-Elston erschien. Dieser hohe Herr war so verblüfft und aufgeregt, dass er in der Verwirrung mehr sagte, als er sagen wollte. Folgender Satz ist bezeichnend: “Ich wollte nur ein kleines Fensterchen öffnen, und siehe was da geschehen ist.“ – Diese Worte wiesen mit großer Deutlichkeit auf den Urheber und Organisator dieses schändlichen Vorgehens. Der Versammlung wohnte auch der Kommandierende General des Moskauer Militär-Bezirkes bei, der dem Fürsten Jusupow sofort Vorwürfe machte und der Stadt-Duma versprach, sofort die Straßen Moskaus mit Militär-Patrouillen zu besetzen und eine Fortsetzung der Plünderungen zu verhindern. Am andern Tage wurden in den Schaufenstern vieler demolierter Handlungen große Plakate aufgestellt, welche sagten: „Demoliert aus Versehen“, was andeutete, dass die Zerstörung einen festgestellten Plan hatte, der aber vom Pöbel nicht fest eingehalten wurde. Diese Plakate verursachten der Polizei viel Ärgernis und wurden sofort strengstens verboten. Dasallerverabscheuenswerteste aber ist, das dieser schändliche Pogrom mit Wissen der Regierung und des Kaisers organisiert und durchgeführt war.
Schon im Januar 1915 bildete sich in Moskau eine Gesellschaft, die sich „Für Russland“ nannte, deren Vorsitzender ein Advokat W. Th. Lachkow war, welcher zur äußersten rechten Partei gehörte. Diese Gesellschaft gab eine Zeitung gleichen Namens heraus. In den Spalten dieser Zeitung wurden die Deutschen Russlands mit Verleumdungen überhäuft und die Gesellschaft und das Volk gegen die deutschen Mitbürger gehetzt. Kurz vor dem Pogrom und der Demolierung der deutschen Geschäfte und Wohnungen in Moskau, wurde in den Nummern dieser Zeitung ein Verzeichnis der deutschen Häuser aufgestellt, mit genauester Adressen-Angabe. Diese Aufstellung gab vielen Menschen Rätsel auf, denn man konnte sich gar nicht erklären, was denn die Veranlassung dazu war. Der 27. Mai gab Antwort auf diese Fragen. Es waren die deutschen Handelshäuser, Fabriken und Privatwohnungen, welche am 27. Mai demoliert werden sollten! Die Führer der Meuten, welche heulend und singend die Straßen in Moskau füllten und das Rauben ausführten, hatten diese Verzeichnisse in ihren Händen und handelten darnach. Die zum Scheine eingeteilte Untersuchung des Pogromes wurde bald niedergeschlagen.
Die Militär-Obrigkeit wollte hinter den Zivilstellen auch nicht zurückbleiben, und sie beschloss daher, auch in der entfesselten Deutschenhetze mitzumachen. Im Sommer 1915 wurden in Moskau, an meist besuchten Stellen, wie z. B. im Postamt, in den Bahnhöfen, an den Theaterkassen, Bekanntmachungen der kommandierenden Militärverwaltung ausgehängt, folgenden Inhalts: „Die Deutschen in Russland treiben Spionage im Interesse des deutschen Heeres und stehen in regem Verkehre mit letzterem und mit der deutschen Regierung. Darum wird des Publikum aufgefordert, die in Moskau wohnenden Deutschen scharf zu überwachen, deren verräterische Tätigkeit zu beobachten und im Falle ein verdächtiges Benehmen der Deutschen bemerkt werden sollte, sofort darüber zu berichten.“
Durch solche Aufrufe stellte die Behörde eine große Zahl russischer Bürger deutscher Nationalität unter Aufsicht nicht nur Polizei, sondern eines jeden Russen jeglicher gesellschaftlichen Stellung. Es war ein Ansporn zum gegenseitigen Misstrauen, welcher das Zusammenleben der beiden Nationalitäten außerordentlich trübte, zuweilen ganz unerträglich machte. Doch ungeachtet dieses Aufrufes erhielt das Bureau [Büro] keine Meldungen über entdeckte Spionage, Verrat oder Verdacht erregendes Treiben der deutschen Bürger in Moskau! Die Deutschen dort verhielten sich durchaus loyal und keiner von ihnen gab Anlass, ein gerichtliches oder administratives Vorgehen der Behörden gegen ihn hervorzurufen. Dass ein solches Aufhetzen der Mitbürger gegeneinander laut Strafrecht strengstens verboten war, hatte die Militär-Verwaltung ganz vergessen. Es Schien eher, dass sie sich ihrer Straflosigkeit bewusst war, da sie anscheinend auch im Auftrage höchster Stellen sich ein solches Vorgehen erlaubte.
Auch Militärs fühlten sich verpflichtet, „Volksaufklärung“ zu treiben.
Der General-Major Nik. Demet. Poliwanow publizierte im Jahre 1916 eine Broschüre: „Die Deutsche Übermacht“. In dieser kleinen Schmähschrift über die russländischen Deutschen sagt er u. a. folgendes: „Der heutige Deutsche, sei er östlich oder westlich von unserer Grenze, ist überall eine moralische Ausgeburt, ein Degenerat, eine physikalische Person ohne moralischen Inhalt, ohne Ehrenhaftigkeit, ohne edle Regungen, ohne Herz.“
Im weiteren beschuldigt General Poliwanow die Deutschen, dass sie die Ursache allen Unglückes seien, dass über Russland gekommen ist, wie Teuerung, revolutionäre Bewegung, Entstehung einiger Sekten („Stunden“). Ferner behauptet er, dass die Deutschen ihre Häuser und Fabriken derartig gebaut hätten, dass sie rasch in Festungen und Forts umgewandelt werden und als Basis für die Armee Deutschlands dienen können.
In der Broschüre „Die Wahrheit über die Deutschen“ gibt derselbe Verfasser folgende Ratschläge:
„Nicht nur alle Reichsdeutschen, sondern auch alle russländischen Deutschen, deren Vorfahren aus Deutschland eingewandert sind, müssen sofort, ohne Zeitverlust und Schwanken, aus Russland ausgesiedelt, d. h. vertrieben werden. Es wird das vom Standpunkt der Staatserhaltung verlangt und muss geschehen im Interesse unseres Vaterlandes und unserer heroischen Krieger, welche furchtlos ihr Leben opfern für Glauben, Kaiser und Vaterland…“ „Das große russische Volk versteht diese Schätze zu beschützen; es braucht keine deutschen Meister und Vormunde. Diese müssen alle vertrieben werden, ohne jede Rücksicht auf Alter, Geschlecht, eingebildete Nützlichkeit oder langjähriges Leben in Russland.“
Diese beiden Broschüren des Generals Poliwanow gefielen dem höchstkommandierenden Großfürsten Nikolai Nikolaewitsch, und laut Befehl seines Stabes wurden sie in großer Zahl (8 Auflagen!) an die Front geschickt und unter den Soldaten verteilt. (Ich erhielt beide Broschüren von einem deutschen Kolonisten, welcher dieselben von seinem russischen Kameraden bekam, mit welchem er zusammen in den Laufgräben an der Front sein Leben zum Schutze Russlands hinzugeben bereit war!)
Und was hier ganz besonders erwähnt werden muss, das ist die folgende Anmerkung, welche auf dem Titelblatte der Broschüre klar und deutlich abgedruckt ist: „Das gelehrte Komité des Ministeriums der Volksaufklärung erlaubt, diese Broschüre den Schüler-Bibliotheken der höheren Volksschulen und der Dorfschulen einzureihen, und betrachtet sie als sehr nützlich in den Volkslesehallen und Bibliotheken“.
So hetzte die Regierung das Volk gegen dessen deutsche Mitbürger, und selbst das Ministerium der Volksaufklärung machte mit und schämte sich nicht, in dieser Hetzarbeit aktiv aufzutreten.
250 000 deutsche Männer verteidigten an der Front die Ehre und Unabhängigkeit Russlands, und hinterrücks wurden diese Leute von der Regierung Russlands verleumdet, angeklagt, und den russischen Kameraden, mit denen sie Schulter an Schulter für das Wohl des gemeinsamen Vaterlandes ihr Leben hingaben, verdächtig gemacht! Eine Schändlichkeit, die unverzeihlich ist und dabei so augenscheinlich und unglaublich war, dass die von ihr inspirierten Verleumdungen ganz wirkungslos blieben und das gute Vertrauen zwischen Russen und Deutschen im Heer gar nicht trüben konnten.
Diese Verleumder hatten bald auch aus anderen Berufen Nachfolger, so z. B. erhob auch der Reichs-Duma-Abgeordnete, Professor der Medizin und Rektor der Universität in Odessa, Lewaschow, seine Stimme, um die Deutschen, besonders die Kolonisten in Südrußland zu verleumden. Am 1. November des Jahres 1916 hielt er in der Reichs-Duma eine Rede, die ohne jeden Widerspruch angehört wurde, in der er folgende Beschuldigungen gegen die Deutschen vorbrachte:
„Obwohl die Deutschen Russlands als russische Untertanen angesehen werden, sind sie dennoch gleichzeitig Untertanen des Deutschen Reiches. Die Deutschen in Russland machen unseren Feinden Mitteilung über unsere Kriegsmacht und über unsere kriegerischen Rüstungen und Pläne; sie zerstören die Brücken und Landstraßen, sprengen unsere Vorräte von Sprengstoffen samt deren Lagerräumen, organisieren Volksaufstände, überfallen verräterisch, im Rücken des Heeres, die einzelnen Krieger und die Verwundeten.“
Keine einzige Tatsache konnte er in dieser Rede zur Bekräftigung seiner Beschuldigung vorführen; - er kannte solche nicht. Aber das hinderte ihn nicht, eine große Gruppe russischer Untertanen so niederträchtig zu verleumden, und der Präsident der Reichs-Duma hielt es nicht für seine Pflicht, den Redner zu unterbrechen, um ihn das unerlaubte Vorgehen gegen diese Mitbürger vorzuhalten. Nicht bloß Professor Lewaschow konnte keine einzige Tatsache zur Bekräftigung seiner Verleumdungen vorführen, sondern auch kein Regierungsorgan vermochte während der ganzen Kriegszeit eine einzige Tatsache solcher Art aufzudecken und zu publizieren. Dass ein Professor, also ein Vermittler wissenschaftlicher Forschung, solche Lügen verbreiten durfte, ohne dass ihm die Duma widersprochen hätte, beweist nur, wie tief die damalige russische Gesellschaft moralisch gesunken war. Die Duma musste wissen, dass die den deutschen Soldaten nächststehenden Offiziere dieselben gut beobachteten, gut kannten und eine sehr gute Meinung von ihnen hatten. Sehr viele deutsche Soldaten in der russischen Armee wurden zu Unteroffizieren und Feldwebeln befördert, sehr viele deutsche Soldaten wurden mit Medaillen und Orden belohnt; ich kenne mehrere deutsche Soldaten, welche 3 und 4 Georgs-Orden zur Belohnung ihrer Leistungen im Kriege erhalten haben. Es Wurden vielen deutschen Soldaten im russischen Heere verantwortungsvolle Aufträge gegeben, selbst in nächster Nähe des Kaisers. Ich kenne solche, welche als Matrosen auf der kaiserlichen Yacht „Standart“ und „Polar Stern“ viele Jahre lang gedient hatten. Ein “Verräter“ würde ja dort sehr bald erkannt worden sein.
Im Jahre 1918 wurde Professor Lewaschow von den Aufständischen in Odessa erschossen, und so erreichte ihn die rächende Hand des Schicksals!
Der vom Kaiser Nikolai am 4. August 1914 in Moskau gutgeheißene Deutschenhass durch sein Wort über „unseren deutschen Erbfeind“, rief zahlreiche Kundgebungen hervor, die sich als Auswirkung dieses Zarenwortes erwiesen.
Früher wagten es weder die Gouverneure in den Provinzen noch verschiedene Vereine und Institutionen, ihrem Deutschenhasse öffentlich Ausdruck zu geben. Aber jetzt wusste man, wie der Kaiser über die Deutschen dachte, nun galt es plötzlich als förderlich für die Karriere und für patriotisch, wenn man seiner Deutschfeindlichkeit recht offen Ausdruck gab. So beeilte sich der Gouverneur in Tomsk (Sibirien) im Jahre 1916, dem Ministerium des Innern einen Bericht über die deutschen Kolonisten im Gouvernement einzureichen, worin er sagt:
„Wie überall, so auch hier, leben die Deutschen in großem Wohlstande; stehen aber in keinem Verkehr mit der russischen Bevölkerung.“ Daraus sollte der Schluss gezogen werden, dass dort die Deutschen sich feindlich gegen die Russen stellen und gar nichts mit ihnen zu tun haben wollen. Die Semstwo-Versammlung des Kreises Nowgorod verlangte, dass die Liquidationsgesetze vom 2. Februar 1915 auch im Kreise Nowgorod angewandt werden sollen. Der Gouverneur von Nowgorod befürwortet dieses in seiner Eingabe an das Ministerium und sagt dabei folgendes:
„Obwohl nichts Auffallendes im Betragen der Kolonisten bemerkt wird, und sie versuchen, noch korrekter zu sein als früher, finde ich es doch für angezeigt, den Beschluss der Semstwo zu befürworten.“ Also, mit anderen Worten. Obwohl man gegen die deutschen Kolonisten gar keine Beschuldigungen vorbringen kann, ist es doch erwünscht, ihnen ihr Land wegzunehmen und sie zu vertreiben. So was hätte früher, als die kaiserlichen Worte über den Erbfeind noch nicht gesprochen waren, niemand gewagt.
Die Stadt-Dumen in Jaroslaw und in Rostow (desselben Gouvernements) fassten den Beschluss, es sollen das Land und die Häuser aller Deutschen in Russland konfisziert, ihnen die Freizügigkeit im Reiche verboten und das Recht genommen werden, in den Dienst des Staates zu treten. Dabei hatten die Herren Stadtväter ganz vergessen, dass unsere Deutschen ganz ebensolche russische Bürger waren, wie sie selbst und als russische Untertanen und in Russland geborene Leute, in fleißiger Arbeit dem russischen Vaterlande meist noch viel besser gedient hatten und viel nützlicher gewesen waren, als die Stadtväter in Jaroslaw und besonders Rostow selbst. – Solche Rechtsbeschränkungen, wie sie diese lieben und klugen Leute den deutschen Untertanen Russlands zugedacht hatten, kannten nur als Strafe für große Verbrechen verhängt werden, die aber die deutschen Bürger nicht begangen hatten. Zur Zahl der schändlichen, menschenfeindlichen Dokumente, welche erdacht und verfasst wurden von Karrieristen, Beamten, welche ihre persönlichen Vorteile ziehen wollen aus den anwachsenden Instinkten des Nationalhasses zwischen Mitbürgern, gehören noch folgende:
Die Semstwo in Alexandrowsk (im Gouvernement Jekaterinoslaw) beschloss im Jahre 1916, die Anwendung der Liquidationsgesetze von 2. Februar und 13. Dezember unverzüglich im ganzen Gebiete zu verlangen, um der Verbreitung der deutschen Landwirtschaft in Russland ein Ende zu machen. Die Semstwo betrachtet diese Verbreitung als eine „friedliche Eroberung“ des russischen Südens durch die Deutschen, was natürlich eine außerordentliche Gefahr für Russland sei.
Der große Wohlstand der deutschen (besonders mennonitischen) Kolonien im Gouvernement Jekaterinoslaw stachelte den Neid der russischen Beamten und Bauern auf, und dieser Neid war die Ursache solcher Beschlüsse, die einen groben Verstoß gegen Rechtsgefühl, Gewissen und Staatsnotwendigkeit vorstellen. – Einen ähnlichen Beschluss fassten Kongresse der rechtsstehenden politischen Parteien, welche im Jahre 1915 stattfanden. Im Dezember 1915 tagte in Nischni-Nowgorod ein solcher Kongress, welcher unter anderem folgendes beschloss.
„Unverzüglich müssen alle Ländereien, welche in deutschen Händen befinden, enteignet werden, sowohl Eigentum als Pachtländer der Deutschen, ungeachtet ihrer russischen Untertanenschaft. Dabei wurde noch die Forderung aufgestellt, der Protestantismus solle als Heidentum angesehen werden. Aus diesem (namentlich letzterem Beschlusse) kann man ersehen, wie hoch die Bildung und geistige Entwicklung der Kongress-Mitglieder stand.
In Petersburg tagte im November 1915 ebenfalls ein Kongress der Vertreter rechtsstehender reaktionärer politischen Parteien, unter dem Vorsitz vom Schtscheglowitow, ehemaligen Minister-Präsidenten und Justiz-Minister und Präsidenten des Reichs-Rates. Dieser Kongress verlangte ebenfalls, dass das Liquidationsgesetz vom 2. Februar überall in Russland sofort angewendet werde, dass überall das Land der Deutschen und Mennoniten sofort enteignet werde und „das alle russischen Untertanen, welche deutsche Familiennamen haben, unter Aufsicht der Polizei gestellt sein mögen“.
Die lieben Reaktionäre berechneten damals nicht, welche Masse von Polizeiagenten notwendig gewesen wäre, um diese Aufgabe zu bewältigen, - sie vergaßen die höchsten Herrschaften beim kaiserlichen Throne, welche deutsche Namen führten, und die nicht weniger kaisertreu und reaktionär waren als die Kongress-Mitglieder, welche diesen klugen Beschluss gefasst hatten! Einige Millionen russischer Bürger sollten unter polizeiliche Aufsicht gestellt werden! Der arme russische Staat hätte ja gar nicht die Möglichkeit gehabt, diese Sisyphus-Arbeit zu bewältigen, geschweige denn zu bezahlen! Und solche klugen Beschlüsse wurden in Petersburg gefasst von einem Kongress, der von einem ehemaligen Justizminister und damaligen Präsidenten der höchsten gesetzgebenden Kammer des Reiches geleitet wurde!
Am 15. Januar 1916 wurde im Minister-Konzil ein gleichlautendes Gesuch der Gouvernements-Semstwo Kursk, Smolensk, Pskow u. a. besprochen, welches verlangte, das Liquidationsgesetz vom 2. Februar und 13. Dezember 1915 möge auf ganz Russland angewendet werden, so dass überall das den Deutschen gehörende Land enteignet werden solle. Dabei muss erwähnt werden, dass in diesen Gouvernements gar keine deutschen Kolonien bestehen und einige wenige Gutsbesitzer deutscher Abstammung dort lebten, so dass diese Gesuche augenscheinlich nur den Zweck hatten, der deutschfeindlichen Regierung beizustimmen, ihr angenehm zu sein und des Ministers A. N. Chwostow, des Autors des Gesetzes vom 13. Dezember 1915, Wohlwollen zu erhalten. Die Kommission „zur Bekämpfung der deutschen Übermacht“ [ii]), welche im Jahre 1916 vom Kaiser eingesetzt war (ohne Genehmigung der Reichs-Duma), arbeitete unter dem Vorsitze von Jljaschenko, der damals Gehilfe der Justizministers war. Ein Streber reinsten Wassers! Diese Kommission untersuchte die Gesuche der Semstwos und fand sie nicht zeitgemäß, „weil die finanziellen Verhältnisse des Reiches eine gleichzeitige Zuweisung der deutschen Ländereien an die Bauern-Bank gegenwärtig nicht ausführen lassen. Die gleichzeitig ausgeführte Liquidation des ganzen deutschen Landbesitzes im Reiche würde eine tiefgehende Erschütterung aller ökonomischen Verhältnisse hervorrufen“. Die Herren „Bekämpfer der deutschen Übermacht“ fanden also eine Enteignung des ganzen Landbesitzes deutscher Bürger in Russland selbst nicht ausführbar; nicht aber, weil das ein himmelschreiender Verstoß gegen alles Recht und ein Umstoßen aller kaiserlichen Versprechungen gewesen wäre, sondern bloß deshalb, weil die „finanziellen und ökonomischen“ Verhältnisse im reiche damals eine solche allgemeine Durchführung der geplanten und gewünschten Beraubung nicht zuließen! Recht und Gesetz wurden vergessen und zurückgesetzt. So handelten der Justiz-Minister und sein Gehilfe!
Auch die Geistlichkeit wollte nicht untätig zusehen, wie das hohe Militär, Beamte und die Semstwo energisch gegen die Russland-Deutschen vorzugehen begannen. Auch sie hat sich „Lorbeeren“ auf diesem Gebiete verdient.[iii]
Im Jahre 1917 tagte in Moskau eine Allrussische geistliche (orthodoxe) Synode, welche ein hirtenschreiben an die Armee und Flotte ergehen ließ. Dieses Schreiben erwähnt den Kleinmut und die entstandene Anarchie im Heere und in der Marine und stellt folgende Behauptung auf: „Die deutschen Spione und Göldlinge (?) haben den Geist der Soldaten vergiftet und ihnen ihr Herz herausgerissen“. Damit waren die Deutschen Russlands als die Hauptschuldigen am Zusammenbruch der russischen Armee bezeichnet. Eine schamlosere und dummdreistere Lüge konnte allerdings nicht mehr erfunden werden. Die russische Geistlichkeit hatte damit jeden Rekord geschlagen.
Doch alle diese unmenschlichen, jedem Gesetz und Recht hohnsprechenden Verordnungen und Beschlüsse waren einigen Scharfmachern noch immer zu gering. Der Kommandierende des kaukasischen Militär-Bezirkes, General Wolsky, erließ am 18. Juni 1916 einen Befehl, laut welchem die deutschen Kolonisten und Gutsbesitzer, die ihres Landbesitzes enteignet waren, auf keinen Fall in ihren Häusern verbleiben dürften und in anderen Ansiedlungen des Militär-Bezirkes sich niederzulassen hätten. Dieser Befehl ging also noch viel weiter als das Liquidationsgesetz und zielte auf die völlige Vernichtung der vertriebenen Kolonisten und Gutsbesitzer ab. Glücklicherweise wurde dieser grausame Befehl von der zentralen Regierung zurückgezogen ehe er noch ins Leben treten konnte. Es wurde der Bauern-Bank erlaubt, die früheren Besitzer der ihr zugefallenen Güter als Pächter der letzteren zu belassen, aber nur auf die Dauer eines Jahres.
Der Gouverneur in Jekaterinoslaw, Koloboff, erließ am 28. Februar 1915 eine Verordnung, laut welcher jegliche Versammlung erwachsener deutscher Männer mit mehr als zwei Teilnehmern, selbst wenn es russische Untertanen wären, strengstens verboten wurden. Solche Versammlungen durften nicht zugelassen werden, sowohl außer den Häusern, „wie auch in den eigenen Wohnungen“. Die Nichtbefolgung dieses Befehls sollte mit dreimonatlichem Gefängnis oder mit einer Strafzahlung von 3000 Rubel bestraft werden. Es ist wohl selten eine so gemeine und gleichzeitig dumme Verordnung erlassen worden, denn in den meisten deutschen Kolonisten-Familien findet man 3-5 Männer, die zur Familie gehören und darum natürlich immer zusammen wohnen und folglich gegen diese Verordnung handelten.
Kampf gegen die deutsche Sprache.
Von unglaublicher Härte waren die Erlasse gegen den Gebrauch der deutschen Sprache. Nicht nur der Unterricht in der Muttersprache wurde den Kolonisten verboten, sondern auch ihre deutschen Zeitungen durften nicht mehr erscheinen. Das deutsche Wort wurde – in Gegenden, wo nur diese Sprache im Gebrauch war – zum Verbrechen gestempelt. Der General-Gouverneur in Odessa, General Ebeloff, verbot im November 1914 in den lutherischen Kirchen Südrußlands und den Bethäusern das Predigen in deutscher Sprache und jegliche Zusammenrottung deutscher Leute in den Straßen. Der Kreischef im Melitopoler Kreise (wo zahlreiche deutsche Kolonien sind) befahl den deutschen Kolonien anzeigen, dass durch diesen Erlass der Besuch des Gottesdienstes nicht verboten sei, wie auch die gesetzlich angeordneten Gemeinde-Versammlungen und die Sitzungen des Dorf-Gerichtes. Aber alle anderen Versammlungen (wie z. B. die der Geistlichen und der Kirchenräte u. a., wie auch die religiöse Versammlungen außerhalb der Kirchen) durfen nicht stattfinden. Das Verbot von Ansammlungen in den Straßen war den deutschen Kolonisten besonders schwer, denn es hinderte sie, an den Begräbnissen ihrer Verwandten und Freunde teilnehmen zu können. Jedermann, dem das gesellschaftliche Leben in den deutschen Kolonien Südrußlands bekannt ist, weiß, wie bei den Familienereignissen, wie Begräbnisse, Hochzeit u. a., dort das ganze Dorf sich versammelt und auch viele Freunde aus anderen Kolonien eintreffen. Jetzt sollte dieser schöne Brauch, welcher immer so deutlich Zeugnis ablegte von dem engen Freundschaftsband, welches die Deutschen hier zusammenschließt, plötzlich verboten werden, und zwar aus Gründer, die dem deutschen Gewissen und Verstehen ganz unbegreiflich waren!
Das Verbot, die Predigten in den Kirchen in deutscher Sprache zu halten, veranlasste einige (wenige) Pastoren, dieselben in russischer Sprache vorzutragen. So z. B. in der Kolonie Zürichtal (Krim) predigte der Pastor Cholodetzky (1914-1915) in russischer Sprache, was großen Erfolg hatte, denn zu seinen Gottesdiensten und predigten versammelten sich zahlreich nicht bloß die lutherischen Gemeindeglieder, sondern sehr viele Russen (Männer und Frauen) aus den Nachbardörfern. Selbst russische Beamten freuten sich darüber, dass sie die Möglichkeit bekamen einer schönen Predigt beizuwohnen, in welcher sie Erbauung und Trost fanden.
In den meisten deutschen Kolonien wurde das angeführte Verbot streng durchgeführt; Begräbnisse wurden Russen anvertraut; die Lesepredigten, die sonntäglich vom Lehrer in der Schule abgehalten werden, fielen meistens aus, da es keine Predigtbücher in russischer Sprache gab. Das gesellschaftliche Leben erstarb; Todesstille zog in den deutschen Dörfern ein.
Die Moskauer Gesellschaft „Für Russland“, welche schon oben von mir genannt wurde, verlangte das „Verbot öffentlicher Predigten der Pastoren“. Es scheint, als ob diese Gesellschaft nur die lutherischen Predigten für staatsgefährlich betrachtete und gar keine Kenntnis davon hatte, dass es in Russland auch solche deutschen Kolonien gibt, welche nicht lutherisch sind (Katholiken, Mennoniten, Baptisten, Separatisten); oder sollte man aus dem Wortlaute der vorgebrachten Forderungen schließen, das die Gesellschaft „Für Russland“ nicht das Deutschtum überhaupt als gefährlich für den russischen Staat ansah, sondern nur die lutherische Konfession als solche betrachtete? In Rostow am Don ging der Statthalter General Komissarow so weit, dass er zu jedem Gottesdienste in der dortigen lutherischen Kirche einen Polizeibeamten absandte, welcher zu beachten hatte, ob der Pastor die Verordnungen über das Predigen auch einhielt! Schwer trafen oft die Bestimmungen des Sprachen-Verbots auch einzelne Personen. Die deutsche Sprache wurde nicht nur auf den Straßen und in öffentlichen Versammlungen verfolgt, sondern nicht selten bis in die Privathäuser hinein. In ungezählten Fällen wurden schwerste Strafen – selbst Verbannung nach Sibirien, Arrest und Gefängnis – für den Gebrauch eines deutschen Wortes verhängt. Hier zwei Beispiele:
Der Eigentümer des berühmten Gutes „Ascania Nowa“ in Taurischen Gouvernement, Fr. W. Falz-Fein, erlebte noch im August 1917 folgendes: Auf einem Moskauer Bahnhof begann er ein Gespräch in deutscher Sprache mit einem deutschen Gefangenen, welcher kein Russisch verstand. Ein Abgeordneter der Reichs-Duma verlangte, dass H. Falz-Fein von der Gendarmerie verhaftet solle. Es wurde ein Protokoll aufgesetzt und dem „Verbrecher“ ein gerichtliches Verfahren angedroht. Frau Pastor Schleuning wurde dafür, dass sie in einem geschlossenen Raum bei offenem Fenster mit ihren Kindern im Alter von einem und zwei Jahren deutsch gesprochen hatte, von einem berittenen Gendarmen mit den beiden unmündigen Kindern auf die Polizeiwache getrieben und zu zwei Wochen Arrest bzw. 100 Rubel Geldstrafe verurteilt.
Deutschenhass der demokratischen (Kadetten) Partei.
Nicht nur die äußerste Rechte predige den Deutschenhass, sondern vor allen anderen auch die Demokraten (Kadetten). Im August 1917 tagte in Moskau (im großen Theater) ein Kongress zahlreicher Abgeordneter aller vier Reichs-Dumen und des Reichsrates, zwecks Besprechung der damaligen politischen Lage Russlands. Am 10. August 1917 versammelten sich die anwesenden Kadetten und ihre Anhänger zu einer besonderen Sitzung (im Universitäts-Gebäude), um ihre Taktik auf diesem Kongresse zu besprechen. Es wurde hier das Projekt einer Revolution ausgearbeitet, welches dem Kongresse zur Begutachtung vorgelegt wurde, und u. a. folgenden Satz enthielt: „Die sozialistischen Parteien verwirklichen, Schritt um Schritt, die Pläne des Feindes“ (also Deutschlands) „und verdichten die giftige Atmosphäre des Verrates, welcher die Zaren-Herrschaft zum Opfer fiel. In ihr wachten und blühen die Zerstörungsinstinkte und die kontre-revolutionäre Verschwörungen.“
In diesem nebelhaft unklaren Satze klingt derselbe Gedanke durch, den Miljukow am 28. Februar 1917 aussprach, als er die Massen zum Kampfe mit dem „inneren Deutschen“ aufrief.
Die von Miljukow erhobenen Beschuldigungen gegen die deutschen Mitbürger wurden auch in den folgenden Jahren vorgebracht, zur Zeit, als im Süden Russlands der Diktator General Denikin herrschte, dessen Regierung aus Mitgliedern der Kadetten-Partei zusammengesetzt war und die vollständig unter der Herrschaft des englischen Soldes stand.
Da die kadettische Presse von England Geldzuschüsse bekam, musste sie auch immer wieder gegen die Deutschen hetzen. Von vielen nur ein Beispiel:
Im November 1919 erschien in Rostow a. Don eine Zeitung unter dem Titel „Prisyw“ (d. h. „Aufruf“). Unter dem Titel stand in Fettdruck der Satz: „Hinter jedem Verräter in Rücken der Armee steht ein Deutscher“. Diese Kadetten-Zeitung wurde auf den Straßen in Rostow und Taganrog an die Mauern angeklebt und gratis an die Passanten verteilt. (Es wurde erzählt, dass diese Kadetten-Zeitung vom englischen Kapital unterstützt wurde.) Das alles tat die „liberale“ Kadettenpartei noch zu einer Zeit, wo in Russland die Stimmung der Bevölkerung schon zu Deutschlands Gunsten umgeschlagen war.
Verfolgung der deutschen Geistlichen.
Über die Verfolgung der Pastoren in Russland können Bücher geschrieben werden – hier nur ein paar Beispiele:
Im Juli 1915 erschien in der Zeitung „Wetschernee Wremja“ eine Korrespondenz aus Peterhof, welche mitteilte, der Pastor daselbst von Bodungen, ein „Germanophil“. Solle befohlen haben, das Bild des Kaisers aus dem Schulsaale zu entfernen. Das war eine Lüge. Aber sie hatte doch zur Folge, dass der Pastor sofort nach Sibirien verschickt wurde. 16 Jahre hindurch hatte er in Peterhof gewirkt. Er genoss die Achtung seiner Kirchengemeinde und wurde auch in der dortigen russischen Gesellschaft verehrt wegen seiner Tätigkeit in verschiedenen russischen Wohltätigkeitsanstalten. Aber das alles hatte die Regierung nicht zurückgehalten, den allgemeinen verehrten Pastor, ohne ihn im Gerichte verhört zu haben, nach Sibirien zu verschicken. Zwei Jahre hindurch musste Pastor Bodungen sein Leben in Sibirien durch Stundengeben täglich fristen. Erst nach der Februar-Revolution (1917) wurde ihm erlaubt, nach Jaroslaw und später nach Moskau zu kommen. Erst im Jahre 1919 durfte er an den Ort seiner langjährigen Tätigkeit zurückkehren.
Dieser Fall ist höchst charakteristisch für die damalige Zeit. Eine anonyme Zeitungs-Korrespondenz wurde von der Regierung als genügend betrachtet, um einen ehrwürdigen und beliebten deutschen Pastor maßregeln zu dürfen und ihn, ohne Verhör und Gericht, strenge zu bestrafen. Seine Schuld war ja klar – denn er war ein Deutscher!
Schon bald nach Kriegsausbruch, im Jahre 1914, wurde in Tiflis der Pastor Schleuning auf Grund der Hetzartikel der nationalistischen Presse – ohne Verhör und Gerichtsurteil – ausgewiesen und nach Tobolsk verschickt. Die Schuld des Pastors bestand darin, dass er Herausgeber der dortigen deutschen Zeitung (Kaukasische Post) und gleichzeitig Vorsitzender verschiedener deutschen Anstalten in Tiflis war und in der dortigen deutschen Gesellschaft den größten Einfluss hatte. Diese Gesellschaft beschloss, dem verschickten Pastor als Zeichen ihrer Dankbarkeit seinen vollen Gehalt weiter zu bezahlen. Aber der Minister Chwostow ließ das nicht zu. Der Gemeinde wurde in einem ministeriellen Erlass jede Unterstützung an Pastor Schleuning verboten. Der Pastor wurde gegen das geltende Gesetz, mit Umgehung seiner Kirchenbehörde, auf Grund eines „Allerhöchsten Befehls“, den Chwostow erwirkte, seiner Ämter enthoben. Von der Regierung wurde ihm eine Summe von 7 Rubel 50 Kopeken monatlich zugewiesen, was ihm und seiner Familie zum Lebensunterhalt genügen sollte. Dabei wurde ihm verboten, an seinem Verbannungsorte Stunden zu geben und sein Einkommen zu vergrößern. Es war eine indirekte Verurteilung zum Hungertod – eine Äußerung der Menschenfeindlichkeit ohne gleichen. Es fanden sich aber doch auch im entfernten Tobolsk Menschen, welche den verbannten Pastor freundlich aufnahmen, von verschiedenen Seiten kamen ihm, oft auf unbekannten Wegen, Mittel zu die ihn und die Seinen vor dem Verhungern bewahren. Erst im Mai 1917 konnte er nach Moskau und später nach Saratow kommen.
Im März 1915 wurde der Propst Rahl aus Weißenstein (Livland) nach Moskau ausgewiesen. Seine Schuld bestand darin, dass er unterlassen haben sollte, einen Gottesdienst abzuhalten, an einem Kaiserfesttage. Pastor Rahl erzählte nun in Moskau, dass die Sache sich anders verhielte, nämlich, dass damals nur darum kein Gottesdienst stattfand, weil kein einziger Mensch zur Kirche gekommen wäre. Vor ganz leeren Bänken Gottesdienst zu halten, schien ihm unpassend. Aber die Regierungsbeamten waren anderer Ansicht und betrachteten den Propst als Schuldigen. Unter ähnlichen Beschuldigungen sind Dutzende von Pastoren aus den baltischen Provinzen ins innere Sibirien verschickt worden. Der Raum verbietet es uns, weitere Beispiele zu bringen.
Besonders traurig aber ist es, dass die Verfolgungen ganz schuldloser Pastoren nicht nur von der zarischen Regierung vorgenommen wurden, sondern auch nach dem Umsturz des Jahres 1917, zur Zeit der „liberalen“ Kadettenherrschaft im Süden Russlands fortgesetzt wurden und sogar dort im Jahre 1919 noch stattfanden.
So wurde im Sommer 1919 der greise Propst v. Törne in Rostow am Don verhaftet und ins Gefängnis geworfen, wo er wochenlang schmachten musste (zuerst in Rostow, später in Taganrog). Der Staatsanwalt, der die Sache zu untersuchen hatte, erklärte, dass er keine Tatsachen finden könne, welche ein gerichtliches Vergehen gegen den Propst v. Törne begründen dürften und verlangte darum, dass der Propst aus dem Gefängnisse befreit werde. Aber ein englischer Offizier, welcher Mitglied der Untersuchungskommission war, verlangte und bestand darauf, dass Propst v. Törne in Haft verbleibe, weil er einen staatsgefährlichen Einfluss auf die Gesellschaft in Rostow am Don ausüben könnte. Die kadettische Regierung gehorchte dem englischen Offizier, welcher seinerseits in seinem Vaterlande (England) es gewiss nicht gewagt hätte, solcherart gegen Recht und Gesetz aufzutreten! Er hatte anscheinend Russland mit Indien oder Irland verwechselt! Einen Monat lang wurde der Propst v. Törne in Haft gehalten, obwohl der Staatsanwalt seine Befreiung verlangte. Schließlich wurde er doch befreit, aber sein Pass wurde ihm abgenommen, und er musste lange warten, bis es ihm gelang, denselben zurückzuerhalten. Im Herbst 1919 besuchte ich ihn in Rostow und erfuhr seine ganze Lebensgeschichte.
Ähnlich wurden von der kaiserlichen Regierung auch die mennonitischen Prediger verfolgt. Einige von diesen wurden im Jahre 1915 in den Kolonien an der Molotschna (im Kreise Berdjansk) verhaften. Einem mir befreundeten Prediger in Halbstadt, H. D. Braun, glückte es, nach Moskau zu kommen, wo er mit Empfehlungsschreiben nach Petersburg an einige Herren in der Regierung versorgt wurde. Vom edlem Fürsten Wlad. Mich. Wolkonsky, damaliger Gehilfe des Innenministers und vormaligen Vizepräsidenten der Reichsduma freundlich empfangen und angehört, riet er meinem Freunde Heinr. Braun, in Petersburg zu verbleiben, wo er ihn beschützen könnte, bis die Sachen einen ruhigeren Verlauf nehmen würden. Gleichzeitig verlangte der Fürst vom General-Gouverneur in Odessa, General Ebeloff, genaue Auskunft darüber, was denn eigentlich der Prediger H. Braun verbrochen habe. Die Antwort blieb bezeichnenderweise aus, denn es lagen keine Verbrechen vor. Der Prediger H. Braun lebte sodann ungestört bis 1917 in Petersburg und kehrte dann in seine Heimat Halbstadt zurück.
Auch eine Reihe katholischer Geistlicher, die aus Kolonistenkreisen stammen, musste in die Verbannung wandern. Erwähnt sei hier nur der in Tiflis allverehrte Peter Nemgam, der in die nördlichen Gouvernements verschickt wurde, bis es ihm gelang, wieder in Saratow eingestellt zu werden.
Verfolgungen einzelner Kolonisten.
Ihren Zorn richteten die kaiserlichen hohen Beamten nicht nur gegen hervorragende und einflussreiche Personen, sondern auch auf ganz unbedeutende, kleine Leute, nur um dem Deutschenhasse und der Deutschenhetze Ausdruck zu geben. Um nur einige wenige Beispiele zu nennen, teile ich folgendes mit. In einer deutschen Kolonie in taurischen Gouvernement lebte eine 89 Jahre alte Greisin, Frau Muth, eine Reichsdeutsche, deren Enkel aber russische Untertanen waren. Obwohl herzleidend, wurde diese alte, ganz bedeutungslose Frau ausgewiesen. Sogar der Gouverneur hatte Mitleid mit ihr und übergab die Angelegenheit einer medizinischen Kommission, bereit die Verfolgung der Greisin niederzuschlagen, wenn diese Kommission ihm solches begründen könnte. Aber die Ärzte (Juden) hatten kein Mitleid und erklärten die alte Frau als vollständig gesund. Sie musste aus ihrer Heimat Hoffental ( Melitopol) fort nach dem Ural-Gebiete, wo sie bald starb (am 27 Mai 1917, im Alter von 92 Jahren). Diese alte Frau hätte sicher in ihrer Heimat dem russischen Staate keinen Schaden zugefügt. Ein russischer Prediger in Orsk, dem Verbannungsort auch anderer Deutschen, nahm sich dieser armen alten Frau an und erklärte in einer seiner Predigten seinen Gemeindemitgliedern, dass die nach Orsk verbannten Deutschen nicht Reichsdeutsche, also gegenwärtig Feinde Russlands, seien, sondern Mitbürger, alte, schwache Leute, denen man freundlich entgegenkommen müsse. Diese Ansprache verhallte nicht wirkungslos. Die russischen Leute in dieser weitentlegenen Stadt wurden auf die Notlage der unschuldig Verbannten aufmerksam und begannen, für sie zu sorgen. Diese einfachen Menschen begriffen, dass eine 89 Jahre alte Bäuerin unmöglich das deutsche Heer bei dessen Vordringen nach Russland leiten und ihm auch keine nützlichen Mitteilungen als Spion machen könnte.
In der Kolonie Neuhoffnung (Kreis Berdjansk) wurde im Jahre 1915 im Hause des Kolonisten Scholl an der Zimmerwand eine Tafel entdeckt, welche folgende deutsche Inschrift trug:
„Wir bauen allhier feste,
Und sind doch fremde Gäste;
Wenig sind, die denken wollen,
Wo sie ewig wohnen sollen.“
Es ist dies augenscheinlich ein religiöser Spruch, wie solche in den deutschen Kolonisten-Häusern gewöhnlich die Zimmerwände verzieren. Diese Tafel soll die Leute daran erinnern, dass sie Gäste hier auf der Erde seien, und mehr an ihr künftiges Leben denken sollen. – Aber die Polizei konnte das nicht begreifen und beschuldigte den Kolonisten Scholl der Verachtung Russlands und der Verherrlichung Deutschlands und verurteilte ihn zu einer Strafzahlung von 1000 Rubel. Gleichzeitig wurde ihm auch ein Pferd weggenommen.- Später wollte der Gouverneur diese Angelegenheit verschönern, und Kol. Scholl wurde nachträglich noch beschuldigt, dem Heere schlechtes Heu zugestellt zu haben, wofür er nach Irkutsk verschickt wurde.
Einige Tage vor der Februarrevolution 1917 wurde es in der selben Kolonie Neuhoffnung bekannt, dass 25 Wirte nach Sibirien verbannt werden sollten, weil sie sich erlaubt hätten, unehrerbietige Ausdrücke über die Person des Kaisers zu gebrauchen. Die Revolution, die am 27 Februar 1917 die Macht diesen schmutzigen Händen entriss, verhinderte die Ausführung dieser Schandtat.
Auch in vielen anderen Kolonien Südrusslands lebten damals die Bauern, wie auch die Gutsbesitzer unter Aufsicht der Polizei. Nicht selten organisierte die Polizei eine solche Aufsicht über die deutschen in ihrem eigenen habsüchtigen Interesse. So wurden zu Anfang des Jahres 1915 einige Kolonien im Kreise Berdjansk beschuldigt, vor mehreren Jahren je 30 Rubel zum Baue eines Bethauses für eine Sekte gestiftet zu haben. Die örtliche russische Geistlichkeit bezeugte, dass einer von den so Beschuldigen, nämlich Heinrich, mehrmals bedeutende Geldsummen der russischen Kirche gespendet habe und also nicht als ein regierungsfeindlicher Unterstützer des Sektenwesens betrachtet werden kann. Nichtsdestoweniger wollte die Polizei darauf bestehen, dass H. Heinrich und seine Brüder verbannt werden sollen. Unterdessen wurde dem H. Heinrich von Ekaterinoslaw aus vorgeschlagen, 10000 Rubel einzuzahlen, wodurch er sich von der ihm und seinen Brüdern angedrohten Verbannung losmachen könnte.
Am 2. Februar 1917 wurden in Tiflis der allgemein geehrte Th. Hummel, Gutsbesitzer in der Kolonie Helenendorf (Transkaukasien), und vier Herren aus der bekannten Familie Bohrer, aus derselben Kolonie, auf Befehl des Großfürsten Nikolai Nikolaewitsch verhaftet und eingekerkert. Nach der Februar-Revolution (1917) wurden sie befreit (am 12 März), nachdem sie 37 Tage im Gefängnis gehalten worden waren. Während dieser langen zeit wurden diese angesehenen Bürger von Niemandem verhört und ihnen keine Anklageschrift vorgewiesen. Sie waren einfach vergessen, und wenn die Revolution sie nicht befreit hätte, würden sie vielleicht noch lange im Gefängnis geschmachtet haben. Später wurde die Ursache ihrer Verhaftung bekannt. Es erwies sich nämlich, dass die Schuld dieser Herren nur darin bestand, dass sie einen Weingarten gekauft hatten, welchen der Großfürst für sich kaufen wollte. Die Herren aber waren ihm zuvorgekommen. Das war als unerhörte Dreistigkeit aufgefasst, welche strafbar war. Und die Verhaftung war also die verdiente Strafe! Mit einem Russen wäre der Großfürst Nikolai nicht so verfahren. Aber diese Herren waren ja Deutsche, und da durfte man auch rechtswidrig vorgehen!
Im Jahre 1915 arbeitete eine Gruppe aus 118 einberufenen Mennoniten in der Forstei Anadol (im Kreise Bachmut). Zwecks Einquartierung solcher Gruppen hat die Mennonitische Gesellschaft Russlands aus eigenen Mitteln Kasernen aufgebaut, wo die einberufenen jungen Leute ihre Dienstzeit in Forstarbeit verbringen. Ihr Unterhalt wird von den Mennoniten aufgebracht, während die gewählten Emissäre auch für die geistliche Nahrung ihrer dienenden Jugend sorgen.
Der damalige Forstmeister Dochnow, dem die Oberaufsicht über diese sogenannten “Forstkommando“ oblag, stellte die jungen Mennoniten an die schweren Arbeiten und vor die schwierigsten Aufgaben. 22. Einberufene trugen einen Bruch davon. Die deutsche Bibliothek in der Kaserne, welche von der mennonitischen Gesellschaft angeschafft war, wurde geschlossen. Sogar die deutschen Lehrbücher wurden weggenommen. Unterhaltung in deutscher Sprache und deutsche Musik wurden streng verboten und mit langer Verhaftung bestraft. Den Mennoniten wurden keine Urlaubsreisen gestattet, selbst bei Sterbefällen in ihren Familien.
Schmähliche Behandlung der Kolonistensöhne im russischen Heeresdienst.
Besonders schreiend offenbarte sich der Hass gegen die Deutschen, die pflichttreu an der russischen Front gegen die eigenen Volksgenossen kämpften. Ihnen war durch das Verbot ihrer Muttersprache vielfach die Möglichkeit genommen, mit ihren Familien brieflich zu verkehren. Aber auch der religiösen Bedienung waren sie beraubt, denn kein deutscher lutherischer Pastor durfte an die Front. Besonders schwer traf sie das Verbot (1915), die im Heere kienenden Kolonistensöhne zu Offizieren zu befördern, oder in die Militärschulen aufzunehmen. Viele dieser als einfache Soldaten eingereihten Kolonisten waren Studenten an höheren Lehranstalten (Universitäten und anderen). Im Juli 1916 wurde ein Befehl erlassen, laut welchem die Studenten-Russen in die Militärschulen aufgenommen wurden. Die Kolonisten-Söhne aber waren in diesem Befehle weggelassen. Zu dem ursprünglichen Projekte dieses Erlasses wurde eine Einteilung der Studenten im Kriegsdienste nach ihren Nationalitäten nicht vorgesehen. Aber die höheren Militärbeamten hielten eine solche Ausscheidung der deutschen Kolonisten für geboten. So mussten denn diese Studenten deutscher Nationalität nur als gemeine Soldaten im Heere dienen und konnten in besonderen Ausnahmefällen bin zum Range eines Feldwebels avancieren. Selbst diejenigen Studenten, welche vor dem Erlasse dieses Befehls in die Militärschulen aufgenommen waren, wurden sofort ausgeschlossen und nach der Front abgeschickt. Solches geschah in Odessa, in Nischni-Nowgorod und Tiflis. So wurden viele junge deutsche Kolonisten aus den Kreisen verstoßen, zu denen sie nach dem Grade ihrer Bildung und Erziehung gehörten.
Im November 1916 wurde vom Kriegsministerium befohlen, dass alle Kolonisten-Söhne, welche als gemeine Soldaten dienten, aber eine höhere Bildung genossen haben (also Studenten und Absolventen der Hochschulen), in besonderes dazu eingerichtete Lehr-Bataillone eingereiht werden sollten, welche den Zweck hatten, die jungen Leute zum Zivil-Dienst im Kriegs-Ressort vorzubereiten. Es wurden zwei solche Lehrbataillone gegründet, von denen sich das eine in Nischni-Nowgorod, das andere in Zarizin (an der unteren Wolga) befand. Zu Anfang des Jahres 1917 war die Zahl der gebildeten Kolonisten-Söhne in diesen Lehr-Bataillonen auf einige Hundert gestiegen. Mehrere Monate lang wurden diese jungen Leute nicht zum versprochenen Zivil-Dienst in der Armee zugezogen und langweilten sich wegen dieses obligaten Nichtstuens. Das Studieren der Militärstatuten war ihre einzige Beschäftigung. Es war ihr Dienst eine maskierte Verhaftung, eine Isolierung aus dem Heere. Nach der Februar-Revolution (1917) wandte sich der „Verein russischer Bürger deutscher Nationalität“ in Odessa, wie auch die Studenten des Lehr-Bataillons in Zarizin an den Kriegsminister in der „Temporären Regierung“ mit der Bitte, die in den Lehr-Bataillonen schmachtenden Kolonisten frei zu lassen, ihnen das Recht zu geben, sich einem Examen an den Militär-Schulen zu unterwerfen.
Diese Bitte wurde im Mai 1917 wiederholt, als A.Th. Kerensky zum Kriegsminister (an Stelle des zurückgetretenen A. J. Gutschkow) ernannt war. Dieses Mal hatte die Bitte Erfolg, und Kerensky befahl, dass die einberufenen Kolonisten in die Militär-Schulen aufgenommen werden sollten und nach dreimonatlicher Lehrzeit den ersten Offiziersrang erhalten könnten (August 1917). Aber der Erfolg der Bitte war darum nicht durchschlagend, weil es den Kolonisten nur erlaubt wurde, in die niedersten Militärschulen aufgenommen zu werden, in die sogenannten Fähnrich-Schulen. Die Aufnahme in höhere Militärschulen war auch jetzt den gebildeten Kolonisten-Söhnen versagt.
Gleichzeitig mit diesen nicht selten tragischen Ereignissen, fanden auch viele lächerliche statt, so u. a. folgendes: In der Kolonie Halbstadt (Molotschna) sieht man in der Romanowstraße ein Denkmal in Gestalt einer aus Backsteinen gebauten Säule, welche eine Tafel mit folgender Inschrift trägt: „zum Andenken an die Hilfe, welche am 31. März 1854 (im Krim-Kriege) von den deutschen Kolonisten der russischen Armee bei ihrem Übergang über den Strom erwiesen wurde und zum Dank für die deutsche Gastfreundschaft – vom Tarutiner Jäger-Regiment aufgeführt“.
Es ist dieses Denkmal ein Zeugnis der loyalen Beziehungen zwischen Kolonisten und russischem Militär in schwerem Momente während des Krim-Krieges. Die angeführte Unterschrift ist in russischer Sprache geschrieben. Auf zwei anderen Mettalltafeln war ihre deutsche Übersetzung eingraviert. Diese tafeln waren auf zwei anderen Seiten der Säule eingemauert. Im Jahre 1915 wurden diese zwei deutschen Tafeln laut Befehl des Kreischefs abgenommen, da sie die Inschrift in feindlicher Sprache trugen. Diese Sprache konnte ja dem Reiche schaden! Aber die stehengebliebene russische Inschrift fährt auch gegenwertig fort, von dem freundschaftlichen Zusammenwirken der russischen Krieger und der deutschen Kolonisten (Mennoniten) Zeugnis abzulegen! Es ist schwer zu begreifen, was die Obrigkeit sich dachte, als sie nur die deutschen Tafeln vernichtete – die russische aber stehen ließ.
Im Vorhergehenden habe ich zahlreiche Fälle von Verfolgungen deutschen Kolonisten durch die Beamten der zaristischen Regierung vorgeführt. Ich könnte noch viele andere Fälle aufzählen; aber ich glaube das Erzählte genügt, um darzutun, dass diese Verfolgungen und Rechtsbeschränkungen von oben her inspiriert, angeordnet und durchgeführt wurden; sie entstanden nicht aus elementarem gegenseitigen Völkerhass; nicht von unten, aus dem Volke heraus, - sondern auf der Höhe des Thrones und der nächsten Umgebung desselben. Und nur einige politische Parteien, rechte und Kadetten, folgten fügsam den von oben und von auswärts kommenden Wunschäußerungen und machten dabei ihre persönlichen Geschäfte und ihre Karriere. Aber immer wurde dabei „das Wohl des Reiches“ vorgeschoben, für Leute die kein eigenes Urteil hatten. Kein einziger Fall von Verrat, welcher von deutschen Kolonisten verübt wurde – ist bekannt, während solche Fälle, wo die Russen Verräter an ihrem Lande waren, viel Staub aufgewirbelt haben.
Die Deutschen in Russland taten ihr Möglichstes, um ihrem Heimatlande in schwerer Kriegszeit beizustehen, denn sie betrachteten sich immer als treue Untertanen Russlands. Diese Anhänglichkeit und Treue der deutschen Bürger Russlands zu ihrer Heimat wurde sehr schön in einem Gedichte des deutschen Lehrers Ketterlin zum Ausdruck gebracht, welches in der Odessauer Zeitung im Jahre 1920 veröffentlicht wurde, also sogar nach den schweren Jahren 1915 und 1916, als die Deutschenhetze ihre größte Entfaltung erreicht und zahlreiche Opfer verlangt hatte. Dieses Gedicht möchte ich hier, zum Schlusse meiner Artikel, der Vergessenheit entreißen, denn es hat aktuelles Interesse, und sehr viele deutsche Kolonisten in Russland teilen die hier ausgesprochene Ansicht.
Das Heimatland.
Die Hand ans Herz, ihr russische-deutschen Brüder;
Bekennet frei, was Euer Heimatland,
Wo ist der Ort, wo Eure Wiege stand?
Nicht Deutschland ist´s mit seinen Eichen-Wäldern,
Nein Russland ist´s mit seinen Steppen-Feldern!
Du Heimatland, wo wir zur Welt geboren!
Du Russland, bleibe unserem Herzen wert,
Denn Deutschland ist ja längst für uns verloren.
Drum lebe wohl du alte deutsche Erd!
Du Herrmannsland mit deinen Runenzeichen,
Mit deinen stolzen tausendjährigen Eichen!
Wer trägt die Schuld, wenn wir es nicht mehr kennen,
Das Mutterland, die Alt-Germania;
Wenn wir das Russenland jetzt unsere Heimat nennen,
Wie andre Deutschen Nordamerika?
Beklagenswert, und manchen rührt´s zu Zähren,
Warum kann Deutschland nicht uns, seine Kinder nähren?
Warum? Das mag das deutsche Volk entscheiden.
Genug; wir sind zerstreut in aller Welt;
Und dieses Faktum lässt sich nicht bestreiten,
So schwer auch immer die Erkenntnis fällt.
Wo Schutz und Brot und Obdach wir gefunden,
Da sind zur Untertanentreue wir verbunden.
Das Russenland ward uns zum Heimatlande,
Es nahm die heimatlosen Eltern auf;
Vom Schwarzen Meere bis zum Ostseestrande,
Vom Kaukasus bis zum Ural hinauf…
Jetzt blüht auf Russlands Boden deutsche Treue,
Und deutscher Fleiß des Steppenland.
Und glücklich lebt der Deutsche, der auf´s neue
Hier seine traute, liebe Heimat fand.
Mit ganzer Lieb, mit Gut und Blut und Leben
Ist er dem neuen Heimatland ergeben.
Es hängt jetzt ab von dem Willen der russischen Regierung und des russischen Volkes, dieses frühere freundschaftliche und rechtmäßige Zusammenleben der beiden Völkerschaften Russen und Deutschen, wieder herzustellen. Die treuen, arbeitsamen deutschen Bürger Russlands haben hier Großes geleistet, um das Aufblühen der Landwirtschaft im Süden des Reiches zu leiten und zu fördern und die ökonomischen Verhältnisse derselben zu verbessern. In Zukunft wird die deutsche Arbeit hier alle wirtschaftlichen Wunden des Reiches zu heilen mithelfen, wenn die Rechtsverhältnisse der deutschen Bürger nicht mehr so mit Füßen getreten werden, wie es in der Vergangenheit geschah.
Jetzt sind die Deutschen den Russen gleichgestellt. Wir wollen alles Unrecht, das uns zugefügt wurde, vergessen und vergeben, denn die Leiter der schändlichen früheren Verleumdungen, Verfolgungen und Rechtstöter sind fort, sind teilweise vernichtet oder unschädlich gemacht. Die Vorsehung hat sie schwer bestraft für alles Unrecht, welches sie den deutschen Mitbürgern zugefügt haben.
Wir wollen hoffen, dass solches Unrecht nie mehr über die Deutschen in Russland kommen wird und sie in Frieden und im Vertrauen auf ihr unumstößliches Recht den ihnen zugewiesenen Beruf ausführen zu können, die Möglichkeit haben werden.
[i] Anm.: Die „Verbrechen“ bestanden im wesentlichen darin, dass die evang.-luth. Pastoren Kinder solcher estnischer und lettischer Eltern tauften und konfirmierten, die sich unter falschen Versprechungen zum Übertritt in die russische (orthodoxe) Staatskirche hatten verleiten lassen und später, als sie den Betrug sahen, bittere Reue darüber empfanden.
Die Schriftleitung.
[ii] Richtiger: „Vergewaltigung“ (sasilje).
[iii] Besonders zu erwähnen ist hier jetzt in Deutschland lebende Bischof Eulogios von Wolhynien, der einer der Hauptschuldigen der Vertreibung der Deutschen aus Wolhynien war. Er ist der geistige Urheber dieser sinnlosen, von reinem Hass diktierten Tat. Er hat den Tod tausender unschuldiger deutscher Menschenleben auf dem Gewissen. Welche Ironie des Schicksals, dass er später sein eigenes Leben, das von den Bolschewisten bedroht war, nur durch die Flucht nach Deutschland retten konnte, wo er nun die deutsche Gastfreundschaft in Ruhe genießen darf.
Wolgadeutsche Monatshefte, August – Dezember 1923, Nr.15 - 24.