Geschichte der Wolgadeutschen

DIE UFER / БЕРЕГА

ALMANACH DER RUSSLANDDEUTSCHEN
АЛЬМАНАХ РОССИЙСКИХ НЕМЦЕВ


Русский

Alexander Spack

TRAURIGE SEITEN DER GESCHICHTE[1]

Manchmal gibt auch eine kleine Geschichte, die von einem ihrer unmittelbaren Teilnehmer erzählt wird, eine größere Vorstellung  von ihr, als wenn man über dasselbe Ereignis in irgendeinem Lehrbuch für Geschichte lesen würde. Aber wenn solch eine Erzählung eine Zeitperiode von 20-30 Jahren einnimmt, und wenn die Ereignisse, von denen die Rede ist, vor über einem halben Jahrhundert stattfanden? Ist das nicht echte Geschichte vergangener Zeiten?

Anfang der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts kam mein Großvater Karl Karlowitsch Schmidt nach dem Tode der Großmutter aus Kasachstan und lebte bei uns bis zu seinem Tode im Jahre 1987. Ich hatte damals das Glück, lange und offenherzige Unterhaltungen mit ihm über das Leben der Wolgadeutschen bis zu ihrer Aussiedlung im Jahre 1941 zu führen. Das eigentliche Thema der Aussiedlung, sowie auch das Thema Trudarmee (Arbeitsarmee) mied der Großvater in seinen Erzählungen. Leider. Heute sind von meinen Verwandten nur noch zwei Menschen geblieben, die noch von den weiten und tragischen Ereignissen berichten können. Einer von ihnen ist Baster, Arnold Petrowitsch[2], der Ehemann meiner leiblichen Tante. Heute lebt er in der Stadt Uralsk in der Republik Kasachstan. Als er im Herbst 2005 bei uns als Gast weilte, war er so gütig und teilte mit mir seine Erinnerungen, die ich nach seinen Worten niederschrieb.

Alexander Spack
Arbeitersiedlung Srednjaja Achtuba
November 2005


I.

Onkel Arnold wurde am 5. August 1924 in Marxstadt[3] geboren. Fast seine ganze Kindheit verbrachte er aber auf dem Chutor Boosens Damm. Das Chutor befand sich 40 km von Marxstadt in der Steppe. Nach den Angaben der Volkszählung von 1926 gab es hier 23 Einzelwirtschaften, in denen 116 Seelen beiden Geschlechts lebten, darunter: Männer – 69 und Frauen – 47. Die Bevölkerung bestand ausschließlich aus Deutschen. Wann das Chutor gegründet wurde – ist unbekannt. Aber nach den Worten der Mutter von Arnold Petrowitsch, Baster, Elisabeth Iwanowna, existierte das Chutor schon als sie im Jahre 1904 geboren wurde. Und geboren wurde sie in demselben Chutor und trug den Mädchennamen Nichelmann. Seinen Namen erhielt das Chutor durch den Damm, um den sich das Chutor gebildet hatte. 

Arno, wie Onkel Arnold in seiner Kindheit zärtlich gerufen wurde, lebte auf dem Chutor zusammen mit seiner Mutter und dem 2 Jahre jüngeren Bruder Viktor. In dem Chutor Boosens Damm gab es zur Sowjetzeit und bis zur Aussiedlung der Deutschen von der Wolga den Kolchos namens W.I. Lenin, wo Arnos Mutter als einfache Kolchosbäuerin tätig war. Sein Vater Baster Peter Andreewitsch arbeitete in jener Zeit in Marxstadt auf verschiedener Arbeit in der Fabrik „Krasnyj Textilschtschik“ (Roter Textilarbeiter). Er besuchte seine Familie von Zeit zu Zeit, die auf dem Chutor Boosens Damm lebte. Aber wegen der Fabrikarbeit und  Zeitmangels lebte er meistens in Marxstadt.

Vor der Oktoberrevolution lebte die Familie Baster wohlhabend. Der Großvater von Arnold Petrowitsch,  Heinrich, besaß seine eigenen großen Wohnhäuser und Wirtschaftsbauten in Katharinenstadt.

„Das große Haus mit französischem Dach, Speicher, Pferdestall – alle diese Gebäude befanden sich in der Bebelstraße in Marxstadt und gehörten meinem Großvater“, erzählte Onkel Arnold.  – In den 1920er Jahren, während der Entkulakisierung, hatte man das sämtliche Vermögen des Großvaters weggenommen, die Familie wurde aus dem eigenen Haus gejagt. Als ich in den 1970er Jahren, nach langer Zeit die Stadt Marx besuchte, begab ich mich natürlich in die Bebelstraße. Das Haus des Großvaters stand noch wie auch früher auf seinem Platz, auch die Nebengebäude waren noch gut erhalten, obwohl schon so viele Jahre vergangen waren.“ 

Es ist möglich, dass, weil der Vater von Onkel Arnold aus einer wohlhabenden Familie stammte, dies als Ursache diente, dass er 1937 verhaftet wurde. 

„Es war im Spätherbst 1937“, erinnert sich Onkel Arnold. „Vater kam aus der Stadt aufs Chutor und half der Mutter in der Wirtschaft. Eines Tages im November fuhr ich mit den Jungen Schlittschuh auf dem Eis, mit dem der Teich schon bedeckt war. Plötzlich kam unser Nachbarjunge und sagte mir: „Arno, lauf schnell zum Chutor und verabschiede dich von deinem Vater, nach ihm kam ein Milizionär.“

Ich lief nach Hause. Der Vater saß schon auf einem Pferdewagen. Mutter stand daneben und weinte bitter. Der Vater verabschiedete sich von uns,  der rote NKWD-Mann schlug auf das Pferd ein und der Wagen fuhr ab.“

Das waren die letzten Augenblicke, wo Onkel Arnold seinen Vater sah. Das weitere Schicksal von Peter Andreewitsch ist nicht bekannt.

Aber wir sind etwas voraus gegangen in unserer Erzählung.

1932 wurde Onkel Arnold 8 Jahre alt, und er ging wie alle Sowjetkinder zur Schule.

„In der ersten und zweiten Klasse besuchte ich die Schule in unserem Chutor“, erzählte Onkel Arnold. „Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie unsere Lehrerin hieß, aber ich erinnere mich genau, dass sie im Jahre 1939 für ihre gute Lehrertätigkeit mit dem Leninorden ausgezeichnet wurde.“ 

1934 begab sich Onkel Arnold nach Marxstadt, um dort seine Lehre fortzusetzen.

„In Marxstadt besuchte ich die Siebenjahresschule in der Oberstadt[4]“, erklärte Onkel Arnold, „und wohnte bei der Schwester meiner Mutter Kramer, Anna Iwanowna. Tante Anja wohnte in der Engelsstraße Haus Nummer 88. Jetzt ist das die Leninstraße.[5] Die Schule, wo ich lernte, befand sich in der Kirowstraße. Unweit unserer Schule, am Stadtrand, gab es Obstgärten, dahinter -  einen Teich. Den Hang hinunter zu diesem Teich nannte man „Kawakenberg“, weil da eine Bierschenke stand, russisch „Kabak“ genannt. Während der Ferien fuhr ich immer nach Boosens Damm zur Mutter und meinem Bruder, danach wieder zurück nach Marxstadt, um die Lehre fortzusetzen. 

Nach der Beendigung der 5. Klasse im Jahre 1937“, fährt Onkel Arnold mit seiner Erzählung fort, „fuhr ich nicht mehr in die Stadt, um zu lernen, sondern arbeitete im Kolchos als Gehilfe des Mähdrescherführers. Ich arbeitete auf einem großen Mähdrescher „Stalinez“. Der Vater war verhaftet worden, und ich musste der Mutter helfen, uns mit dem Bruder großzuziehen. Viktor war 1937 erst 11 Jahre alt, ich war schon 13! So arbeitete ich im Kolchos bis zur Aussiedlung im Jahre 1941.“ 

II.

Der 28 August 1941, der Tag der Verabschiedung  des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR  „Über die Aussiedlung der Deutschen, die in den Rayons des Wolgagebiets leben“, ist ein schwarzes Datum im Schicksal der Russlanddeutschen. Mit einem Federstrich wurde das Leben Tausender Sowjetdeutscher ausgemerzt, Tausende Familien verloren ihr Obdach, ihr Vermögen, das unter anderem der „sorgsame Sowjetstaat“ seinen gesetztreuen Bürgern auch nicht mehr zurückerstattete. Also, es begann die Aussiedlung...

Am 13. September 1941 wurden alle Einwohner von Boosens Damm mit Fuhren nach Marxstadt gebracht. In Marxstadt wurden die Leute mit ihrem Hab und Gut auf Lastkähne verladen und auf der Wolga nach Saratow gebracht, wo die lange Reise nach dem Osten des Landes begann.[6]

„Man fuhr uns in Viehwaggons, d.h. in Waggons, wo in Friedenszeit gewöhnlich Vieh transportiert wurde“,  erzählte Onkel Arnold.  „In einigen Waggons fuhren alle unsere Dorfbewohner aus dem Chutor Boosens Damm. In jedem Waggon waren 5-7 Familien. In unserem Waggon starb unterwegs niemand, und wir kamen alle wohlbehalten am 26. September 1941 in Bijsk, Altai-Region an. Im Laufe der ganzen Zeit, wo wir unterwegs waren, hat man uns nur zwei Mal irgendeine Suppe gegeben. Doch wir haben sie nicht gegessen. Auf dem Weg retteten uns die Vorräte an Lebensmittel, die die Mutter mitnehmen konnte. Noch zu Hause, vor der Aussiedlung, hatten wir ein Schwein geschlachtet. Die Mutter hatte das Fleisch im Ofen gebraten, in einen Eimer gelegt und mit Fett zugeschüttet. Auf solch eine Art hatte sich das Fleisch den ganzen Weg über gut erhalten. Außerdem hatten wir zwei Säcke Mehl. Im Waggon schliefen wir auf einem Federbett, das der Mutter gelang,  auch wie durch ein Wunder, mitzunehmen. Der Waggon wurde nicht geheizt, aber es war nicht kalt. Wegen der großen Anzahl von Menschen in einem Waggon (20-30 Mann) war es manchmal sogar schwül. Wasser bekamen wir keins, wir versorgten uns damit an den Stationen.

In Bijsk trafen wir nachts ein. Wir dachten, wir könnten den Morgen im Waggon erwarten, doch man befahl uns, auszusteigen. Draußen war es kalt. Wir begannen, Reisig zu suchen, um Feuer zu machen. So saßen wir auch bis zum Morgen unter freiem Himmel. Am Morgen wurden wir auf Fuhren verteilt, die uns in die umliegenden Dörfer brachten. Unsere Familie kam in das Dorf Botschkari, Rayon Zelinnyj, Altai-Region. Zusammen mit uns brachte man noch 15 Familien dorthin, die vor der Aussiedlung in Boosens Damm lebten: Schmidt, Luft, Riemer, Fellinger, Karlin, Sabelfeld, Maier und andere.

Das Dorf Botschkari befindet sich 60 km von Bijsk. Wir fuhren auf Pferdewagen morgens aus Bijsk weg und kamen abends in Botschkari an. Als wir ins Dorf kamen, verteilte man uns in  Wohnungen zu den örtlichen Einwohnern. Die Verteilung verlief  friedlich und ruhig. Ich möchte sagen, dass es anfänglich keinerlei Zusammenstöße zwischen den Deutschen und der örtlichen Bevölkerung gab. Das war schon später, als von der Front die Totenbriefe ins Dorf kamen, begannen die Leute uns scheel anzugucken, als ob wir an etwas schuld wären. Es gab auch solche, die uns als Faschisten beschimpften, aber im Ganzen charakterisierten uns alle, die mit uns in Berührung kamen, als arbeitsame, ehrliche und pünktliche Menschen.

In Botschkari gab es drei Kolchose: „Sibirjak“, „Vorwärts“ und den Kolchos namens Thälmann.

Bei uns zu Hause, an der Wolga, waren fast alle landwirtschaftlichen Arbeiten mechanisiert. Aber im Altai, wohin man uns gebracht hatte, wurde das Getreide mit Mähmaschinen und Pferden gemäht, weggeräumt wurde es mit den Händen. Auf der Tenne, wohin das Getreide gebracht wurde, gab es auch keinerlei Mechanisierung. Überall war nur Handarbeit. Für mich war das ungewohnt.“ 

Ja, es war nicht leicht, sich auf der neuen Stelle einzuleben. Nicht genug, dass, der ganze Hausrat, das Vieh an der Wolga zurückgelassen wurde, es entstand auch noch das Problem mit der Sprache. Die meisten Deutschen beherrschten die russische Sprache überhaupt nicht, und am Anfang war es sehr schwer, sich mit der örtlichen Bevölkerung zu verständigen. So oder anders,  alle diese Verhältnisse wurden von den Behörden nicht in Betracht gezogen. Es musste auch unter diesen Verhältnissen irgendwie überlebt werden. 

„Ich ging sofort, schon in den ersten Tagen, in den Kolchos arbeiten“, erzählte der Onkel weiter. „Nach ein oder zwei Monaten schickte man mich nach Borowljanka in eine Forstwirtschaft zur Holzfertigstellung für den Kolchos. Das Jahr 1941 ging zu Ende. Ich war schon 17 Jahre alt.“

Am 10. Januar 1942 wurde vom Staatlichen Verteidigungskomitee der Beschluss Nr. 1123 „Über die Mobilisierung der deutschen Aussiedler in die Arbeiterkolonnen“ verabschiedet, laut dem die deutschen Männer von 17 bis 50 Jahren, die zur physischen Arbeit fähig waren, für die ganze Kriegszeit in die Arbeiterkolonnen mobilisiert wurden.

„Nach Neujahr“, erinnert sich Onkel Arnold weiter, „begann man alle deutschen Männer durch die Kriegskommissariate in die Trudarmee zu mobilisieren. So kam ich nach Kotlas.“ 

Der Terminus „Trudarmee“ kommt in den offiziellen Dokumenten nicht vor. Als „Trudarmee“ (deutsch – Arbeitsfront) werden in der historischen Memuarliteratur die Arbeitskolonnen genannt, was in Wirklichkeit verschleierte Konzentrationslager des GULAG waren, in die die deutschen Männer und Frauen für die ganze Kriegszeit mobilisiert wurden. Die Hauptbestimmung der „Trudarmee“ war die   Nötigung des „sozial gefährlichen Kontigents“ zur Zwangsarbeit.

III.

Aus den Erinnerungen Onkel Arnolds:

„Am 23. Februar 1942 kam ich nach Kotlas in das Gebiet Archangelsk auf den Bau einer Brücke über die Nördliche Dwina. Es sind schon mehr als 60 Jahre vergangen, aber es ist immer noch schaurig,sich an diese Zeit zu erinnern.

Wir arbeiteten 12 Stunden am Tag. Gefüttert wurden wir nach der Arbeitsplanerfüllung. Wenn man zum Beispiel die Norm auf 100% erfüllte, erhielt man 700 Gramm Schwarzbrot und einen Napf  Balanda  (eine suppenähnliche Flüssigkeit) pro Tag. Gegessen wurde direkt hier an der Feldküche. Manche gingen in die Baracke zum Essen, denn draußen war es schrecklich kalt – bis 35-40° Kälte! Nicht jeder konnte das aushalten. Den Essnapf (meistens ein Soldatenkesselchen) und den Löffel trug man immer bei sich an den Leibriemen gebunden. Die 700 Gramm Brot wurden natürlich nicht auf einmal herausgegeben. Es wurde für dreimal eingeteilt – zum Frühstück, zum Mittag und zum Abendbrot. Die Portionen waren nicht einerlei groß – wer machte sich da schon die Mühe, um sie zu wiegen. Ein Laib Brot wurde nach dem Augenmaß in Stückchen von ungefähr 200-250 Gramm geschnitten. Man erhielt solch ein Stückchen  Brot und einen Napf Suppe, die aus purem trübem Wasser bestand, man konnte da nicht ein einziges Fettauge entdecken. Es war schon gut, wenn  manchmal ein Stückchen Fischkopf, Rübe oder Steckrübe darin herum schwamm. Das war unsere ganze Verpflegung.

Als man uns nach Kotlas brachte, wurden wir nicht sogleich in den Baracken untergebracht. Wir blieben 2 oder 3 Tage in unseren Waggons. Als wir endlich in die Baracken kamen, stand dort  ein schrecklicher Gestank. Es stellte sich heraus, dass vor uns hier Kartoffeln gelagert waren. Der Fäulnisgeruch stand nicht nur in der Luft, er war auch in die Wände eingedrungen. Das war ein einziger Alptraum. Die Pritschen waren auf drei Ebenen angebracht. Die Kälte war schrecklich. In den Baracken standen aus eisernen Fässern hergestellte Öfen, doch die retteten einen kaum vor der Kälte. Wir schliefen direkt in dem, was wir auf dem Leib hatten. Kleidung wurde keine herausgegeben, jeder besaß nur das, worin er von zu Hause gekommen war. In den Baracken wurden der Reihe nach Diensthabende aufgestellt, die aufpassten, dass das Feuer in den Öfen nicht erlosch. Im April 1942 wurden die Baracken mit einer hohen Bretterwand umgeben, auf der noch (gewöhnlich drei Reihen)  Stacheldraht gezogen war.

Der Lagerchef war ein Deutscher mit dem Namen Jakobi. Ich arbeitete in der 5. Kolonne. Später wurde ich in das Dorf Sheschart (ASSR der Komi) überführt, wo ich mit meinem künftigen Schwiegervater Karl Karlowitsch Schmidt bekannt wurde. Es stellte sich heraus, dass er auch aus unserem Lager in Kotlas hierher kam. Doch er arbeitete dort in der 6. Kolonne und ich kannte ihn damals noch nicht.

Ich arbeitete hauptsächlich an Betonarbeiten. Die Brücke wurde folgendermaßen gebaut: Auf dem Fluss wurde im Eis ein großes Loch herausgehackt, in das vertikal ein breites Metallrohr hineingestellt wurde. Dann wurde das Wasser herausgepumpt und das leere Loch mit Beton gefüllt. Auf solche Art wurden die Brückenpfeiler gegossen. Den Beton brachte man von einem Betonwerk und schüttete ihn in eine große Grube, die dazu extra am Ufer ausgehoben worden war, und wir mussten ihn mit Karren herbei fahren und in die vorbereitete Verschalung schütten. Das musste alles sehr schnell gehen, damit der Beton in der Grube nicht steif wurde. Und da es Winter mit großem Frost war, konnte der Beton auch einfach in der Grube gefrieren. Einige Arbeitsarmisten unterhielten um die Grube herum ständig Feuer, damit der Beton nicht gefror, ehe man ihn verarbeiten konnte.

Vor Hunger und Kälte starben die Leute wie die Fliegen. Die Verstorbenen wurden direkt im Lager aufeinander gestapelt, dann verlud man sie auf Traktorenschlitten und fuhr sie mit einem Traktor irgendwohin und vergrub sie in einer allgemeinen Grube. Es war mal solch ein Fall: Der Traktor erlitt unterwegs eine Panne,  und der Schlitten mit den Toten blieb im Wald stehen. Im Frühling arbeitete eine Gruppe von Trudarmisten aus unserem Lager im Wald und stieß auf diesen Schlitten. Ringsum stand ein schrecklicher Gestank. Ein grausiges Bild!

Fast alle Männer aus unserem Chutor Boosens Damm waren bei mir in demselben Lager in Kotlas. Mit einem von ihnen, mit Karl Sabelfeld, entwickelten sich gute, freundschaftliche Beziehungen. Karl lebte in der Nachbarbaracke, und ich besuchte ihn oft nach der Arbeit. Wir magerten im Lager so schnell ab, dass mein Kamerad  bald ganz danieder kam. Als ich das nächste Mal zu ihm kam, gab er mir ein kleines Bündel und sagte: „Hier sind einige Sachen und etwas Brot, nimm es.“

Ich stand unentschlossen da. 

„Nimm, nimm“, sagte er. „Ich kann das so wie so nicht mehr gebrauchen, und hier nimmt es dann ein Fremder.“

Wahrscheinlich fühlte er, dass er bis zum Morgen nicht mehr durchhält, und wollte noch selbst über seine Sachen verfügen. Am anderen Tag lebte Karl nicht mehr. Nach vielen Jahren, als ich im Altai Karls Frau traf, hatte ich nicht den Mut, ihr diese Geschichte zu erzählen. 

Ende April 1942 war der Bau der Brücke über die Nördliche Dwina beendet. Am 1. Mai 1942 wurde die Brücke feierlich eröffnet. Unter der Musik des Blasorchesters wurden über die Brücke, auf der auch schon Schienen lagen, 3 Waggons gefahren. Die Obrigkeit war zufrieden. Die Brücke wurde gerade zum Feiertag des 1. Mai, dem Tag der Solidarität der Werktätigen, in Betrieb genommen. Dem Lokführer, der die Lokomotive während der Eröffnung der Brücke führte, einem Russen, einem gewöhnlichen Strafgefangenen wurden 10 Jahre seiner Freiheitsstrafe erlassen, und man schickte ihn an die Front. Die Obrigkeit zählte das als höchste Auszeichnung für einen Strafgefangenen. Aber er seinerseits war nicht besonders erfreut über solch eine Auszeichnung. An der Front konnte er ja erschossen werden, im Lager war er wenigstens vor solch einem Schicksal verschont. Die gewöhnlichen Strafgefangenen befanden sich in besseren Verhältnissen als die deutschen Trudarmisten. Sie erhielten bessere Verpflegung und warme Kleidung.

Wie ich diese Hölle überlebte – ich weiß es nicht. Wahrscheinlich rettete uns unsere Jugend, ich war damals 17 Jahre alt. Man kann das gar nicht alles erzählen. Denkt mal selbst darüber nach. Als man uns im Februar 1942 nach Kotlas brachte, waren im Lager 16 Tausend Trudarmisten. Zum 1. Mai 1942 blieben nicht mehr als 5 Tausend übrig!  

Nachdem die Brücke in Betrieb genommen war, kam eine Kommission ins Lager. Allen Anscheins nach war die GULAG -Leitung angesichts der hohen Sterblichkeit nicht wenig erschrocken. Nach der Untersuchung wurden viele Chefs des Baus  und des Lagers durch neue ersetzt. Gleichzeitig arbeitete im Lager eine Kommission, die die Arbeitsfähigkeit der übrig gebliebenen Trudarmisten prüfte. Ich war zu dieser Zeit so abgemagert, dass ich mich kaum noch bewegen konnte. Ich ging zu dieser Kommission mit der Hoffnung, dass man mich für arbeitsunfähig erklärt und nach Hause schickt. Aber- Pustekuchen! Man sagte mir, ich sei noch jung und könne arbeiten. Man hatte mir 50% Arbeitsfähigkeit zugerechnet und in ein andres Lager gebracht, das sich 15 km von Kotlas befand, zum Bau einer Eisenbahn. Das war Ende Juli – Anfang August 1942. Ich fühlte mich schlechter und schlechter. Meine Haare begannen auszufallen. Die letzten Kräfte verließen mich. 

Das Lager hatte seinen eigenen Arzt, jüdischer Nationalität. Er schenkte solchen Halbverhungerten wie ich überhaupt keine Aufmerksamkeit. Einmal kam ins Lager ein fremder Arzt mit einer Inspektion. Ich entschloss mich, mein Glück noch einmal zu versuchen und schlenderte in den Medpunkt. Als ich ins Kabinett trat und sah den fremden Arzt, erkannte ich ihn sofort. Es war ein Deutscher mit dem Namen Spomer. Er war aus Marxstadt und ich kannte ihn noch von der Wolga her. Als unser Lagerarzt kurz das Kabinett verließ,  nutzte ich die Gelegenheit aus und sprach mit dem Spomer deutsch. Ich erklärte ihm kurz die Situation, dass ich nicht mehr arbeiten kann und die Kräfte mich ganz verlassen. Das brauchte man eigentlich nicht zu erklären, man sah mir auch so an, dass ich nur noch ein Leichnam war. Ja, wenn Spomer nicht gewesen wäre, wäre es mein Ende gewesen.

Ich wurde nach Kotlas ins Lazarett gebracht. Im Lazarett befanden sich die Kranken unter Bewachung und hatten kein Recht, irgendwo hinzugehen. Es stimmt – wir durften Briefe schreiben, und diejenigen, die schreiben konnten (es gab ja viele Analphabeten), unterhielten Briefwechsel mit ihren Verwandten. Ich kann mich auch jetzt noch gut erinnern an die Zeilen, die ich damals an meine Mutter schrieb: „Liebe, teure Mutter! Schicke mir ne Posylke!“[7]

Und wirklich, die Mutter schickte mir ein Paket, in dem  unter anderem auch ein Beutelchen mit Tabak war. Man kann sagen, dass dieser Tabak mir das Leben rettete. Im Hospital, im Krankenzimmer, wo ich lag, gab es noch einige solche abgehungerte Männer. Die waren bereit, mir ihre Brotration für eine Prise Tabak zu geben. Nicht alle, die sich im Lazarett befanden, wurden wieder gesund. Bei manchen ging die Auszehrung weiter, und sie standen schon gar nicht mehr vom Krankenbett auf. Ich erwies mich als einer der Stärksten. Ich ging jeden Morgen durch das Krankenzimmer und legte jedem der gänzlich abgeschwächten Kameraden die rettende Prise Tabak auf die Brust. 

Im Lazarett hatte ich wieder Glück. Ich war schon wieder auf den Beinen und hätte auf Arbeit gehen sollen. Aber während der nächsten Untersuchung rief mich der Arzt zur Seite und sagte: „Ich stelle Dir vorläufig die Diagnose, als ob du noch krank wärst, du wirst aber in der Lazarettküche arbeiten.

So verblieb ich im Lazarett bis zum Frühjahr 1943. Nachts half ich dem Koch in der Küche, tagsüber pflegte ich im Krankenzimmer die Kranken. 

Beim Gespräch mit dem Koch stellte sich heraus, dass er auch ein Deutscher aus Marxstadt war, sein Name war Sabelfeld. Als ich mich hier ein wenig eingelebt hatte, bemerkte ich, dass Sabelfeld jede Nacht für 30-40 Minuten aus der Küche verschwand. Ich fragte ihn danach, und da zwischen uns schon gute Beziehungen entstanden waren, gestand mir Sabelfeld, dass er nachts seine Familie besuchte, die, wie es sich herausstellte, unweit vom Lazarett wohnte. 

Es kam der Frühling 1943. Man konnte mich nicht mehr länger im Lazarett behalten. Ich wurde als gesund und kräftig eingestuft, das heißt als vollständig arbeitsfähig. Die Kommission, die Leute verteilte, schickte mich in das Dorf Sheschart, ASSR der Komi.“ 

IV.

Aus den Erinnerungen von Onkel Arnold:

„Im Frühjahr 1944 kam ich also ins Lager bei dem Dorf Sherschat Rayon Ust-Wymsk ASSR der Komi. Die Baracken, in denen die Trudarmisten lebten, befanden sich hinter Stacheldraht. Wir arbeiteten an der Holzfertigstellung. Zur Arbeit gingen wir frei, aber, bevor wir das Lager verließen, wurden wir gezählt, und hinein ins Lager durften wir nur dann, wenn sich alle, die das Lager verlassen hatten, sich wieder vor dem Lagertor versammelt hatten. Wir arbeiteten 12 Stunden täglich, ohne Ruhetage. In den Baracken schliefen wir auf Pritschen auf einer Ebene. Zur Beheizung gab es echte Ziegelöfen mit einer Gussplatte oben drauf zum Kochen. Im Lager von Sheschart wurden wir genauso verpflegt wie in Kotlas – nach Planerfüllung. Bei 100%iger Planerfüllung gab es 900 Gramm Schwarzbrot täglich und eine Suppe, die sich durch nichts von jener unterschied, die wir in Kotlas bekamen. Gegessen wurde schon in einem speziellen Raum – in der Speisehalle. Das Mittagessen brachte man direkt in den Wald, wo wir arbeiteten. Kleidung gab man uns keine. Jeder trug das, was er hatte. Das Fußwerk war völlig zerrissen, wir liefen fast barfuß. Jemand von den Trudarmisten dachte sich aus, Fußwerk zu nähen aus ungegerbter Pferdehaut, so genannte „Tschuni“. Wir schliefen direkt im Fußwerk, denn, wenn man die Tschuni nachtsüber auszog und auf den Fußboden legte, konnte man ohne Fußwerk bleiben, nachts hätten die Ratten diese Tschuni fortgeschleppt und aufgefressen. Und Wanzen waren da – schrecklich! Sie fraßen uns auf, und es gab keine Rettung vor ihnen.  

Im Lager von Sheschart starben die Leute schon nicht mehr in solcher Riesenanzahl wie in Kotlas. Man spürte, dass sich die Situation so langsam veränderte. Ende 1944 wurden der Stacheldraht und die Wachposten von den Baracken entfernt, wir selbst kamen unter die Macht des Kommandanten.[8] Wir lebten auch weiter in Baracken, gingen frei zur Arbeit, mussten uns aber 1 Mal im Monat beim Kommandanten melden. Ohne Erlaubnis des Kommandanten durften wir sogar das Nachbardorf nicht besuchen. Zu dieser Zeit wurde auch Kleidung herausgegeben – das erste Mal seit meiner Anwesenheit in der Trudarmee. Das waren gebrauchte Soldatenuniformen. Ich erinnere mich noch gut, dass man uns damals Halbpelze und Filzstiefel gab. Ende 1944 bekamen wir auch noch neue amerikanische Schuhe. Viele Trudarmisten vertauschten die Schuhe bei den hiesigen Einwohnern für Lebensmittel. Ich vertauschte auch meine neuen amerikanischen Schuhe für Kartoffeln.

Ich muss sagen, dass wir nichts von der Außenwelt wussten, womit das Land lebte, was an der Front geschah, wo diese Front überhaupt war. Wir lebten ganz abgeschieden. Von uns deutschen Trudarmisten wurde nur eins verlangt – arbeiten, arbeiten und noch einmal arbeiten.  Einmal erwachten wir am Morgen, es war der 9. Mai 1945, da spielte vor der Speisehalle das Blasorchester. Keiner konnte verstehen, was geschehen war. Wir mussten antreten, und man benachrichtigte uns, dass der Krieg mit Deutschland zu Ende war. Angesichts des Feiertages bekamen wir einen arbeitsfreien Tag und eine doppelte Portion Schwarzbrot. Am nächsten Tag war alles wie gewöhnlich – 900 Gramm Brot und Suppe. Viele von uns freuten sich über das Kriegsende und träumten schon davon, dass sie jetzt zu ihren Familien zurückkehren werden, und dann nach Hause, an die Wolga. Doch die Alten sagten: „Wartet, es ist noch zu früh, sich zu freuen. Man wird uns noch so 10 Jahre lang hier festhalten.“

So geschah es auch. Wir lebten unter der Macht des Kommandanten noch 10 Jahre, bis Ende 1955, als schon unter Chruschtschow die Sondersiedlungen liquidiert wurden.“

* * *

Nach dem Krieg im Jahre 1945, noch unter der Sonderkommandanturaufsicht, riefen viele Trudarmisten ihre Familien zu sich in die Ortschaften, wo sie lebten und arbeiteten. Es gab Möglichkeiten, auch neue Familien zu gründen. 1951 heiratete Arnold Petrowitsch Frau Emma Karlowna Schmidt, die zusammen mit ihrem Bruder und ihrer jüngeren Schwester im Jahre 1946 aus ihrem Verbannungsort zu ihren Eltern in die ASSR Komi gekommen war. 1952 bekamen Tante Emma und Onkel Arnold ihre Tochter Lydia.

Im März 1953 starb J.W. Stalin. Im ganzen Land begann eine Epoche von Veränderungen, doch der Beschluss „Über die Rechtslage der Sondersiedler“ war noch nicht außer Kraft. Im Frühjahr 1954 durfte endlich Onkel Arnold mit einer Sondererlaubnis des Kommandanten in den Altai fahren und nach 12 Jahren sich mit seiner Mutter und dem jüngsten Bruder treffen, die immer noch im Dorf Botschkari lebten, wohin sie 1941 mit der ganzen Familie ausgesiedelt worden waren.

Am 13. Dezember 1955 erschien der Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR  „Über die Liquidierung der Einschränkungen in der Rechtslage der Deutschen und ihrer Familienmitglieder, die sich in der Sonderaussiedlung befanden“. Der Erlass liquidierte die Sondersiedlungen, verbot aber dabei die Rückkehr der Deutschen in ihre heimatlichen Ortschaften. „Es wird unterstrichen, dass die Annulierung der Einschränkungen nicht automatisch die Rückerstattung des bei der Aussiedlung beschlagnahmten Vermögens nach sich zieht, und die Deutschen nicht berechtigt sind, in die Orte zurückzukehren, von wo sie ausgesiedelt waren.“  So lautet der Punkt 2 des Erlasses. Die Tragödie des deutschen Volkes in der UdSSR wurde fortgesetzt. 

Im März 1956, nach der Liquidierung der Sondersiedlungen, zog Onkel Arnold mit seiner Familie in die Meliorationsversuchsstation von Valujew in den Rayon Staraja Poltawka, Gebiet Wolgograd, etwas später – in die Siedlung Posewnoj, Rayon Staraja Poltawka, Gebiet Wolgograd. Seit 1967 leben Onkel Arnold und Tante Emma in der Stadt Uralsk (Republik Kasachstan).


1 Übersetzung von Johannes Herber (Deutschland).

2 Am 30. Juli 2013 Arnold Petrowitsch Baster ist gestorben.

3 Katharinenstadt (Baronsk; am 4. Juni 1919 wurde sie laut Beschluss der III. Konferenz der Räte der Wolgakolonisten in Marxstadt umbenannt; nach der Liquidierung der ASSRdWD im August 1941 ist es die Stadt Marx Gebiet Saratow. Sie wurde am 27. August 1766 von Baron Boregardt geründet. Von Mai 1919 bis Juni 1922 – administratives Zentrum der Arbeitskommune (Autonomes Gebiet) der Wolgadeutschen.)

4 Marxstadt (Katharinenstadt) wurde bedingungsweise in zwei Teile geteilt – in die Oberstadt und in die Unterstadt. Komischerweise wurde der nach der Strömung untere Teil „Oberstadt“ genannt, und der obere Teil – „Unterstadt“.

5 Das stimmt nicht, da hat sich der Onkel wahrscheinlich geirrt. Die Engelsstraße heißt auch heute noch Engelsstraße. Leninprospekt heißt heute die Hauptstraße mit der evangelischen Kirche und dem Marktplatz, die sich von der Wolga zur Steppe hinauszieht, perpendikulär zu den anderen Straßen und parallel zu den so genannten Linien.

6 Hier hat allem Anschein nach Onkel Arnold einen Fehler zugelassen. Höchstwahrscheinlich wurde die Abtransportierung über die Eisenbahnstation Pokrowsk (Engels) vollzogen. Nach den Daten der Abfahrt und der Ankunft auf die Endstation Bijsk zu urteilen, war das der Zug NR. 868, der von der Station Pokrowsk am 15. September 1941 abfuhr und wirklich am 26. September 1941 in Bijsk ankam, was völlig den Erinnerungen des Onkels entspricht.

7 „Liebe, teure Mutter! Schicke mir ein Paket.“

8 Die Rechtliche Untermauerung der Sonderansiedlungen geschah durch den Beschluss des Rates der Volkskommissare der UdSSR Nr. 35 vom 8. Januar 1945 über „Die Rechtslage der Sondersiedler“. Laut diesem Beschluss waren alle arbeitsfähigen Sondersiedler verpflichtet, „sich mit gesellschaftlich-nützlicher Tätigkeit zu beschäftigen“ und hatten kein Recht, „ohne Erlaubnis des Kommandanten der Sonderkommandantur des NKWD sich aus dem Rayon der Ansiedlung, der von dieser Kommandantur bedient wird, zu entfernen“.