Geschichte der Wolgadeutschen
Deutsche Post aus dem Osten
Herausgegeben von Adolf Eichler und Carlo von Kügelgen
Nr. 4 April 1928

Daheim.

Im ärmsten Dörflein
am Wolgastrande
da steht ganz draußen
am Dorfesrande
ein ärmlich Häuslein,
ganz schief und klein,
mit grünen Läden,
geputzt und rein.
Und vorn im Gärtlein, —
o blaues Wunder! —
ganz voller Blüten
ist der Holunder.
Und vor dem Gärtchen, —
’s ist Dämmerstunde, —
sitzt auf der Torbank,
die Pfeif’ im Munde,
ein altes Männlein,
gekrümmt, gebeugt,
und ihm zur Seite,
nach vorn geneigt,
ein altes Weiblein,
gar emsig strickend
und zu den Worten
des Greises nickend.
Gemächlich fliehen
die leisen Reden:
wie sehr ein Regen
dem Feld von Nöten . . .
Die kleinen Enkel
zu ihren Füßen,
die treiben Feldbau,
Verteilen Wiesen;
sie sä’n und ernten
und hegen Sorgen,
ob auch die Kühe
heut’ gut geborgen . . .
Der Greis beschattet
mit hohler Hand
die scharfen Augen,
Schaut weit ins Land.
„Es kommt ein Fremder
dahergegangen,
ist wohl ein Städter,
hat ein Verlangen.
Denn längst schon, merk’ ich,
sieht er uns zu;
Da kommt er näher . . .
Schau, Mutier, du!“
Da blickt das Weiblein
nach jener Seite,
Legt weg das Strickzeug,
erstrahlt vor Freude.
Sie eilt dem Fremden
behend entgegen,
will um den Nacken
die Händ’ ihm legen.
„Mein lieber Junge,
ja, bist du’s denn?!
Wie unerwartet!
und ach wie schön! . . .“
Ist das ’ne Freude!
Ein Wiedersehn,
daß alle Nachbarn
bald rundum stehn.

* * *

Das schiefe Häuschen
nebst mageren Feldern
ist meine Heimat;
dies — meine Eltern.
Doch, ach, die Lieben,
sie sind nicht mehr;
das alte Häuschen
scheint mir nun leer.
Doch ist die Stätte
mir lieb und wert: —
das Land der Kindheit,
der Väterherd.

Peter Sinner,
       Leningrad.


Deutsche Post aus dem Osten, Berlin, Nr. 4 vom April 1928, S. 77.

Dieses Gedicht erschien auch in: Wolgadeutsches Schulblatt, Pokrowsk, Nr. 2 vom Februar 1928, S. 196-197.