Geschichte der Wolgadeutschen
DER WOLGADEUTSCHE
Unabhängige Zeitung für die kulturelle und wirtschaftliche Förderung des Wolgadeutschtums
1923 Nr. 4 bis 10

Zwei Jahre Schinell.

Als Wolgadeutscher in russischem Militärdienst 1915–17.

Von G. S. Löbsack.

Vom Amte naht sich rasch ein Wagen:
er hält gerad vor unserm Haus,
und den Starosten hör’ ich sagen:
„Gebt euren Sohn zum Krieg heraus!“
                        Russisches Volkslied.


Von den Dächern tropfte es eintönig und schwer. Ein leichter Ostwind spielte im herzlichen Baumgeäst vor der Kaserne, raschelte im rotgelben Laub an den schmalen Seitenwegen längst der Hofmauer. Müde ächzend drehte sich am Dachfirst ein verrosteter Wetterhahn. Feuchtkalter Steppenherbst. Saratow 1915.

In Reih und Glied, aber noch sogar nicht militärisch, noch in der lässig freien Haltung des „Menschen in Zivil“ standen nun auch wir, die von der Einberufung bis dahin verschont geblieben einzigen Söhne, die Blaubillettler, vor dem Allgewaltigen, dem schnauzbärtigen Militärkreischef. Uns fröstelte. Wir waren nicht gewöhnt, stundenlang an kalter Luft zu warten, auf einem Fleck zu stehen, jemandem nervös entgegenzuhorchen, der uns als Zivilisten gleichgültig gewesen war. Die Strapazen des russischen Soldatenlebens jedoch wenn auch nur dunkel vorausahnend, hatten wir unsere Beine in hohe Schaftenstiefel gesteckt, Militärblusen angezogen und grüne Schildmützen aufgesetzt. Vor uns stand, in Kisten, Koffern und Rucksäcken eingepackt, das „Allernotwendigste“, Wäsche, Taschentücher, Strümpfe – immer dutzendweis –, Kämme, Bürsten, Rasierzeug, ein guter Anzug „für jeden Fall“, viele Pfund Proviant: Kreppel, Fleisch, Brot und Arbusensaft. Wir wußten ja damals nicht, daß  der Soldat ohne Ansprüche auf Körperkultur und Bequemlichkeit der beste Landesverteidiger sei, daß  für seine Nöte und Gebrechen die Vorgesetzten liebevoll sorgen, daß  er selbst aber nur Mechanismus zu sein habe.

Jemand schrie auf: „Smirno!“ Die Ehrfurcht vor dem aus der Kaserne schreienden Kreischef schien ihm durch alle Knochen gefahren zu sein. Noch einmal: „Smirno!“ Diesmal lauter, schriller, befehlerischer. Wir sollten stramm stehen und wußten doch gar nicht, wie das zu bewerkstelligen sei. Hilflos und neugierig, aber auch ein bisschen gekränkt ob dieses ungehobelten Befehls, dabei gleichzeitig unendlich viel, o, so viel vorausahnend, blickten wir vom Unteroffizier zum Kreischef, von dem zum Nachbar, von dort zu den Dachrinnen, aus denen es tropfte, eintönig und schwer.

Über den schmutzigen Kasernenhof zog eine Schaar krächzender schwarzer Vögel. Wohin? Als ich hinaufsah, donnerte der Kreischef von mir mit einer Stimme, die wie pudschwer aus einem Kanonenschlund zu poltern schien:

„Ich grüße euch, Insarzy!“

Kurz. Schneidig. Militärisch. Tausende hatte er schon so begrüßt und zu Ausbildung, zum Drill, in ferne Städte geschickt. Und auch wir waren ihm weiterhin gleichgültig. Wir hatten von ihm mindestens ein „Danke schön, Prachtkerle“ für unser endloses Warten erhofft. Nichts von dem. Der Mechanismus begann zu schnarren, zu fauchen, zu arbeiten. Schon nach einer Minute war der Chef in seiner Kalesche mit dem Apfelschimmel davor davongerollt, die Moskowskaja hinauf, in die Stadt. Zu einem Frühstück wahrscheinlich, zu einem Glase Tee, mit Rum, Gebäck, Butter. Und wir … Oh, wie oft hat uns späterhin dieses „und wir“ auf der Zunge gelegen, wie oft haben auch wir uns danach gesehnt, ohne besondere Erlaubnis, ohne Urlaubszettel, ohne Soldatenzeug frei in die Stadt gehen zu dürfen. — — —

Endlos war der Zug. Fünf und Fünf stapften wir dann an der Universität vorüber, über die ein lichtgoldener Sonnenstrahl ging, schwerbeladen trotteten wir unter einer schwarzen eisernen Brücke durch zum Güterbahnhof. Halbtot schleppten wir uns an den Kisten und Koffern, den Körben und Sacken, deren Inhalt uns auf einmal ganz und gar nicht nur das Notwendigste zu sein schien. Zweifel stiegen auf. Es hätte wohl so manches zu Hause bleiben können. Aber man kam ja aus der Steppe, hatte nie so recht Einblick in das Soldatenleben gehabt, auch von der Seite her nicht. Die aus den Städten gar wollten davon überhaupt nichts wissen, und so trugen wir nun die Last unserer Unbedachtsamkeit, Unerfahrenheit und Unvorsicht auf dem Rücken, den Schultern, in den Händen, an der Seite; in einen rohen gelben Riemen gehängt, der der Taille harte Linie geben sollen. Ich habe später so oft an jenen Auszug aus dem Land der Steppe, jener jungen, freien Stadt an der Wolga gedacht – und habe mir dann wohlweislich immer nur das wirklich Notwendigste, ja das Allernotwendigste aufgebürdet.

Jener Bahnhof, von dem aus so mancher Wolgadeutsche den letzten Blick zur Wolga hin gerichtet hat, auf dem in den letzten Jahren manch einer bittere Abschiedstränen geweint, habe ich in jenem naßkalten Herbst 1915 ein weiteres werten gelernt: nämlich die Binsenwahrheit, daß  der Ellbogen Recht hat. Uns ruhig und ordentlich in den Viehwagen einzurichten war uns befohlen worden, stürmisch und lärmend aber wurden sie erobert. Wenn einer mit dem Ellbogen nicht vorwärts kam, so stieß er den Nachbar mit seiner klotzigen Kiste zur Seite, um zuerst im Wagen zu sein, um nur ja den bequemsten Platz zu erwischen, um sich zuerst auf der schmutzigen Pritsche ausstrecken zu können. Ich muß gestehen: damals stand ich kopfschüttelnd, halb verzagt, halb verärgert da, schwieg, schwieg und schluckte, schluckte unaufhörlich. Irgend etwas schnürte mir an der Kehle. Es muß wohl ein tiefer Schmerz gewesen sein, denn auch in den Augen brannte es mir. Damals, als ich zum ersten Mal in einen Viehwagen kletterte, verblieb mir der schlechte Platz. Aber später dann, als wir durch die heiße Donsteppe und den zerklüfteten Kaukasus nach Kleinasien transportiert wurden, habe ich mich schon vorher sprungbereit gemacht; und ich lag dann oben, im „zweiten Stock“, nachdenklich und zufrieden auf einem „guten Platz“. Ich mußte lernen, ob ich wollte oder nicht, nun auch mit Steppenjungen um den Vorrang zu eifern, aber ich habe es nicht lange aushalten können: die waren mir an Stärke und Härte überlegen.

II.

Zwei Nächte und einen Tag rollten wir in unseren Viehwagen ins Ungewisse, mit Unterbrechungen an kleinen verlassenen Bahnhöfen, an belebten Eisenbahnknotenpunkten oder mitten im Feld. Aber es war nicht langweilig, wie es überhaupt dort nicht langweilig ist, wo eine russische Ziehharmonika dudelt. In jedem Wagen war eine, und von überall her erklang die Saratowskaja, jenes kurzstrophige, grotesk-sehnsüchtige Lied mit den 15, 20, 25 und mehr immer neuen und neuen Strophen. Was den Spieler bewegt, singt er hinein. Das Lied betäubt und man vergißt über der Wolgasehnsucht die Wirklichkeit. Aber ich habe mich auf jener Fahrt doch immer wieder in die Lage der Bauern gewünscht, die in der Steppe unserem Zug begegneten, ihre Pferdlein Schritt gehen ließen, um die aus 30 Viehwagen tönende Saratowskaja zu hören und uns, den äußerlich kreuzfidelen Rekruten, wehmütig-interessiert zuzuwinken. Ach, sie wußten ja so wenig von der Welt, von der Verrücktheit des Krieges, von der Nutzlosigkeit der Opfer an Menschen und Volksgut. Sie hatten keine Ahnung, wie bös es in unserer Brust stürmte. Ihnen genügte die Versicherung des Amtsvorstehers, Zar-Batjuschka habe den Krieg befohlen. „Wir sind ein ungebildetes Volk und wissen nicht, was Mütterchen Rußland von Nutzen ist.“ Wer kennt nicht dieses ergebene: My narod negramotny! Wir aber in den Viehwagen seufzten einmal um das anderemal: E–e–ch, du Schicksal, unser Schicksalchen! – Darin lag alles, was wir fühlten und wußten. Unsere Ahnung hatte helle Augen. Wir schickten uns aber in die Fügung. Nitschewo! Es ist nun einmal so, und wer weinen will, gehe ins Birkenwäldchen hinterm Dorf oder wandere kreuz und quer durch das russische Land oder lasse sich am Schwarzen Meer von der Krimsonne trösten oder er trotte durch die Tundra und verliere sich in Sibirien. Wer aber Soldat ist, lege sich auf die Pritsche in den Viehwagen oder in der Kaserne und höre, geschlossenen Auges, der Saratowskaja zu. Er wird erkennen, daß  dieses Nitschewo nicht lediglich Gleichgültigkeit, sondern daß  es eine Weltanschauung ist, deren Geburtszeit in die Jahrhunderte lange russische Leibeigenschaft fällt.

Doch: das sind Grübeleien, der wir Soldaten so leicht verfielen; von den Fronten kamen Nachrichten über schwere Niederlagen, grausige Metzeleien, fürchterliche Verwüstungen. Das beunruhigte uns täglich mehr, und die Behörde sorgte für „Zerstreuung“. Was soll ich erzählen von den Dingen, die jedem Soldaten begegnet sind? Eines sei gesagt: wir alle, Russen, Tataren, Wolgadeutsche, Kalmücken – wir alle litten unter der militärischen Rute.

Unser erstes Gethsemane war Insar, jenes wahrscheinlich kleinste, weltvergessenste, toteste Städtchen des Gouvernements Pensa. Dort wohnen Menschen und Tiere in einer Stube, dort gab es nur eine Schule, ein energischer Beamtenfuß hatte sich dorthin nie verirrt. Es liegt nicht an der Bahn, und sein Flüsschen, die Issa, ist ein Tröpfchen im Vergleich zur „Metmitz“ bei Frank. Dies Städtchen schläft winters und sommers, und die Leute darin wissen nicht, wo links und wo rechts liegt. Nicht einmal das sinnvolle Nitschewo ist dort bekannt, es sind da nur wenig echte Russen, es sind da die echten Pensjuki, Tschuwaschen, und Tataren. Das ist Insar. Da hinein kamen wir und füllten das Städtchen mit Lärm und Harmonikaspiel, kauften die kleinen Läden leer und aßen Aladi zu 3 Kopeken das Stück, was wohl ein erträglicher Preis gewesen sein mag. Unsere Kasernen, brettergelb in die ersten Schneetage hinausleuchtend, lagen auf einem Hügel, ein gut Stück Wegs hinter dem Ort. Der Mädchen, mit denen wir hätten tanzen und „spille gehe“ können, gab es nur wenige, was gar nicht „sehr“ schade war, denn wir hätten uns um diese Freude doch totgegrämt, wenn wir abends in die Kasernen zurückgetrieben wurden, vor denen ich mich sehr graulte, weil sie schon nach ein paar Tagen vor Ungeziefer strotzten.

Uns Wolgadeutschen wurde nicht nur der militärische Drill beigebracht, sondern auch das Bewusstsein, daß  alles Deutschtum – auch unseres – inmitten der Edelnationen der Entente Unflat sei. Unter 900 Russen, Tschuwaschen und Tataren waren wir 200 Wolgadeutsche. Mit Absicht hatte man uns mit anderen Nationalitäten vermengt, weil wir von Haus aus deutschfreundlich, also Verräter Rußlands seien. Wir mußten „beaufsichtigt“ werden. So recht zum Bewußtsein wurde uns dies alles zwei Monate nach Dienstbeginn gebracht.

Eines Tages hielt der zuständige Unteroffizier folgende schöne Ansprache:

„Prachtkerle! Also, wißt ihr, Zar-Batjuschka braucht neue Offiziere. Versteht ihr das? Die barbarischen Deutschen schießen immer auf unsere Offiziere. Das ist eine Schweinerei! Ohne Offiziere ist der Soldat doch ein Hammel. Stimmt das? Ich habe hier eine Liste, da sind die drauf, die in die Offiziersschule geschickt werden sollen. Iwanow, Pjotr Iwanowitsch tritt mal hervor!“

Pjotr Iwanowitsch Iwanow trat hervor.

Kuschnarjow, Arseni Mitrofanowitsch, tritt auch du mal hervor!

Auch er trat hervor, und in zehn Minuten waren es zwanzig Mann, die Offiziere werden sollten. Russen, ein Mordwine, zwei Tataren. Kein Deutscher. Dafür wurden uns besondere Worte gewidmet, die annähernd so lauteten:

„Ihr, Njemzy, werdet nicht gebraucht, weil man euch nicht übern Weg trauen kann. Das wäre noch schöner: Ihr laßt euch hier in Rußland zu Offizieren machen und flieht dann nach Deutschland. He, he, gibt es nicht! Was denkst du, du Schafskopf – der Redner näherte sich kampfbereit meinem Nebenmann –, glaubst du, ich könnte dich auch nur einmal „Euer Wohlgeboren“ nennen? Dich, he, he! Ka–n–n ich gar nicht. „Wasser holen! Meine Stiefel putzen! Die Kaserne ausfegen!“ das werde ich sagen. Und du mußt es tun. Bilde dir nur ja nichts auf deine Schulbildung ein, die hilft dir nichts. Wir brauchen keine deutsche Gewalt, und euren Wilhelm erhängen wir doch noch!“

Dies und Niederträchtigeres hatten wir bisher tagtäglich gehört, wir waren an solche Redensarten also schon gewöhnt. Aber dabei stramm stehen müssen, nicht mit der Wimper zucken, dem Kerl nichts erwidern dürfen –, in uns kocht es, Zornestränen stiegen uns in die Augen, die Hände krampften sich zusammen. Nicht Offizier sein? Gut, uns um so lieber, je dümmer ihr euch benehmt. Tausende von Russen beneideten uns um diesen Vorzug, der seinen Ursprung in der Herabsetzung hatte. Schmutzige Arbeiten verrichten? Tut nichts: damit vernichtet ihr uns nicht. Wir bleiben trotzdem sauber. Aber uns als gewissenloses Geschmeiß hinstellen, uns Eidbruch und Landesverrat zuzutrauen, so – im Bausch und Bogen –, pfui Teufel, kläglicher Pensjuk. Wo hat dein Vater denn wirtschaften gelernt? Hat er seine Weisheiten nicht von den deutschen Wolgabauern? Begreifst du nicht, daß  gerade Leute wie du uns Wolgadeutsche zur Verzweiflung treiben, daß  wir wahr und wahrhaftig an Fahnenflucht denken, weil wir euch ja doch nur Hunde sind! Sollen wir unser Leben opfern für Chauvinisten, die ihre teuflische Freude daran haben, wenn sie die Fremdstämmigen recht ergiebig wer bespeien dürfen? Wenn einer von uns eidbrüchig wird, so seid ihr, du und deinesgleichen, schuld daran. Soll ich für einen Großfürsten verbluten, der die Meinigen daheim von Haus und Hof jagd, sie beraubt und zu Bettlern und Geächteten macht?

Von uns, d. h. aus unserem Truppenteil, ist kein Wolgadeutscher eidbrüchig geworden, die ganzen zwei Jahre lang nicht, obwohl wir das Dasein geschlagener Hunde führten.

Dem russischen Volke, dem sonst immer verlachten und dumm geheißenen Muschik, sei erst zu Ehre angerechnet: dies Volk war weiser als die Herren droben und ihre Diener unten, einen Deutschenhaß hat es nicht gekannt. Unter tausend Soldaten ist mir kaum einer aufgestoßen, der uns Wolgadeutsche nicht wie sich selbst geachtet hätte. Keiner von ihnen hat uns verlacht und verhöhnt. Ja, wenn wir schmutztriefend die ekelsten Arbeiten verrichteten, so sahen sie uns voller Mitleid an, und aus ihren Augen sprach ein Verstehen, wie es einem Chauvinisten nicht gegeben ist. Sollten wir ihn, den Muschik, dafür nicht liebhaben, sollten wir uns ihm nicht anschließen, nicht seine Nöte und Gebrechen, seine Unzulänglichkeiten und Vorzüge nicht ebenso verstehen?

Wenn wir zusammen saßen, spät abends in der Kaserne, und Tee tranken oder der natürlichen aller russischen Soldatenbeschäftigungen, der Jagd auf Ungeziefer, nachgingen, so waren wir gute Kameraden. Mit dem großen und weisen Nitschewo! fanden wir uns in die Lage und plauderten herzinnig von Leid und Freud eines russischen Untertans.

Heda, Iwanuschka, los – die Saratowskaja!

III.

Das größte Vertrauen, daß  man uns in Insar entgegenbrachte, war, daß  wir auch als Wachposten verwandt wurden. Jedoch nicht überall. Den leichteren Dienst im Städtchen selbst – vor der Regimentskanzlei, der Wohnung des kommandierenden Obersten, an den Proviant- und Munitionsmagazinen – diesen Dienst versahen die anderen. Wir aber standen weg draußen im Feld, auf einem der vielen Hügel, vor einem „Pulverkeller“, über den sich ein verwittertes Steinhäuschen ohne Fenster und mit einer Tür aus grünem Eisenblech erhob. In bitterkalten einsamen Nächten, umheult von winterlichen russischen Steppenwinden, bewachten wir abwechselnd den „Keller“, der nie aufgeschlossen wurde, vermutlich, weil er leer war. Es mag wohl sein, daß  wir auf solche Weise auch im Posten stehen Übung erhalten sollten, bestimmt aber mißgönnte man uns die Ruhe. Und da wir auch sonstige Arbeiten zu verrichten hatten – wir schaufelten Schnee, wo es unnütz war, wir schleppten schwere Lasten, wuschen in den schmutzigen Küchen Kessel und Tonnen aus, hackten Holz, heizten die Backöfen, reinigten Ställe und Latrinen –, da wir also auch sonstige Arbeiten zu verrichten hatten, so kannten wir keine Langeweile. Wir wurden als Menschen betrachtet, die – obwohl ihnen das Schandmal schwerer Verbrechen anhaftete – in geheiligter Mitte nur deshalb geduldet wurden, weil sie nun einmal da sind und man sie nur schlecht unbemerkt aus der Welt schaffen kann. Zu unserer körperlichen Zerriebenheit und Müdigkeit, die uns allabendlich bleichschwer aufs Lager warfen, gesellte sich die seelische Depression: das Gefühl, verachtet, verspottet, verlacht und verstoßen zu sein, marterte uns mehr als die Lastarbeit des Tages. Heute darf man es wohl sagen: Es hat meine Kameraden, denen ich nähergetreten war, und mich heftige innere Kämpfe gekostet, nicht aufrührerisch zu werden, in uns nicht den Gedanken groß werden zu lassen, Verrat an dem Lande zu üben, das  wir aus tiefstem Herzensgrund liebten, dessen geknechtetes Volk täglich tiefer in sklavische Abhängigkeit gestoßen wurde, dem wir unseren Eid geleistet, dem wir als Staatsbürger Diener sein wollten. Von heimtückischen Chauvinisten gehetzt, von brutalen Vorgesetzten geschlagen, von Soldaten und Volk bemitleidet – so standen wir oftmals ratlos da und preßten in tiefem Gram die Lippen aufeinander. Unser Kelch floß über. Wenn wir in zerlumpten nassen Pelzen, die im Eiswind schon nach wenigen Minuten wie rohe Häute erstarrten, aus der Hütte im Feld, in der wir uns wärmten, zum Pulverkeller gingen, begannen die Gedankenarbeit und die Bitternis in uns sich zu steigern. Entrechtete „Untertanen“, zum Hohn mit unbrauchbaren Gewehren vor leere Keller postiert, verachtete Deutsche, denen tausendmal mehr Pflichten aufgebürdet wurden als anderen – nein, Rußland als solches haben wir nicht hassen gelernt, um so mehr aber diejenigen, die uns zur Verzweiflung trieben. In solchen Nächten sind wir national wacher geworden, sind tiefinnerlich zu Deutschen herangereift, deren jeder Blutstropfen für das Deutschtum heiß lebte. Und nicht nur für das Deutschtum, auch für das geschlagene russische „graue Tier“, das Volk, dessen jedes Glied Märtyrer ist. Wir haben in jenen Tagen mit brennenden Augen in den Abgrund des Leidens geblickt, in dem sich das Volk in höllischen Schmerzen wand. Wir haben die russische Volksseele, haben die vielen seltsamen Gestalten aus Dostojewski, Ostrowski, Gorki, Andrejew, auch Turgenew, Tolstoi u. a. verstehen gelernt. Wir haben verstanden, warum alles, was Rußland in sich birgt, sich immer wie aus tiefstem Leid und heißer Sehnsucht geboren, anschaut, darbietet, warum es so empfunden und verstanden sein will. Was wunder, wenn wir revolutionär zu empfinden begannen, wenn sich das Verlangen nach Gerechtigkeit und nach Vergeltung in uns hoch und höher auftürmte!

Damals hatte die russisch-türkische Front im Kaukasus viel von sich reden gemacht. Es mußten Verstärkungen hinunter, und eines Tages erfuhren wir, daß  auch wir „übers Meer“ sollten. Unser Truppenteil sollte aber vor der Abfahrt nach Batum erst noch umgestaltet werden. Wiederum mit Sang und Klang, diesmal jedoch innerlicher, weniger schreiend, zogen wir aus dem dumpfen verschlafenen Städtchen. Zogen in eine richtige Gouvernementsstadt, nach Pensa. Es ist dies ja kein überwältigend großer Ort, aber unsere Vorgesetzten suchten lange, lange nach den Kasernen, wo wir untergebracht werden sollten. Nicht, weil sie nicht da gewesen wären, sondern weil die Instruktionen wohl wieder einmal über Nacht geändert worden waren. Ich weiß nur noch das: wir marschierten zuerst in entgegengesetzter Richtung vom Bahnhof durch die Stadt, machten plötzlich, schon ganz außerhalb, Halt, schleppten uns dann todmüde in anderer Richtung weiter und landeten schließlich wieder in der Nähe des Bahnhofs vor einem dreistöckigen Hause, das früher einmal wohl ein Hotel gewesen ist. Bis tief in die Nacht hinein warteten wir auf der Straße: ein anderer Truppenteil war gerade mit dem Auszug beschäftigt. Als wir Zimmer belegen durften, warfen wir uns hungrig und müde auf die schmutzigen Pritschen, und erst am nächsten Morgen begann das Großreinemachen, zu dem die Deutschen wieder als Haupt und Staatsgäule angespannt wurden.

IV.

Die Übersiedlung nach Pensa brachte uns dem Frontleben geistig merklich näher. Hatten wir bislang vieles nur vorausgeahnt, hier wurde uns der Krieg fast greifbar vor Augen geführt. Hauptsächlich zuerst einmal in seiner Rückwirkung auf das Innere des Landes. In Insar hatten wir, für uns fast unbemerkbar, mit militärischem Auge sehen gelernt. Nun wußten wir auf einmal nicht nur, aus wieviel und welchen Teilen ein Gewehr besteht, daß  ein General „wo front“ zu begrüßen sei, daß  als nächster Vorgesetzter des Soldaten der „Jefreitor“ zu würdigen sei, nein, wir wurden nun auch vom Geist des Krieges berührt. Daß dieser Geist negativ wirkte, war nach den bisherigen Erfahrungen nicht verwunderlich. In Pensa haben wir dazu nicht nur verstümmelte Soldaten und immer neue Truppenabfertigungen, sondern wir wurden auch durch die andauernde Haft, durch die Ungewissheit, wohin und wann wir abgefertigt werden, durch die Langeweile, die sich aus dem endlosen Warten ergab, geradezu nervös. Uns übermannte eine fieberhafte Sucht nach Neuem, das soeben Gesehene und Gehörte wirkte schon nach einer Stunde nicht mehr. Eindrucksvolleres mußte kommen. Wir verlangten danach und schalteten nicht selten den eigenen Willen aus, wir ließen uns gehen. Wie teuer uns das im weiteren Verlauf der Kriegsjahre zu stehen kam, sehe ich heute. Nerven waren uns Jungen unbekannt. Seit 1915 aber sind wir auch auf sie aufmerksam geworden. Durch alle die erschütternden und herzbeklemmenden Erfahrungen durchgerüttelt und geschüttelt wünsche ich heute, ich hätte der Mahnung mehr gehorcht, die meine Mutter mir mit auf den Weg gab, als ich ins Leben trat: „Man muß nicht alles miterleben, nicht alles verstehen, nicht alles in sich aufnehmen wollen. Das Dunkel des Lebens kommt von selbst zu dir, und wenn du irgendwie kannst, schließe zuweilen die Augen und lasse dir größten und schwersten Stürme an dir vorüber ziehen. Sie werden dich schon ganz ohne dein Zutun erfassen und lähmen!“ Aber ich habe das nicht glauben wollen, und nur nach und nach komme ich davon ab, alle Wege zugleich kennen zu wollen, alles, alles verstehen, begreifen, empfinden, durchkosten zu wollen. Daß jeweilig nur ein Weg der richtige ist, daß  das Leben durchkämpft werden will, daß  man im Leben nur mehr lernen als leisten kann und daß  das Leben in dir den Mann fordert, das erkennt heute erst der Mann. Der Junge stürzte sich „tollkühn in die Fluten“.

Etwas Besonderes ist uns in Pensa nicht ausgestoßen, sehe ich von der ersten Lohnzahlung und den vielen Spaziergängen auf dem am Stadtende gelegenen großen Friedhof ab. Es war ja sehr naiv, aber wir freuten uns aufrichtig und von ganzem Herzen, als wir den ersten Monatslohn – 17 Kopeken – erhielten. Das mitgebrachte Geld war natürlich sehr bald verausgabt worden, da wir uns für alle Plagen und Entbehrungen entschädigen wollten. Neue Geldsendungen von zu Hause ließen oft lange auf sich warten – was zum Teil nicht ohne erzieherische Bedeutung war –, so daß  wir die Kopeken mit Vergnügen einsteckten und auch wieder verausgabten. Später wurde unser Gehalt erhöht, und ich entsinne mich, wie stolz ich war, als ich an der Front, schon in Trapezunt – an der kleinasiatischen Schwarzmeerküste – ganze 1 Rbl. 18 Kop. ausbezahlt bekam. Dieser hohe Lohn wurde mir als Kanzleischreiber gewährt, in welcher Stellung ich es bis zum Rang eines jüngeren Unteroffiziers mit dem schönen großen Titel „jüngerer Schreiber höchster Charge niedrigster Gehaltstufe“ gebracht habe. Höher ist kein wolgadeutscher Kanzlist aus meiner Umgebung gestiegen – zwei Achselbändchen! –, ausgenommen einer meiner Freude, der zum „Außerordentlichen Beamten der Kriegszeit“ befördert wurde, goldene Achselstücke trug und 8 Rbl. Monatslohn erhielt. Oh, jene selige, reiche Zeit! Was haben wir uns in Pensa für 17 Kopeken kaufen können! Wir haben Zigaretten zu 3 Kopeken 10 Stück geraucht, „französische Brötchen“ gegessen und immer viel Tee getrunken. Doch auch andere Erlebnisse haben unsere Pensaer Zeit geschmückt, als da sind: Theater- und Kinobesuche, abendliche Spaziergänge nicht später als bis 9 Uhr und nicht ohne besondere Erlaubnis! mit holden Pensaerinnen und einigemal sogar mit einer Nonne aus dem Frauenkloster, das neben dem Friedhof gemütvoll in die Welt träumte. Ich glaube, die Weite des russischen Reiches hat es mit sich gebracht, daß  sich unser Militärdienst nicht ganz ohne Poesie und Romantik abwickelte. Der große schöne Friedhof in Pensa mit seinen vielen jungen zarten Birken und den schmucken weißleuchtenden Denkmälern, die endlose sommerliche Donsteppe mit den Menschen aus Knochen, Eisen, Milch und Blut, der zerklüftete wilde Kaukasus mit seinen unzähligen Völkerschaften, seinen wunderbaren Naturschönheiten, seinen sittigen und doch so sinnlichen glutäugigen Tamar Gestalten, das tropische Batum, das  kalkweiße Trapezunt, wie ein Vogelnest an den Bergen hängend, der griechische Friedhof dort mit den alten raunenden Zypressen, die weiche Aquarellstimmung des ganzen südlichen Schwarzen Meers, alles das und vieles Schöne mehr gehört ebenso zu unserer Militärzeit wie die Abschiede, die Paraden, die Erniedrigungen und die Tränen.

Eines Tages fingen die Ziehharmonika wieder an, öfter und bewegter zu spielen, eindringlich, kreischend. Es ging zum dritten Abschiednehmen. Man hatte uns Wolgadeutsche, die wir ja für den Kampf mit dem Gewehr in der Hand nicht taugten, in eine Arbeiter Drushina gesteckt. Auf je 5 oder 6 Wolgadeutsche kam ein Russe, dieser mit einem Schießgewehr bewaffnet, wir mit Spaten, Beil und Säge. Wir waren Arbeiter-Soldaten geworden und wenn unsere russischen Soldaten-Kameraden uns nicht als ihresgleichen betrachtet hätten, so wäre uns wohl die Luft ausgekommen, uns mit sibirischen Gefangenen die zur Arbeit transportiert werden, zu vergleichen. So aber durften wir allerdings nicht zu laut deutsch sprechen, und die Gläubigen unter uns durften auch deutsche Kirchenlieder singen und verstohlen in ihrem Testamentlein lesen. Die „Verladung“ geschah an einem jener linden, leuchtenden Frühlingsabende, die uns von der Wolga her vertraut sind, Abende, an denen in den Gräbern der letzte Schnee taut, an denen die Sonne blutrot über die goldenen Kirchenkuppeln und die jungen aufgrünenden Felder streicht. Auf den roten Frachtwagen der Eisenbahn stand mit weißen Buchstaben, wieviel Pferde und wieviel Menschen in jedem Wagen Raum haben. Die Teekessel, die für gewöhnlich links am Ledergürtel hingen, fühlten wir noch einmal mit „Kipjatok“ und, nachdem wir alle noch einmal nach der Namensliste aufgerufen worden waren, setzte sich der schier endlose Zug in Bewegung. Einige Stunden später folgte uns dann der zweite Teil unseres Bataillons. In die hernieder steigende Frühlingsnacht drang das Spielen der Ziehharmonika, das Klingen der kleinen Glöcklein daran, eintönig, gleichmäßig. Hunderte von Kehlen sangen die 20, und 25 Verse der Saratowskaja. Auf den kleinen Bahnhöfen bei den kleinen russischen Dörfchen mit den zerfetzten dunklen Strohdächern standen die Dorfmädchen im schönsten Kleiderstaat, knackten „Semjatschki“ und winkten uns mit weißen Taschentüchern zu. Und fern draußen im Feld leuchteten die Lagerfeuer der ersten Pflüger. Tief seufzend legten wir uns auf die harten Pritschen, zogen den grauen Schinell übers Ohr und suchten im Schlaf Vergessen.

V.

Unsere Fahrt an die russisch-türkische Front ging durch die Donsteppen und den Kaukasus. Aus endlosen Flächen zogen wir mit Sang und Klang ins Gebirge, dessen Schönheiten noch immer zu wenig gewürdigt werden. In vollen Zügen genossen wir die romantische Pracht der hohen zerklüfteten Berge, des schneebedeckten stolzen Elbrus, der landschaftlich selten schönen und reizvollen Gebirgstäler. In Baku, der schwarzen Stadt, hatten wir Gelegenheit, die berühmten Naphtha– und Petroleumanlagen zu besichtigen, und dann folgten, auf der Fahrt über Tiflis nach Batum am Schwarzen Meer, die Aule, Dörfchen und Städte der vielen verschiedenen Völkerschaften des Kaukasus. Irgendwo noch vor Tiflis hatten wir an einer Eisenbahnstation, bei der ein deutsches Dorf liegt, einen kleinen Aufenthalt und tranken hier flaschenweis den köstlichen deutsch-kaukasischen Wein. Auch sonst kam uns der Weinbau der Gebirgsvölker zugute, obwohl ja damals schon das Alkoholverbot bestand. Mitunter fuhr ein Armenier oder ein Tscherkesse eine Strecke Wegs mit uns in den Viehwagen, nachdem der Abteilungschef eine kleine „Unterstützung“ erhalten hatte. Diese Gäste trugen stets Schläuche mit Wein bei sich, und so fangen und tranken wir uns durch den Kaukasus mit seinen so überaus köstlichen Perlen von Frauen und Mädchen. Deren gibt es nun im Kaukasus viel und in vollendeter Schönheit.

Von Batum waren wir nicht gerade erbaut. Es ist zwar ein bedeutender Handelsplatz mit einem wichtigen Hafen – aber der Schmutz in der Stadt selbst verdarb uns viel. Zudem sahen wir hier zum erstenmal im Hafen russische Kriegsschiffe vor Anker liegen, mußten uns die rauhen Seewinde um die Ohren pfeifen lassen, sahen die Zerstörungen im Hafen und am Bahnhof, die von den Bombardements der geheimnisvollen deutsch-türkischen Kriegsschiffe „Goeben“ und „Breslau“ herrührten. Beide trieben damals im Verein mit den türkischen Unterseebooten auf dem Schwarzen Meer ihr Wesen. Ich entsinne mich noch sehr genau eines braunen dunkeläugigen Bergknaben, der die Bombardements selbst miterlebt hatte und uns nun als kleiner, aber sehr geweckter Augenzeuge die Vorgänge in gebrochenem Russisch lebhaft schilderte. Kurz vor unserer Ankunft hatte außerdem ein türkisches Unterseeboot zwischen Batum und Trapezunt, unserem Bestimmungsorte, ein russisches Lazarettschiff in den Grund gebohrt. In den Zeitungen war darüber großes Geschrei erhoben worden, und die Schlagwörter von der deutschen Barbarei zierten die Schilderungen in den Zeitungen. Sowohl dieser Zeuge wie auch die Matrosen auf den Schiffen, die uns nach einigen Tagen nach Trapezunt brachten, behaupteten jedoch fest, das Lazarettschiff habe Kähne mit Munition im Schlepptau gehabt.

Unsere freien Stunden in Batum verbrachten wir im Botanischen Garten am Ufer des Meeres, der ein Kunstwerk von überwältigender Schönheit darstellt. Staunend betrachteten wir die vielen exotischen Bäume und Pflanzen, unter denen sich auch einige befanden, die von der Zarenfamilie gelegentlich ihrer Besuche in Batum gepflanzt worden waren. Doch – schon hier verspürten wir die ersten Einwirkungen der Malaria, die in Trapezunt besonders stark wütete und wir späterhin so manchen guten Kameraden von der Seite riß.

An einem Abend im April oder Mai 1916 schifften wir uns nach Trapezunt ein. Rotgoldene Sonnenstrahlen spielten auf der Meeresoberfläche, die Wellen schlugen plätschernd an den Hafendamm, und der schwarze Rauch aus den Schornsteinen der Kriegsschiffe lagerte sich nachdenklich über das Hafenbild. Wir erhielten auf alten Frachtdampfern Platz und mußten uns ganz und gänzlich nach den Vorschriften des Kapitäns richten. Als wir glücklich an den Minenketten vor dem Hafen vorbei waren wurde uns jedes laute Gespräch, jedes Singen, wurde uns sogar das Rauchen verboten. Jedem Verbot folgte die Begründung: Feindliche Unterseeboote könnten auf unsere Schiffe aufmerksam werden. So jauchzend wir durch den Kaukasus gerollt waren, so bange verlebten wir jene Nacht der ersten Überfahrt Batum–Trapezunt. Später, als wir auf Urlaub gingen oder diensthalber nach Batum oder Tiflis fuhren, gewöhnten wir uns an den Gedanken: Jetzt, jetzt erscheint ein Unterseeboot. Damals jedoch ist mir klar geworden, wie es möglich ist, daß Leute Gespenster sehen. Auch wir haben Gespenster gesehen, jedoch in der Form von Teleskopen, Unterseebooten, Torpedos usw. Einmal gar, so gegen 2 Uhr in der Nacht, schickten wir uns allen Ernstes an, unseren Geist aufzugeben. Ich stand mit einigen Kameraden auf Deck und sah in die schwarze, schäumende, mondscheinzerrissene Meeresnacht hinaus. Plötzlich – plötzlich – zwei leuchtenden, glühende Gegenstände steuern schnurstracks auf unser Schiff zu! Wir dachten nur eines: „Jetzt sind auch wir an der Reihe!“ Aber es kam anders; zu unserem großen Vergnügen waren das Delphine, die später in ganzen Schwärmen unser Schiff bis vor Trapezunt begleiteten und uns durch ihr Tummeln im Wasser, durch ihr Hüpfen und Fliegen durch die Luft große Freude machten. Mondlicht durchleutete die von den Fischen ausgestoßenen Wasserstrahlen, und als wir am nächsten Morgen im ersten Tagesgrau das weiße, kurz vorher von der russischen Armee besetzte Trapezunt vor uns an den Bergen hängen sahen, waren wir um einige Erfahrungen reicher.

Aber ich habe von einem zu berichten vergessen, von einem Vorkommnis in der Nacht, das mir nie aus dem Gedächtnis schwinden wird.

Wir, die Wolgadeutschen, hatten, um uns über die bangen Stunden der nächtlichen gefahrvollen Überfahrt hinwegzufingen, nachts ein deutsches Volkslied angestimmt. Eigentlich fangen wir nicht – es waren unserer 6 oder 7 Mann – , sondern brummten das Lied leise vor uns hin. Das Rauschen der Wellen übertönte uns, aber wir hatten das Unglück, in nächster Nähe der Kommandobrücke zu sitzen. Da stand auf einmal der Kapitän in dunkler Figur vor uns und befahl uns barsch, das Singen einzustellen. Freilich, wir gaben zu, uns vergessen zu haben, sprangen wie von der Tarantel gestochen auf, erwiesen ihm die Honneurs, aber er war nicht zufrieden. Stramm stehend, mußten wir eine Flut schmutziger Schimpfwörter über uns ergehen lassen, die in holperiger Reihenfolge von Besudelungen des Deutschtums abgelöst wurden. Wir seien deutsche Hunde, die so gemein wären, den Untergang der Schiffe herbeizuwünschen, auch wenn die deutschen Torpedos uns selbst in den Grund bohrten. Wir (die so und so) sollten nicht glauben, daß er, der treue Diener des Zaren, unsere verräterischen Lieder ruhig mitanhören könne. Es sei ihm gar keine, nein, gar keine Ehre, uns Pack nach Trapezunt zu bringen. Man könne uns (den so und so) nicht über den Weg trauen, Verräter Nikolais, Lakaien Wilhelms seien wir, sonst nichts. Schert euch!

Hatten wir vor dieser Beschimpfung aus gut egoistischen Gründen für das Schiff gebangt, jetzt wäre es uns einerlei gewesen, auch wenn das Schiff mit Mann und Maus in den Grund gebohrt wäre, und wir mit.

VI.

Nun waren wir im fremden Türkenlande. In den 15 Monaten unseres Aufenthaltes in seinen Bergen und Schluchten, in seinen Dörfchen und Städten hat das kalte Gefühl der Fremdheit nicht verlassen. Schon gleich nach unserer Landung in Trapezunt, noch am selben Vormittag, suchten unsere Blicke das Meer nach Richtung ab, wo Saratow liegt. Die Gedanken krochen gewiß nicht sehr heiter die Wege und Bahngleise zurück, die wir gefahren waren. Aber als wir durch die steilen Straßen hinauf in die Stadt kamen, verloren wir uns an die Reize und Farben des neuen Lebens da.

Mit der türkischen Armee war auch die Mehrzahl der Einwohner türkischer Herkunft geflüchtet. Nur alte Frauen und Kinder waren zu sehen, auf den Landstraße trieben hie und da noch wankende Greise ihre Maulesel, die ihnen die Lasten trugen. Die Häuschen mit ihren flachen Dächern standen leer, nur ein undurchdringlicher Schmutz starrte einem entgegen. Den Handel mit Tabak, Apfelsinen, Nüssen, mit türkischer Schnittware und griechischem Krimskrams betrieben in den Bazars die Griechen. Mit Verachtung blickten sie nun, nachdem ihre Glaubens und Kampfgenossen, Russen, die Stadt besetzt hatten, auf den türkischen Nachbar Ismail. Nun waren sie die Günstlinge der Herrschenden. Die wenigen zurückgebliebenen Türken schwiegen, strichen ihre Bärte und trugen uns Wolgadeutschen, nachdem wir ihnen erzählt hatten, daß wir deutschen Stammes seien, die Milch in Töpfen zu. Sie betrachteten uns als ihre Freunde und  nannten uns heimlich voller Anhänglichkeit an das Deutsche Kardasch. So flossen im Weltkrieg die Sympathien der Volksstämme durch- und zueinander, trotz Schützengräben und Bündnisse, kreuzten sich über Kriegsgesetze und Kugelregen hinweg. Ein alter arauer Türke ist mir noch gut in Erinnerung, wir nannten ihn Kardasch Degermenderski, weil er im sonnigen Tal des Degermen-Dere, von wo der Wind warm und liebkosend auf das Schwarze Meer hinausstreicht, seinen Apfelsinenhain hatte. Mein Freund, ein junger russischer Maler – Wanja hieß er wie so viele – und ich waren bei dem Alten oft zu Gast. Und wenn wir unsere wenigen Brocken Türkisch mit ihm gegen ein paar russische Wörter – er hatte in Friedenszeiten Handel mit Batum getrieben – ausgetauscht hatten, so lagen wir schweigsam im Gras vor seinem kleinen einsamen Häuschen und träumten in den blauen südlichen Himmel. Ob der Alte noch lebt?

Gewiß, wir hatten da viel Zeit. Es dauerte eine Reihe von Tagen, ehe wir im Gebirge, wo wir Wege bauten, Schützengräben machten, Felsen sprengten, unsere grünen Zelte aufschlugen. Unsere Hände hatten dort bald Schwielen und Blasen und schon nach einigen Stunden Arbeit spürten wir unsere Glieder nicht mehr. Wie wenn wir in ihren Strahlen dörren sollten, so stach uns die Sonne. Der Schweiß klebte uns in den Kleidern, jeder Luftzug war uns Wohltat. Dort oben brachen die ersten unter uns an der Malaria, diesem zehrenden hartnäckigen Fieber, zusammen. Einen nach dem anderen haben wir dann die Monate hindurch in die Lazarette abgeliefert, einen nach dem anderen legten wir ins Grab. Mich hat es erst später gepackt, im August, als ich schon wieder in der Stadt war als „jüngerer Schreiber höchster Charge niedrigster Gehaltsstufe“. Übrigens lebten wir in ermüdender Eintönigkeit. Einmal nur beobachteten wir von unserem erhöhten Berglager aus eine Beschießung durch russische Kriegsschiffe der ans Meer grenzenden türkischen Schützengräben, die sich, von uns aus nach Westen gesehen, über den benachbarten Bergrücken hinzogen. Die Beschießung hatte die Besetzung der türkischen Position zur Folge und von da ab hörten wir jeweilig nur immer noch den Geschützdonner in den Bergen und sahen in den Talwegen tief unter uns Sanitätswagen, übervoll von Verwundeten, dem fünf Werst entfernten Trapezunt zuschwanken. Dann hatte in den Bergen nur immer unser Hammerschlag wider, verlor sich das Knallen unserer Sprengpatronen weithin in bollerndem Echo.

Es ist in den  Bergen jenes Land viel russisches Blut geflossen und auch – rußlanddeutsches. Die Geschichte wird darüber einmal mehr zu sagen wissen. Die Jahre nachdem, die ein Unglück über das andere brachten, haben jene Tage wie vergessen gemacht. Aber soll es ungeschrieben bleiben, daß viele Tausende von rußlanddeutschen Kolonistensöhnen vor den Felden und Mauern der Türkenfestung Erserum dem türkischen Kugelregen frei ausgesetzt waren? Nikolai Nikolajewitsch, der russische Großfürst und damalige Hauptkommandierende der russisch-türkischen Front, hatte so die „junge deutsche Brut“ in seinem Heer vernichten wollen. Immer wieder wurden rußlanddeutsche Soldaten auf die gefährlichsten Positionen vorgeschoben, wurden fast mit leerer Hand gegen die Felsen und Mauern, von denen das vernichtende türkische Feuer herabflammte, vorgetrieben. Als die Reihen sich lichteten, als die Türken – durch einen anderen Vorstoß dazu gezwungen – Erserum räumten, da hatte Nikolai Nikolajewitsch auch seinen Blutdurst gestillt: an den türkischen Felsen klebte die Gehirnmasse unserer Brüder, über die Steine waren rußlanddeutsche Blutströme gegangen und Tausende Leiber verwesten in der tropischen Sonne, zerhackt und angefressen von Raubvogeln und Hyänen. In derselben Zeit wurden daheim Väter und Mütter dieser mit Höllenhaß in den Tod gejagten Märtyrer des Chauvinismus von Haus und Hof getrieben, zogen verarmt und hungrig durch die russischen Ebenen und weinten über ihre Vernichtung und Verlassenheit. Wie mit den Spitzen der stumpfkantigen russischen Bajonette, die unsere Fronarbeit in den Bergen überwachten, ritzen wir in unsere Herzen ein: Das vergessen wir nicht! Nicht ihm, dem geknechteten russischen Volk brauchten wir das zu vergessen – es war ja selbst in keiner besseren Lage –, aber denen galt unser Zähneknirschen, die sich an der Qual ihrer Sklaven weideten.

Einmal hatte ein Türke einigen Kameraden und mir ein Tässchen Wein zugestellt, heimlich, am Abend, als ich vom Wachedienst am Telefon abgelöst wurde. Was hinderte uns am Schlecken? Die Lust des Dienstes nicht, und so kamen wir ins Zechen. Im Zelt des Feldwebels, der uns um eines guten Bissens willen, den wir ihm ab und zu aus unseren Paketen von der Mutter verabfolgten, zwischendurch auch mal gnädig anlächelte – in seinem Schalasch klangen die Becher, wurde geschmaust und – „dischkeriert“. Es war damals im Heer schon etwas windig geworden – aus dem Innern Rußlands brachten Briefe keine guten Nachrichten. Es flackerte hie und da. Und so – wie allzeit bei so Dingen und Tropfen –: unsere Jungen lösten sich. Es sei zuvor gesagt, daß unser Schnauzbart, der Feldwebel, zwar ein bissiger Mensch, jedoch ein gläubiger Patriot war, dessen russisches Herz – wenn’s sein mußte – auf dem rechten Fleck konnte. Als die Sterne funkelten, deuchte mich von ungefähr, er schelte Deutschland, das sogar die kulturlosen Türken (!) zum Krieg „verführt“ (!) habe, ein wenig übers Maß und ich fühlte somit in mir den unwiderstehlichen Drang, für die Deutschen eine Lanze zu brechen. Ich hatte schon ein gut Glück Weges weinselig geredet – als sich der Schnauzbart plötzlich wie er nüchtert erhob und im Dunkel der Nacht verschwand. Dann kam der Bursche des Rottenkommandeurs und sagte, Wohl geboren wünsche uns eine baldige gute Nacht. Am nächsten Tage wurde mir im Zelt des Kommandeurs – zu meiner einzigen Verwunderung äußerst korrekt – eröffnet, ich sei zum Stab des Chefs der Trapezunter Befestigungen als Kanzlist abkommandiert. Der eigentliche Grund der Mildheit dieser Strafe – das sollte die Versetzung für meine „Rede“ zweifellos sein – ist mir bis heute noch nicht klar. Als Soldat war man anderes gewohnt. In der darauffolgenden Nacht schlief ich in der Villa der Stabskanzlisten.

Ich sage Villa und meine es ernst. Es war ein vornehmes Beamtenhäuschen mit Mauern umgeben. Damals war zum Chef des Trapezunter Befestigungsrayons schon Generalmajor Schwarz, der Erbauer der berühmten Befestigungen am Iwangorod, ernannt. Wegen einiger unbedeutender Differenzen – ich glaube mit dem Zaren selbst hatte man ihn der kaukasischen Armee zugeteilt. Eine Leutseligkeit zu den Untergebenen, seine liebevolle Nachsicht mit den Soldaten und die Kunst seines Festungsbaues hatten ihm die grenzenlose Liebe und Ergebenheit der ganzen, nun schon großen Garnison eingebracht. Seiner nächsten Umgebung war er Vater, seine Gattin – eine geborene Reuß – war ihm in Dingen, wo sein Herz sprach, getreuer Adjutant. Ich habe von dem Tage meines Eintritts in die Stabskanzlei an nie mehr ein Wörtchen gegen das Deutschtum gehört, auch ihm – dem deutschen Schwarzmeerkolonisten – galt kein Vorwurf. Seine Gattin war von den Offizieren des Stabs und uns, dem Kanzleipersonal, vergöttert. Am Morgen sahen wir sie im Garten des prunkvoller Stabsgebäudes – in dem vorher ein hoher türkischer Beamter gelebt hatte – taubenetzte Rosen pflücken und einmal im Monat stattete uns der jüngere Stabsadjutant in unserer gegenüberliegenden Villa einen Besuch ab. Wie wir leben, wie unser Essen sei, wie es den Eltern zu Hause gehe, ob unsere Betten auch nicht zu hart seien – das fragte er uns, die Soldaten. Wir wußten, er kam im Auftrage der Gattin des Generalmajors. Uns mangelte nichts und die Urlaubsfahrten nach Moskau, Tiflis, Petersburg, Saratow und in anderen Heimatstädte waren mit Einverständnis aller geregelt. Wir waren überdies in unseren Ansprüchen bescheiden – auch der General lebte ja als Festungschef ruhig und genügsam – und hatten nur einmal eine Klage: seit zwei-drei Tagen schwammen in unserer Tischsuppe Würmer. Zwar totgekocht und dem hörnernen Soldatenmagen folglich unschädlich – aber es war doch ein wenig unappetitlich. Am Tage zuvor gar hatte unsere zwölfköpfige Kanzlistengemeinde abstimmen müssen – ob wir heute genügend Hunger hätten, um die Suppe trotzdem zu bewältigen. Die Frage wurde abgelehnt, den Tischfässern das Mißtrauen ausgesprochen. Der Adjutant kam, sah – und unser Koch erhielt einige Tage lang frisches Fleisch, bis aus Batum neue Konserven eingetroffen waren. Wir mußten dem General und seiner Gattin tiefen Dank. Als 1917 die revolutionären Soldatenräte der Front sich nach dem „Benehmen“ der Vorgesetzen und auch des Generals erkundigten, wußten wir von ihm nur Gutes zu sagen. Wir hatten keinen Soldatenrat gewählt und brauchten ja auch keinen. Für uns jedenfalls nicht. Ich freue mich, ihn heute noch gesund und am Leben zu wissen. Gleich nach Ausbruch der Märzrevolution 1917 wurde ihm die Frage vorgelegt, was er über den Sturz der Zarenregierung denke. Er erwiderte nach seiner ruhigen überzeugenden Art: „Ich diene dem Lande und dem Volke, nicht dem System! Und als ihm später von den Bolschewisten die Befestigung Petersburgs übertragen wurde, mag er sich das Gleiche gesagt haben. Die Trapezunter Garnison liebte ihn wegen dieses seines Dienstes für Land und Volk.

VII.

Den Ausbruch der Märzrevolution 1917 hat man der Garnison, trotzdem ausführliche telegraphische Meldungen aus Petersburg vorlagen, einige Tage lang verheimlicht. Es war aber um die Ruhe schon geschehen. Wenn es zu Ausschreitungen auch nicht gekommen ist, so fanden doch bis zum Überdruß Meetings und Wahlen statt. Ich habe einer solchen Versammlung beigewohnt, der ersten, im Stadtgarten, als Matrosen und – und im Gegenstück dazu – Generale, ein jeder auf seine Art, die Revolution priesen oder in ihrer Bedeutung schmälerten. Vom Geiste des Generals Schwarz geleitet, lenkten die besten unserer Offiziere den Revolutionsgeist gleich von vornherein auf das kulturelle Gebiet. Hierin ist denn auch manch Gutes getan worden. Wir Stabskanzlisten erhielten ein schönes großes Zimmer für unsere Zusammenkünfte, erhielten Bücher und Mittel zum Ankauf von Zeitungen und Zeitschriften und veranstalteten nicht selten zusammen mit den Stabsoffizieren Diskussionen über aktuelle Fragen. Eines Tages wurde den deutschen Soldaten angeboten, in die Offiziersschule einzutreten; wir sollten nun auch höhere Militärämter bekleiden; es hat sich aber keiner bereit erklärt. Wir persönlich war noch zu sehr der tragische Tod eines wolgadeutschen Kameraden aus den Zelten in den Bergen in Erinnerung. Mehr noch als ich von der Malaria gequält – ich habe das Fieber zwei Sommer lang ausstehen müssen –, war er zur Behandlung in ein Lazarett in Trapezunt gebracht worden. Dort besuchte ich ihn immer über ein paar Tage. Als ich wieder einmal hinkam, sagte man mir, Mons – so hieß er, er war Katharinenstädter – sei gestorben und auch schon beerdigt. Da ich in der Lazarettkanzlei näheres über sein Tod nicht erfahren konnte, fragte ich seine Zimmernachbarn aus. Da hörte ich dann Schreckliches. Man hatte ihm gegen die Malaria Einspritzungen gemacht, eines Tages mit einer Spritze, mit der man vor seinen Augen im Geschwür eines anderen Kranken herumgestochert hatte. Als Mons sich gegen die Einführung der nur oberflächlich gesäuberten Spritze in sein Fleisch sträubte, befahl ihm der Arzt: „Halt’s Maul, deutscher Hund!“ Nach eineinhalb Tagen verstarb dieser mein treuer Freund (auch von Redaktionsarbeit in der Saratower deutschen Volkszeitung her) unter entsetzlichen Qualen an einer Blutvergiftung. Sollten wir da schließlich nicht auch Freundlichkeiten mißtrauen?

In Trapezunt haben wir keinen Tag vorübergehen lassen, ohne daß wir nicht irgendein Berg bestiegen, nicht irgendeinen Kirchhof, nicht irgendeine Sehenswürdigkeit besucht hätten. Trapezunt ist eine alte Stadt mit einer großen Vergangenheit. Es gibt da Klöster und alte Schloßruinen, verfallene Stadtmauern, seltene Kirchengemälde, wundervolle Friedhöfe wie z. B. der griechische mitten in der Stadt mit seinen prachtvollen Denkmälern in reichem Baumgrün, wohlgepflegten Gräbern und Hecken. Auch sonst fanden wir Unterhaltung; besonders die Bäder im Meer haben uns wohlgetan. Täglich vor und nach Sonnenuntergang stiegen wir die Straßen hinab, hinein ins salzige Naß. Einmal wäre ich beinahe ertrunken, da ich, ein leider sehr, sehr schlechter Schwimmer, mich neugierig bis zu einem Felsen weit vom Ufer in die Wellen gewagt hatte. Plötzlich sank ich, gurgelte, schluckte Wasser, tauchte unter und auf und wurde glücklich von einem Kollegen noch rechtzeitig aufgegriffen und an Land gezogen. Ich hätte es schmerzlich bedauert, wenn ich ertrunken wäre.

Das Schwarze Meer hat uns wohl viel Bangen gebracht, aber auch Freuden – die Apfelsinenkähne! – und einmal sogar einen ulkigen militärischen Schabernack. Einmal wurden wir durch eine dumpfe Explosion im Hafen aus unserer mittäglichen Kanzleiruhe aufgestört: ein feindliches Unterseeboot hatte einen mit Kohle, Reis und Zucker beladenen russischen Seedampfer zum Sinken gebracht. Mitten im Hafen, ohne sich vor den hier vor Anker liegenden russischen Kriegsschiffen auch nur im geringsten zu genieren. Es gab nun ein wüstes Durcheinander, ein Wimmeln und Suchen. Die Festungsbatterien schossen aufgeregt ziellos ins Meer hinaus, dazwischen lärmten die Zehnzölligen über uns auf dem höchsten Berg. Noch einmal erschien ein feindliches Torpedo und strich zwischen den Schiffen zum Ufer hin in den Sand. Unser Stab meldete diese Ankunft nach Erserum und von dort befahl Nikolai Nikolajewitsch, nachzusehen, ob in dem Geschoß nicht ein türkisches Friedensangebot stecke. Die Hoffnung war aber vergebens.

Tausend Dinge sind uns in der Militärzeit passiert, mehr unangenehme, häußliche und schlechte als gute. Sehe ich heute aber auf jene zwei Jahre Schinell zurück, so möchte ich sie in meinem Leben nicht messen. Sie haben mir gezeigt, was deutsch sein heißt in fremdem deutschfeindlichen Heer, haben mich gelehrt, deutsch zu sterben, wenn es notwendig werden wird, haben mich das Volk lieben und verstehen gelehrt, das noch niemals um seine Meinungen und Wünsche gefragt worden ist.


Der Wolgadeutsche, 1923, Beilage, Nr. 4 bis 10.