Geschichte der Wolgadeutschen

ERZÄHLUNGEN WOLGADEUTSCHER
SOWJETSCHRIFTSTELLER


CHR. ÖLBERG

DER ERSTE TRAKTOR

(Aus einer Erzählung: „Das Dorf marschiert“)

An einem schönen Frühlingsmorgen war in Lewaschowka großer Aufruhr. Alles, was Löffel lecken konnte, war auf der Straße. März kam mit einem Traktor gefahren.

„Komm, wir hängen uns hinten dran“, sagte ein kleiner Junge zu seinem Kameraden.

„An das Pudderding? — Ach herrje, das spuckt jo“, rief der andere und beide galoppierten dem Traktor entgegen.

„Wie heißt das Ding?“ fragte eine alte Frau eine jüngere.

„Traktor.“

„Dratter? So, so. No, das ist aber ein kleiner Dratter“, und die Frauen gingen dem Traktor auch entgegen.

Doch die Männer hatten den Traktor schon umringt, daß die Frauen gar nicht mehr beikonnten und die kleinen Knirpse nur noch so die Nase an des Vaters Hosentasche vorbeistecken konnten.

„No, no, was der März alles beischleppt“, wunderten sich die Männer. „Wie kriegst du nur alles fertig?“ fragte jemand.

„Na, das ist doch nur ein kleines. Die Sowjetregierung tut jeden neuen Anfang unterstützen. Wir sind eine Kooperazia, sagte ich, und da brauchen wir einen Traktor, sagte ich, ,Auch die zweite Utschas“, sagte ich, brauchen wir. — ,Kollektiver Sinn muß gepflegt werden“, sagte ich, ,hier sind die Beschlüsse“, sagte ich, und die Sache war abgemacht.“

„Wo habt ihr denn die Beschlüsse her?“ fragte Schreiners Adam.

„Na ja, du tätest dich doch gerne wieder streiten“, meinte März. „Die Versammlung war angesagt und vollzählig. Daß nicht alle gekommen sind, daran bin ich nicht schuld. Wer nicht kommt, dem wird der Kopf nicht gewaschen. Aber laßt mich mal nach Hause; ich bin müde, der Schoffer auch. Am Nachmittag werden wir den Traktor probieren“, und März drängte sich durch die Menge.

Am Nachmittag pufferte der Traktor durch die Straßen. Groß und Klein strömte ihm nach.

Der ganze Knäul bewegte sich hinaus ins Feld. Am Krottenloch hielt der Traktor an, schnatterte und warf Erde um sich. Der Pflug schnitt lange Schwarten aus der Erde. Der 70jährige „Kop“, der auch nachgekommen war, maß mit seinem Stock die Furche und viertelte mit seinem mittelsten Finger. „Vier Werschok vollständig“, brummte er und schüttelte mit dem Kopf.

Der Traktor kreiste auf dem Felde nud machte eine Furche nach der anderen.

„Die probieren zu lange“, meinte einer; „kommt, wir wollen nach Hause gehen.“

„Das ist doch dem März sein Arbusenstück“, spottete ein anderer; „drum wird so lange probiert, bis alles schwarz ist.“

Aber im Dorf kam der Menschenknäul wieder zusammen. Am Sowjet hielt ein fremdes Gespann.

„Es ist doch ärgerlich, daß ich zu spät kam“, meinte der Mann vom Wagen. „Ich wollte vor dem Traktor ankommen, um eurem Fest beizuwohnen, aber der Zug hat verspätet.“

Als die Gemeindeversammlung vollzählig war, erklärte der Angekommene:

„Ich komme vom Nemselsojus. Euer Dorf schreitet in allem voran. Ihr habt eine Käserei. Rassenvieh, habt jetzt einen Traktor. Ich überbringe einen Gruß vom Verband der Kreditgenossenschaften, der mich beauftragt hat, nachzusehen, wo es bei euch fehlt, und euch behilflich zu sein. Auch soll ich die Tätigkeit eurer Verwaltung untersuchen und dem Nemselsojus darüber berichten.“

„Das ist recht. Es ist die höchste Zeit. Da kriegt ihr auch was Ordentliches zu sehen. Betrachtet auch die Stiefel und das Salz und die Töpfe!“

Ein ganzer Lärm war dadurch entstanden, daß jeder seinem Gefühl freien Ausdruck gab.

„Was soll das bedeuten?“ verwunderte sich der Instrukteur.

„Seid nur mal ruhig, ihr Leute“, trat Schreiners Adam hervor.

„Genosse, es ist höchste Zeit, daß die Untersuchung eingetroffen ist. Unsere Verwaltung hat noch nichts Gutes gestiftet. Die Leute sind unzufrieden, aber niemand kann Aufschluß geben. Sie werden einige Tage hier bleiben müssen, um zu erklären, ob die Kooperation handeln oder die verkommene Landwirtschaft herstellen soll.“

„Sind sie Mitglied?“ fragte der Instrukteur.

„Nein, was hab ich vom Handel?“

„Dann verstehen Sie vielleicht die Bedeutung der Kooperation nicht, so wie sie den Wert des Traktors nicht einschätzen können. Ist denn die Käserei nicht von großer Bedeutung für die Landwirtschaft?“

„Aber wo sollen wir denn eine Käserei herhaben?“

Das Gesicht des Instrukteurs verwandelte sich nun ganz in eine erstaunte Frage.

„Der Adam hat recht“, trat Piephahn hervor. „Der März ist ein Schwindler. Standepede müssen dem Kerl alle Rechte genommen werden!“

„Warum habt ihr ihm Vollmachten gegeben?“ fragte nun der Instrukteur vorwurfsvoll.

„Wie konnten das die Leute voraus wissen?“ rief Piephahn. — „Er hat den Leuten viel versprochen, und da haben ihn alle gewählt.“

„Ist es recht so?“ fragte Markus, und Schreiner suchte den März zu kopieren. „Recht!“ schreit Neubauer aus seinem dicken Wanst heraus. „Was sein muß, muß sein!“ ruft Wasserhanjuste Altes. „Der Schreiber schreibt, die Verwaltung unterschreibt, und so sind die nötigen Papiere fertig.“

„Der Adam hat recht, recht hat er!“ sprang Piephahn wieder vor: „Der März muß bei uns Abrechnung machen. Der muß seine Trakteelemente kriegen!“ ereiferte sich Piephahn.

„Was ist denn da los?“ sprang der Alte hervor. „Wart, ich will erst mal meine Brille aufsetzen. So-o, Piephahn! Du hast wohl dein Teil nicht bekommen?“ und Wasserhanjuste Altes sah Piephahn scharf in die Augen.

„Wollt ihr noch lange die Leute mit Eurer Brille unter die Bank gucken?“ schrie Heinze Soldat. Im Nu war ein großer Lärm und ein großes Gedränge entstanden. Das Alte flog samt seiner Brille aus dem Kreis heraus.

„Holt den März!“

„Die ganze Verwaltung!“

Ein Trupp junger Männer ging ab.

„Macht doch keinen Unfug“, bat der Instrukteur.

„Keine Sorgen, Genosse“, sprach Heinze Soldat. „Sonst wird nichts passieren. Das Alte guckte von jeher jedem unter die Bank, der seine eigene Meinung haben will, drum muß das Alte hinaus.“

„Der März kommt!“ riefen einige zugleich.

Nur als her. Gerade hier ist dein Platz“, zeigte Piephahn neben den Tisch. „Jetzt erzähle mal von deiner Arbeit.“

„Männer, macht keinen Unfug“, bat der Instrukteur, sonst können wir nichts fertig bringen.“

„Na, das können wir mit Ordnung machen“, sprach Heinze. „Männer, schlagt mal einen Vorsitzenden für die heutige Versammlung vor.“

„Schreiners Adam!“ riefen alle zugleich.

„So setzte sich Heinze, jetzt kann’s in aller Ordnung losgehen.“


Erzählungen wolgadeutscher Sowjetschriftsteller. / Hrsg. von J. Sinner.
2. Sammelband. 1929-1933. – Engels: Deutscher Staatsverlag, 1933, S. 45-47.