Geschichte der Wolgadeutschen

ERZÄHLUNGEN WOLGADEUTSCHER
SOWJETSCHRIFTSTELLER


CHR. BALTHASAR

DER „SCHLEHETAG“

„Schlehedrottler“, so hießen die Einwohner von Eßt-Solodsker, und nicht ohne Grund.

Bei knappen Jahren gab es Schlehen am Morgen, „Schleheriwwelsupp“ am Mittag, Schlehen am Abend. Hirsenklöße dazu war das Beste.

Wenn man so am Tisch saß und saure Schlehen löffelte, mußte man immer daran denken, daß das Leben doch sauer ist.

Die erbärmlichen Schlehen bis zur Reife zu erhalten, kostete auch viel saure Mühe. Immer kommen Kinder, sogar Erwachsene, die-die Schlehen so im Vorbeigehen versuchen wollen; das Vieh ist auch immer an den Hecken. Diese zu erhalten, war daher ein wahres Kunststück vom „Pockestecher“, dem Schlehepenner. „Gehst de raus!“ schrie er bald hier, bald dort.

Im Waide war’s noch leicht: dahin kam selten jemand, aber beim Dorf war’s nicht mehr auszuhalten. Die Leute wurden immer unverschämter, das Vieh noch mehr, der Pockestecher immer älter. Als der „Trump“ Kamele gekauft hatte, fraßen diese das „gelbe Heckchen“ auf einmal auf. Das war der Anfang. Von da an wanderte eine Hecke nach der anderen in den Bauch der Kamele, der Ziegen, der Kühe und der Ochsen, bis schließlich keine mehr vorhanden waren.

Mit den Hecken verschwand auch der Schlehetag, und der war das Schönste an der ganzen Schlehengeschichte. Auf diesen Tag warteten, rüsteten sich alle: einen Schlehensack über die Schulter, alte Stiefelschuhe, festanliegende sackleinwandene Kleidung, einen alten Hut ohne Rand — das war die Kleidung dieses Tages. Alles mußte stark sein, denn die Dornen spaßten nicht, und zudem waren alle Hecken mit Hagebutten und Brombeersträuchern unterwachsen: diese griffen besonders scharf ein, ja eine Brombeerranke zog manchmal über eine ganze Körperprovinz und riß Haut und Haare weg. Man hatte auch keine Zeit, vorsichtig zu sein. Bis der Tag um war, hatte die Kleidung Millionen Löcher, die Haut nicht weniger, und darin staken Hunderte Dornspitzen, die am andern Tag erst mit der Nadel herausgenommen werden konnten. Der Körper mußte ausheilen, die Kleidung aber verwandelte sich in „Putzlumpe“, Hut und Schuhe wanderten über den „Zaun“*). Das war der Ausgang dieses Tages. Dafür war’s am Morgen so schön. Kaum graute der Tag am Himmel, so waren auch alle Leute vor dem Dorfe: nur der Büttel stand am Glockenstrick und der Vorsteher lag ruhig im Bett und wartete auf den Ruf seiner Frau „Fertig!“

Am rechten Flügel stand der wildjagende Troß. Geputzte fette Gäule im grünen eisernachsigen Wagen stampften mit Ungeduld die Erde.

Am linken Flügel lagerte die Infanterie mit Säcken oder Körben bewaffnet.

Im Zentrum die Bagage: schäbige „Fohlerstuten“ in alten Leiterwagen mit naßgeschütteten und verkeilten Rädern und hölzernen „Lohnen“.

Frau Vorsteherin war nun mit der Morgenarbeit fertig und berichtete dies dem Mann.

Dieser stand sofort auf, ging in die „Prikas“ und winkte dem Büttel im Vorbeigehen mit der Hand.

Sofort ertönte die Glocke und... Ein größeres Geschrei dürfte nicht gewesen sein, als die Mauern von Jericho umfielen — der ganze Haufe stob auseinander in den Wald, an die Berge (Abhänge) in die Schlehenhecken, um am Abend blutig und zerlumpt, aber mit Schlehen beladen nach Hause zu kommen.

(„Unsere Wirtschaft“, v. 15. I. 1925, Nr. 1.)


Erzählungen wolgadeutscher Sowjetschriftsteller. / Hrsg. von J. Sinner.
1. Sammelband. 1917-1929. – Engels: Deutscher Staatsverlag, 1933, S. 100-101.


*) In der Zeitschrift „Unsere Wirtschaft“ (1925, Nr. 1) steht „Saum“ statt „Zaun“. – Anm. von A. Spack.