Geschichte der Wolgadeutschen

ERZÄHLUNGEN WOLGADEUTSCHER
SOWJETSCHRIFTSTELLER


ÖLBERG

DER DATE

„’s, werd nix was draus“, sagte Vetter Hanjörg ganz entschieden und klopfte die Asche aus seiner Pfeife in den Spuckkasten.

Er klopfe viel länger und kräftiger als nötig, denn er war ganz aufgeregt. Es war auch zum Kaputärgern. Sein ältester Sohn, der Hanjörg, der nichtsnutzig Kerl, hat sein Teil verlangt! Er will seine Brüderchen nicht helfen großziehen. Als ob er selbst gleich groß gewesen wäre!

Dann kam der zweite, der Philipp, und verlangte auch sein Teil. Bei diesem Gedanken nahm Vetter Hanjörg den Pfeifenräumer und stocherte recht emsig in seiner Pfeife herum.

„So’n grüner Kerl!“ Und Vetter Hanjörg klopfte wieder kräfig in den Spuckkasten: „So ein nüchterner Philipp, fürchtet sich noch am Abend allein abzufüttern, und will auch schon teilen!“

Und das war noch nicht alles. Die Anlisbeth, sein Mädel, hat sich auch ins Gespräch gehängt. Sie muß tüchtig schaffen und hat auch noch keinen gelben Pelz, noch keinen Kasten, noch keine Setzkissen und noch gar nichts. Über Nacht kann der Vater die Augen zudrücken und dann sitzt sie da, wie eine „Krott auf dem Schollen“

„’s werd nix was draus“! und Vetter Hanjörg paffte seine Pfeife in Brand, setzt sich auf den Großvaterstuhl und hüllte sich in Tabakswolken.

Als er wieder Ruhe gewonnen hatte, nahm er sein Taschenbuch und rief seine Frau, um eine Beratung abzuhalten.

„Der Hanjörg muß abgeteilt werden, das ist richtig. Das Haus ist zu voll und der Unfriede wird zu groß. Die Anlisbeth muß Sachen haben, sonst kommen mal über Nacht Freier und dann steht das Mädel nackt da.“

Und Vater und Mutter rechneten und rechneten. Sie zankten und stritten sich lange hin und her und fingen wieder von vorne an zu rechnen.

„Um Himmelswillen! paff doch nicht so viel, mir ist der Kopf so dick, wie ein Pudowka und brummt wie eine Milchschleuder von dem vielen rechnen, und du paffst ohne Ende!“ wetterte die Alte und setzte von neuem an, ihre Pläne durchzudrücken. Wenn Vetter Hanjörg nicht einverstanden war, machte er sich mit seiner Pfeife zu schaffen, bis er schlagende Beweise für seine Anträge gefunden hatte.

Jeden Punkt, der einstimmig angenommen wurde, hat Vetter Hanjörg in sein Taschenbuch geschrieben. Am Ende hatten sie sich dahin geeint, daß der Hanjörg abgeteilt werden müsse. In diesem Jahre kaufen sie Ringlers Hannheinrich sein altes Haus und im nächsten Jahr lassen sie es umbauen. Dann werden sie noch ein Jahr zusammen arbeiten. Doch der Hanjörg wird schon seine Wirtschaft für sich führen und im vierten Jahr sind sie ganz auseinander. Die Anlisbeth bekommt in diesem Jahr Kleidungsstücke und im nächsten Jahr einen Kasten und einen gelben Pelz. Das Federbett bleibt für das dritte Jahr, denn sie werden in diesem Jahr erst eine Entenzucht anlegen. Doch wenn was passieren sollte, dann kann die Anlisbeth der Mutter ihr Federbett bekommen.

„Wenn’s aber nicht glückt?“ fragte die Mutter verzagt. Sie möchte ihr Federbett vor ihrem Tode an niemand gerne abtreten.

„Wird schon gehen Mutter. Nur müssen die Jungen anpacken, den Plan auszuführen“.

„Machst du Sachen, Vater. Wir wollen doch jedem sein. Bestes. Sie werden schon anpacken“.

„Es gönnt doch einer dem anderen nichts. Sie sind mir gar nicht nachgefahren“, und Vetter Hanjörg schüttelte mit seiner Pfeife.

„Mir ganz und gar nicht...“

„Sei nur nicht böse, Mutter. Ich wollte ja nur sagen, daß die Jungen nicht mehr so sind, wie früher. Die Großen wollen die Kleinen nicht helfen erziehen und die Kleinen wollen so viel erben wie die Großen. Mißgunst ist das, weiter nichts. Doch wenn der erste fertig ist, kommt der zweite an die Reihe, so wie es mein Vater gemacht hat.“

Dann wurde das Essen aufgetragen. Als alle am Tische saßen, hielt der Vater seine Rede. Sie war nicht wortreich und bestand aus Lauter Bruchteilen. Aber sie war für jeden so klar und deutlich, daß nicht ein einziger Einwand gemacht wurde. Mehr Frucht muß geerntet werden. Jedes Schaflämmchen muß in acht genommen werden. Wenn einmal Gänse und Enten auf dem Hofe sind, dann muß gut aufgepaßt werden. Eier und Butter müssen recht sparsam verausgabt werden, damit alles übrige in die Bude gebracht wird. So muß in der Familie gehaust werden das war jedem klar. Auch hatte jeder begriffen, daß, wenn mehr Frucht sein soll, auch mehr Aussaat gemacht werden muß.

Der kleine Andreas darf jetzt auch mit in die Steppe, er wird Zusammentragen, und der Konrad wird binden und der Daniel wird gabeln. Wenn’s zu schwer wird kann ihn die Annlisbeth manchmal ablösen. Auch die Pferde wurden anders gegliedert, so daß mehr geschafft werden konnte als im vorigen Jahr.

Alle wußten, daß sie alle Kräfte anspannen müssen um die Arbeit zu bezwingen, daß sie überall sparen müssen, sonst wird im Herbst das Kapital nicht ausreichen. Dann wird entweder der Hanjörg oder die Annlisbeth beleidigt werden, und der Philipp wird auch auf ein Jahr zurückgeschoben, oder die Jungens, die schon auf die Straße gehen, bekommen keine Stiefel. Das wird dann einen gewaltigen Lärm geben im Hause. Und alle nahmen sich vor, recht tüchtig zu schaffen und zu sparen.

* * *

Vetter Hanjörg wurde es ganz schwarz vor den Augen. Es rutschte was in seinem Leibe. Er hatte gehört, wie etwas gekracht hat, er wußte nur nicht gleich, ob es am Wagen oder in seinem Leibe war. Jetzt schmerzte es, und er legte sich um, dann brachte er sich nach Hause und legte sich ins Bett. Dem Hanjörg ließ er sagen, er solle das Regiment übernehmen und nicht auf ihn warten. Von Tag zu Tag wurde er kränker und konnte nicht mehr ausgehen. Nur noch durch das Fenster beobachtete er die Arbeiten und gab seine Anweisung.

Vetter Hanjörg hatte auch schon alles versucht: er hatte gestoßenes Glas mit Zucker eingenommen, hatte seinen Magen schon wiederholt gründlich mit Tollehundenkrautwurzel gereinigt, hatte brauchen lassen und alles, was nur zu raten war, hatte er getan. Aber es half nichts. Er war krank, hart krank, wurde gelb wie ein Eidotter und schrumpfte zusammen, wie eine Quetsche.

Doch das schlimmste waren die Nachrichten aus der „Steppe“. Alles, was ihm von seinen Kindern erzählt wurde, vergällte ihm das Leben endgültig. Schon beim Ernten hatten sich die Jungen geschlagen: der Philipp wollte dem Hanjörg nicht gehorchen. Sie zankten und stritten sich, daß alle Leute darüber redeten.

Jetzt aber beim Ausreiten ist auf Hanjörgs Tenne immer und immer Lärm und Streit. Vor Scham und vor Ärger hätte Vetter Hanjörg in die Erde kriechen können. Wenn er doch auf sein könnte! Wenn er ins Feld könnte, er wollte die Kerle Mores lehren.

„Alte! Du! Schick’ den Konrad zu mir, wenn er fertig ist!“ rief Vetter Hanjörg.

Und Konrad erzählte zum wiederholtenmal, wie es Streit gegeben hat, wie es zwischen den Brüdern zur Rauferei gekommen war. Dann erzählte er auch, daß Hanjörg mit Frucht in der Stadt gewesen war und eine Putzmaschine mitgebracht hat, daß der Philipp dann auch in die Stadt gefahren ist. Darauf ist wieder Hanjörg in die Stadt gefahren und Philipp wolle morgen fahren.

„Sag, der Hanjörg soll mit der nächsten Fuhr nach Hause kommen. Wieviel Haufen habt ihr an der Tenne gemacht?“

„Vier runde“, antwortete Konrad.

„Wieviel habt ihr ausgemacht?“

„Drei“.

„Du! Mutter! Alte! Guck doch mal, wie weit die Ambarkasten voll sind, und sag’ mirs“, bat Vetter Hanjörg seine Frau und ließ Konrad gehen, erinnerte ihn aber noch einmal, daß der Hanjörg kommen soll.

„Ein Kasten ist voll und der andere nicht ganz halb“, berichtete Mutter, die im Ambar untersucht hatte.

„Von drei Haufen!? Weißt du, Alte, die Jungen verkaufen Frucht. Das geht nicht schön her, sie wollen jetzt schon teilen. Die warten auf meinen Tod, und da schleppt jeder für sich. So ist es, Mutter, du wirst es morgen sehen, wenn der Hanjörg kommt. Er hat gewiß gar kein Geld oder ganz wenig. Sollst sehen. Und unsere Pläne sind dahin. Die Annlisbeth kriegt keine Sachen und der Hanjörg kein Haus. Die Frucht wird vermarketentert, es kommt nicht so viel zusammen, wie geplant war, und da kann auch nicht so viel verausgabt werden, wie vorausgesehen war. Der ganze Plan wird zunichte...“

Und Vetter Hanjörg mußte sich am anderen Tag überzeugen, daß seine Mutmaßungen richtig waren. Hanjörg hatte nur ganz wenig Geld, hatte auch weiter nichts, als die Putzmaschine aufzuweisen. Er erklärte recht umständlich, daß die Frucht im Stroh freilich gut wäre, aber zu viel taube Ähren habe, so daß nicht soviel Körner herauszukriegen seien, als die Meinung früher war.

„Es dauerte euch zu lange, bis ich im Grabe liege. Ihr wollt jetzt schon teilen, und da schleppt jeder für sich, und aus der ganzen Sache wird nichts. Ei—ei! Ich hatte mich auf dich verlassen“.

„Ei, der Philipp...“

„Laß nur gut sein und fahre. Aber laß den Schimmel da für morgen“.

* * *

Am anderen Tage ließ Vetter Hanjörg den Schimmel recht schön putzen, ließ einen Korbwagen holen und recht rein waschen. Auf den Sitz wurde ein Kissen gelegt und so nach dem Doktor geschickt.

„Ich will mal sehen, ob der nicht helfen kann. Wenn ich da noch lange liegen werde, schleppen die Jungen das ganze Vermögen auseinander“.

Es war dem Vetter Hanjörg und seiner Frau zu Mute, als ob sie etwas recht schweres überwunden hätten und sie warteten mit Ungeduld auf den Doktor. Die Dielen waren recht rein gewaschen bis hinaus auf die Treppe, alle Stäubchen abgeputzt, und ein Stuhl war mit einem Mäntelchen behängt — für den Doktor.

Und dieser kam am Nachmittag und untersuchte und befragte recht lange und recht umständlich. Vetter Hanjörg sah fragend auf den Doktor. Er wollte ja gerne alle apothekerlateinischen Sachen schlucken, aber mitfahren nicht, durchaus nicht. Im Krankenhaus, da sterben die meisten. Die werden dann in einen Keller geworfen und nachher, wenn genug sind, hinausgefahren und nackt in ein Loch geworfen und verscharrt. Und Vetter Hanjörg schüttelte sich. Wie Eis überlief es ihn am ganzen Körper. So barbarisch wollte er sich nicht behandeln lassen und weigerte sich entschieden, ins Krankenhaus zu fahren.

„Wem nicht zu raten, ist nicht zu helfen“, meinte der Doktor und fuhr weg.

Schon am anderen Tag mußte der Schimmel wieder denselben Korbwagen denselben Weg schleppen. Aber der Doktor kam nicht. „Es hilft keine Arzenei“, ließ er sagen, „sondern nur eine Operation kann helfen, und diese kann nur im Krankenhaus gemacht werden“.

Und Vetter Hanjörg hieß den Leiterwagen zurechtmachen, er wird es wagen, ins Krankenhaus zu gehen. Er will’s ertragen, wenn er nur gesund wird, denn seine Jungen ärgern ihn doch zu arg. Und unter Glückwünschen der Nachbarsleute und Tränen seiner Frau wurde Vetter Hanjörg ins Krankenhaus gebracht.

Auf einem schönen schneeweißen Bett lag er da, Vetter Hanjörg, und schaute zu, wie der Doktor und noch andere Doktorinnen hantierten. Sie kochten etwas ünd legten blanke Werkzeugwesen hinein. Dann zeigte ihm der Doktor ein Scherchen, ein Messer das für Kinder zum Spielen zu klein war, und erklärte, daß mit diesen die Krankheit herausgeschnitten werden soll.

Vetter Hanjörg bekam frischen Mut, denn er hatte sich schon so oft mit viel, größeren Messern, sogar mit Sensen geschnitten, ganze Stücke Haut weggerissen, und ist alles wieder zugeheilt. Was soll ihm da der Doktor mit so einem Zahnstocher antun? Und er wurde ruhig.

Als er wieder ganz wach war und seine volle Besinnung wieder hatte, spürte er einen Schmerz am Rücken und an der Seite, wußte aber nicht, wovon. Die Krankenwärterin erklärte ihm, daß er sich nicht rühren dürfe, da der Doktor an ihm geschnitten habe, und daß er, wenn er recht ruhig bleibe, bald gesund sein werde.

Nach einigen Tagen kam der Schimmel wieder mit einem Bett im Leiterwagen, und Vetter Hanjörg kehrte nach Hause zurück zu seiner Frau, die bis daher die größten Sorgen hatte und jetzt noch mehr besorgt war, um ihm recht viel Bequemlichkeit zu bieten und das allerschmackhafteste Essen zu machen.

Es dauerte nicht lange, und Vetter Hanjörg war gesund und kräftig genug, um im Hause und auf dem Hofe herumzugehen. Aber die Geduld war alle, er wollte nicht mehr warten und spannte den Schimmel an.

„Um Himmelswillen, Vater, du willst doch nicht in die Steppe?“ rief seine Frau verzweifelt.

„Ja, Mutter, es wird gehen. Ich fahre ganz langsam“, und er fuhr in die Steppe an seine Tenne.

Schon von weiten sah er ein Bild, das alles bestätigte, was von seinen Jungen erzählt wurde. Hanjörg hatte eine Gabel und ging auf den Philipp los. Dieser hielt eine Harke mit den Zinken nach oben, so daß Hanjörg nicht herantreten konnte, ohne in die Zinken zu kommen. Geschickt schlug Hanjörg mit der Gabel, und noch geschickter verteidigte sich Philipp mit der Harke.

„Junge!“ rief der Alte aus Leibeskräften, noch ehe, er nahe war, und legte seine Peitsche zurecht.

„Der Date!“ riefen beide zugleich und legten schnell die Waffen nieder.

Die Ordnung am Tenne war jetzt wieder hergestellt, denn der Date hatte das Regiment wieder übernommen.

(„Nachrichten“, 1928, Nr. 115‒118)


Erzählungen wolgadeutscher Sowjetschriftsteller. / Hrsg. von J. Sinner.
1. Sammelband. 1917-1929. – Engels: Deutscher Staatsverlag, 1933, S. 92-97.