Geschichte der Wolgadeutschen

HEIMATLICHE WEITEN

SOWJETDEUTSCHE PROSA, POESIE UND PUBLIZISTIK

1982 № 1


Русский

Wilhelm Brungardt

Sebastian Bauer

Historischer Roman


II. TEIL

Erstes Kapitel

GRÜNDUNG DER KOLONIE

Seb stand vor der Erdhütte und schaute in die Ferne. Ringsum war alles fremd. Die Höhe lag in morgendlichem Sonnenschein. Der Fluß war still. Kühle, von Staub durch­drungene Luft wehte durch das Tal, den trostlosen Karaman entlang.

Willem trat an Seb heran. Er schaute ihn ernst und besorgt an.

„Was wollen wir hier anfangen?" fragte er.

Seb überlegte eine Weile. Was konnte er in den ersten Stunden schon Bestimmtes sagen?

„Ein neues Leben", antwortete er und verstand, daß seine Antwort Willem nicht befriedigte, ihn nicht trösten konnte. „Vor allem", erklärte Seb, „müssen wir bauen: Wohnungen für uns, Stallungen und Schuppen für das Vieh. Unter freiem Himmel werden wir nicht leben kön­nen. Der Winter soll hier streng und lang sein; vier und mehr Monate ist die Erde gefroren, erzählen die hiesigen Kosaken."

Willem klagte:

„Wenn ich mich umschaue, geht mir aller Mut verloren. Das Gras ist halb verdorrt. Wenn die Hitze noch länger anhält, wird die ganze Gegend bald kahl und trocken liegen. Wovon soll der Bauer leben, wenn alle Pflanzen eingehen. Und erst der Handwerker, wie kann der hier bestehen, wo der Bauer kein Brot anbauen kann?"

„Du bist über Nacht ganz in Furcht geraten. Und das allein vom Anblick des Ortes."

Willem lächelte beschämt. Er sagte: „überall in der Kolonie sind die Leute von Schrecken ergriffen, und ich habe mich auch anstecken lassen."

Willem war am frühen Morgen ausgegangen. Er war unruhig und wußte sich in seiner neuen Lage keinen Rat. Die Erdhütte gefiel ihm, auch die Ställe und Schuppen aus Zaunwerk, doch die trockene Hitze war schrecklich. Die Erde ernährt die Menschen, wenn sie Wärme und Feuchtigkeit hat. Auf trockenem Boden wächst keine Pflanze. Da hilft alle Mühe nichts. Fliehen, ehe es zu spät ist! hörte er einige Kolonisten sagen. Willem fühlte, daß er aber gerade hier, wo er mit der Natur gewaltig ringen mußte, Befriedigung finden könnte. Was ihm im Leben leicht zufloß, schätzte er nicht. Wie gut, daß er bei Seb war. Der hat viel Geduld, die ihm selbst oft fehlte, und ohne Geduld kommt man im Leben nicht weit voran. Wil­lem versuchte, sich selbst zu trösten, aber die Sonne stieg am Himmel ebenso unbarmherzig heiß auf wie am Vortag, wie die ganze Zeit, seitdem er an der Unteren Wolga an­gekommen war. Kein Wölkchen zeigte sich am blauen Him­mel, das die heiße Sonnenscheibe verdecken könnte. Wo waren sie nur, die vielen schweren Wolken, die er in sei­nem Leben gesehen hatte: am Rhein, über dem Meer, in Petersburg, wo sich die Sonne monatelang nicht blicken ließ. Willem schaute von Gedanken geplagt in das tiefe Karamantal. Es war mit Eichenwald bewachsen. Die Blät­ter der Bäume hingen welk in den knorrigen Kronen.

Katrin kam hinzu. Sie sah die Männer an, wobei sie ihre Augen mit der Hand abschirmte und schmunzelnd sagte:

„Hier kann man sich gut durchwärmen, da bleibt einem sicher nichts gefroren." Mit ernster Miene fügte sie hinzu: „Ich kann es nicht glauben, daß es hier im Winter kalt ist. Was wird mit der vielen Wärme, die den Sommer über in die Erde dringt?!"

Sie schaute über den Fluß auf die Höhe, die völlig kahlgebrannt war...

 

Die erste Versammlung der Kolonisten führte der Be­vollmächtigte der Werbungsgesellschaft Le Roy und Pietet der Offizier Goguell durch. Die Kolonisten fielen Goguell, der sich sehr ruhig verhielt, zornentbrannt an. Viele schrieen mit lauter Stimme und drohten mit Fäusten. Go­guell hörte geduldig zu und nickte sogar bejahend zu man­chen Beschuldigungen. Die Unzufriedenheit war sehr groß. Die einen fragten: „Wo sind die Häuser, die ihr uns ver­sprochen habt?" Andere riefen entrüstet: „Wo das frucht­bare Land, das ihr uns vorgemalt habt?"

„Da ist es!" schrie Hans Haal und zeigte mit der Hand auf die kahle Steppe. „Da verlieren wir die Hosen, und die Haut zieht man uns auch noch ab."

Schreiner fragte, wo die Pastoren und Schulmeister seien, die man zu stellen versprach.

„Nichts als Betrug, gemeiner Betrug", schrie Kanter.

Um die Hausecke, wo sich die Weiber versammelt hat­ten und der Gemeindeversammlung zuhörten, streckte Anna Maria Kanter den Kopf vor und schrie:

„Die Hebammen, wo sind die, man wollte sie doch auch stellen."

Müller ging auf Anna Maria zu und befahl:

„Mischen Sie sich nicht in Männersachen ein."

„Hebammen, das sind Weibersachen", verteidigte sich Anna Maria.

„Gemeindeangelegenheiten behandeln nur Männer, die Weiber haben da nichts zu sagen. Das ist Gesetz und bleibt Gesetz auch hier in dieser verfluchten Steppe, so ist der Wille unserer Väter."

Nachdem die Empörungswelle etwas abgeflaut war, sprach Goguell. Er bedauerte all die Mißstände auf der Kolonie und klagte über sein Schicksal, das ihn mit den Kolonisten verbunden hat. Die Direktion, sagte er, habe mit den Kolonisten großen Schaden erlitten. Sie habe viel Geld in das Unternehmen gesteckt und wenig Hoffnung, es zurückzubekommen. Die russische Regierung habe ihr Versprechen nicht gehalten, habe keine Häuser und Stal­lungen gebaut und eine schlechte Gegend zur Ansiedlung bestimmt. „Eigentlich ist .es von großem Vorteil für die Kolonisten; sie werden sich selbst Gebäude bauen, was für sie viel billiger ist, als wenn die Krone es täte."

Überall wurde in der Menschenmenge gemurrt, ge­brummt, laut gestritten und gedroht.

Goguell erklärte, daß die Direktion mit Herrn Le Roy an der Spitze sich nicht gleichgültig zu den Kolonisten ver­halten werde. Sie habe dazu auch kein Recht. „Wer wird es der Gesellschaft verzeihen, wenn sie ihr Geld leichtsin­nig verschwendet? Die Direktion wird alles daran setzen, um von den Kolonisten einen guten Zehntel zu erhalten." „Das werden wir noch sehen!" schrie erbost Hans Haal. Darauf sagte Goguell:

„Führt euch nicht selbst irre. Die Direktion befehligt und nicht ihr. Das ist im Vertrag festgelegt."

Die Kolonisten verstummten. Den Vertrag hatten sie leichtfertig unterzeichnet. Man hatte sie ganz geschickt in die Falle gelockt. Die Werber erklärten ihnen, der Vertrag wäre eine einfache Formalität und sein Sinn bestünde dar­in, Leute für die Auswanderung zu gewinnen, und die Unterschrift bestätige nur ihr Einverständnis, nach Ruß­land auszuwandern. Von Verpflichtungen der Auswande­rer den Werbern gegenüber hatte man nichts oder nur wenig gesagt.

Auf der Versammlung wurde auch ein Vorsteher ge­wählt. Dabei ging es ruhig zu. Zwei Männer hatten sich zur Wahl aufstellen lassen: Seb Bauer und Philipp Schrei­ner. Beide genossen in der Gemeinde Ansehen. Nach Stimmenmehrheit wurde Seb Bauer gewählt. Philipp Schreiner wurde Beisitzer.

Das Schulmeister- und Schreiberamt übertrug man Müller.

Die Versammlung hatte auf die Kolonisten einen großen Eindruck gemacht. Sie hatte ihre Gemeinschaft be­deutend gefestigt. Jetzt hatten sie einen sie schützenden Vorsteher über sich und fühlten sich einer von ihnen be­stimmten Obrigkeit untertänig.

Goguell versuchte die Kolonisten weiter zu beschwich­tigen:

„Was hier an Regen fehlt, habt ihr an Land mehr. Drei­ßig Deßjatinen Land auf eine Familie, soviel besitzt in Deutschland nur ein Gutsbesitzer. Das Korn und Gras, das unter heißer Sonne wächst, ist viel nahrhafter als das in regenreichen Gegenden. Das Kalmückenvieh, das kaum lebend den Frühling erreicht, frißt sich in einem Monat in der Steppe fett."

Frau Marget Wulf war zur Kolonie zurückgekehrt. Sie sah betrübt und traurig aus. Mit Joseph Riedel war sie nicht in den Ehestand getreten. Die Weiber auf der Kolonie . waren neugierig auf den unerwarteten Fall. Marget sprach nicht viel darüber. Auf die Frage, warum sie ihren Bräuti­gam nicht geheiratet hatte, antwortete sie, er hätte ihr nicht gefallen.

Anna Maria Kanter stichelte, daß ihr alles klar sei: „Das Frauenzimmer will doch nicht züchtig leben, dar­um auch keine Ehe eingehen, es will heute den und morgen einen anderen haben."

Die Weiber hörten Anna Maria mit Vergnügen zu, ohne jedoch ihren Worten ernstlich Glauben zu schenken.

Müller besuchte Frau Marget. Er war erregt, und an­statt ihr Vorwürfe zu machen, wie er sich vorgenommen hatte, lächelte er freundlich und benahm sich höflich. Auch Frau Marget bemühte sich um Anmut und Trautheit. Sie wollte bedauert und nicht belehrt sein. Müller erklärte Frau Marget, er habe ihr etwas sehr Wichtiges mitzuteilen, ihr einen Entschluß zu erklären, wie er es noch nie zuvor so ehrlich und sicher getan habe. „Hier", sagte er, „an die­sem öden Karaman bin ich glücklich, das teuerste, was ich in mir trage, was mein Leben erhält und erfüllt, auszuspre­chen."

Frau Marget wurde unsicher.

„Nein, nein, Herr Schulmeister, sagen Sie mir weiter, nichts. Ich bin immer noch ganz durcheinander von dem Erlebnis mit Riedel. Ich muß mich erst beruhigen, sonst komme ich ganz aus dem Gleis. Verschonen Sie mich. Ich bin ein Weib und schwach von Natur."

Frau Marget senkte sanftmütig den Kopf, stand eine Weile so vor Müller, drehte sich dann um und ging.

Die Kolonisten wählten einen Platz für die Siedlung aus. Die erste Straße sollte entstehen. Seb beriet sich mit den Männern. Alle wünschten, die Straße möglichst nahe am Karaman anzulegen, denn Wasser war rar. Eine jede Familie erhielt an der schnurgeraden Straße am Ufer des Flusses einen Hofplatz, von dem das Wasser schnell und leicht erreichbar war.

Der Ort lag noch leer, nur die Pfähle, die die Höfe be­grenzten, staken in der Erde. Sie zeigten, daß hier gelebt werden sollte. Ein wüstes Land sollte erobert werden.

Hans Haal stand auf seinem Hofplatz und hielt weit­hin Umschau. Sein Nachbar, Martin Kanter, fragte ihn, wie es ihm zumute wäre, worauf Haal nach kurzem Nachdenken antwortete:

„Schlecht und auch gut, so ein sonderbares Gemisch steckt mir jetzt im Gemüt."

Darauf fragte Kanter, was Haal gut stimmen könnte in dieser verfluchten Lage, in der sie sich jetzt'befänden. Haal erklärte:

„Ich fühle das erste Mal in meinem Leben, daß ich An­teil an der Erde habe. Der Boden, auf dem ich stehe, ist mein, das freut mich und gibt mir Mut."

In der Zeit, als die Männer den Grundstein für die Sied­lung legten, saßen Katrin Linneberger und Marget Wulf in der Erdhütte zusammen. Marget hatte sich Katrin an­vertraut und erzählte ihr offenherzig von ihren Erlebnis­sen bei Joseph Riedel.

„Er ist nichts für mein Herz, weil er so grob und un­verständlich in seinen Gefühlen ist." Katrin versuchte Marget zu trösten: „Vielleicht täuschst du dich, er muß sich auch erst an dich gewöhnen, das braucht Zeit", sagte Katrin.

„Nein, nein", wehrte Marget kopfschüttelnd ab. „Lie­ber ewig allein bleiben, als mit einem solchen Holzklotz zu leben."

Katrin lächelte aufmunternd:

„Manch ungeschliffener Bursche wurde unter den ge­schickten Händen seiner Frau zu einem liebenswerten und treuen Mann."

„Joseph Riedel kann von keiner Frau umerzogen wer­den. Er bleibt so wie er ist bis ins Grab", widersprach Marget.

„Und Müller? Er meint es, glaub ich, ernst mit dir, warum hast du ihn so entschieden abgewiesen?"

Marget wurde trübsinnig.

„Jung und alt passen in der Ehe nicht zusammen. Ich müßte da immer Angst haben, daß er vor mir stirbt, und immer in Sorgen leben, was ich tun werde, wenn er tot ist. Wie kann man dabei zufrieden und glücklich sein? Es gibt ein Sprichwort: Gleich und gleich gesellt sich gern, und daraus folgt, daß es mit uns nicht gehen wird."

Katrin lächelte:

„Ich kannte ungleiche Ehen, die sehr glücklich waren."

„Da muß aber der ältere für seine Jahre jung und der Jüngere reif sein", bemerkte Marget.

Katrin nickte. Sie begann wieder von Müller zu spre­chen:

„Er hat Manieren, ist ein guter Musikus und jetzt so­gar Schulmeister."

„Schulmeister?" wiederholte Marget, „das ist nicht verlockend. Die Schulmeister, soviel ich weiß, gucken im­mer in die leere Schüssel."

„Du bist wählerisch. Auf solch eine Art bleibst du dein Leben lang allein."

Marget lachte laut auf. Dann sagte sie:

„In eurer Hütte ist es geradezu heimisch. Ich bin aber des Zusammenwohnens im Haufen müde und wäre froh, wenn ich allein wohnen könnte."

„Besuche mich öfters. Ich werde mich immer freuen", sagte Katrin.

Marget dankte und sagte verschämt: „Ich befürchte, Herrn Vorsteher lästig zu sein." „Hier wohnt auch Willem, gefällt er dir nicht?" Marget schaute Katrin starr an. Diese hatte sichtbar ei­nen wunden Punkt in Margets Gefühlen getroffen.

„Denkst du, ich könnte ihm gefallen? Ich glaube nicht daran. Solch ein Glück ist mir nicht beschieden", sagte Marget mit schwerem Herzen.

Katrin schwieg. Nach einer Weile sagte sie mit tiefem Ernst:

„Versuche es einmal, vielleicht bist du die Schlange, die ihn verführt. Er liebt reizende anmutige Weiber, Frechheit ist ihm zuwider. Darum sei bescheiden und bleibe ver­schlossen, nimm dich zusammen und lasse dich nicht durchschauen. Nur das Unergründete kann ihn verleiten."

Eine Gruppe Kolonisten unter der Führung von Peter von tier Lauterbach wollte sich nach Katharinenstadt bege­ben, urn Pferde zu kaufen. Das Vieh auf dem Katharinenstädter Markt kam von den Kalmücken. Auf Pferden rei­tend, die der Offizier Goguell zur Verfügung gestellt hat­te, traten die Kolonisten die Reise an.

Katharinenstadt lag näher zum Karaman als Pokrowsk. Der Weg war gefahrloser. Es ging geradewegs von der Karamanhöhe hinunter an die Wolga. Katharinenstadt und die Kolonien in ihrer Umgebung lagen dicht beieinander und konnten sich daher besser vor überfällen schützen. Die Stadt war eine kleine Siedlung aus Holzhäusern und einigen Lagerräumen mit Lebensmitteln und Gerätschaften für die Kolonien der Umgegend.

Der Markt befand sich außerhalb der Stadt auf freiem Feld. Handwerker aus Katharinenstadt boten ihre Waren auf dem Markt an. Doch die regesten Geschäfte machten die Viehhändler.

Das Vieh war schlecht gezähmt. Die Pferde scheuten. Beim Annähern eines Käufers bäumten sich die wilden und flinken Tiere der Steppe auf. Die Kalmücken wußten, daß die Kolonisten zahme Tiere schätzten, und sie bemühten sich sehr, ihren Tieren dieses Aussehen zu verleihen. Folg­te ein Pferd willig am Zügel, so war das höchst Mögliche erreicht. Eingefahrene Pferde gab es bei den Kalmücken nicht, weil sie keine Zugtiere gebrauchten.

Die Pferde der Kalmücken waren viel kleiner und schwächer als die Pferde in Deutschland.

Die Kühe waren nicht weniger wild als dre Pferde. Sie rissen und zerrten an ihren Stricken und brüllten drohend jeden Käufer an, der sich ihnen näherte.

Peter von der Lauterbach gefiel ein junger brauner Hengst. Er bat den Händler, er solle das Pferd vorreiten. Dieser wollte das anfangs nicht befolgen, als er aber sah, daß er mit seinem Käufer anders nicht einig werden konn­te, versuchte er vorsichtig, das Pferd zu hätscheln, und lispelte dem Tier beruhigend zu. Der Hengst aber schnaub­te wild mit geblähten Nüstern. Der Kalmücke schlich näher an das Pferd heran und hatte ihm augenblicklich den Zaum über den Kopf geworfen. Das Tier wurde ra­send. Es riß mit aller Gewalt an seinem Strick, bäumte sich auf und versuchte, seinen Bändiger mit Hufschlägen zu erreichen. Der Reiter zog die Zügel über den Kopf auf den Rist.des Pferdes. Drei Männer lösten den Strick vom Pfahl, hielten ihn aber straff fest. Mit einem Sprung saß , der Kalmücke auf dem Rücken des Pferdes. Die Männer lockerten den Strick. Das Pferd bäumte sich hoch auf und bockte in großen Sprüngen. Der Reiter aber saß fest auf dem Rücken des Tieres. Viele Zuschauer umstanden in ge­bührender Entfernung das bockende Pferd mit seinem Reiter. Unter ihnen entstand ein Streit. Die einen behaup­teten, daß das Pferd den Reiter abwerfen würde, die ande­ren aber stimmten für den Triumph des Reiters. Peter von der Lauterbach gehörte zur ersten Gruppe und setzte fünf Rubel auf die Wette.

Das Pferd ließ in seiner Wut nach. Die Bocksprünge wurden seltener und kraftloser. Plötzlich bäumte es sich so hoch wie nie zuvor auf, wieherte jämmerlich und fiel kraftlos zu Boden. Der Reiter war abgesprungen. Er trieb das Pferd hoch. Es stand still wie im Tran, teilnahmslos zu allem, was rundherum vorging. Sein Körper zitterte. Die Streitparteien wurden sich nicht einig, ob der Reiter nun abgeworfen worden sei oder sich das Tier ermattet erge­ben hätte. Da es keinen Schiedsrichter gab, blieb der Streit unentschieden.

Von der Lauterbach kaufte den Hengst, Johann Haal warnte ihn:

„Mit diesem Tier wirst du nicht viel anfangen können." „Du verstehst wenig von den Menschen. Ein Wider­spenstiger, der einmal geknickt wurde, wird zum gehorsamsten Untertan. So sind auch die Tiere. Bei uns in Re­gensburg war ein geschickter Tierbändiger und dieser sagte, daß ihm die Tiere nur deshalb so gut gehorchen, weil er mit ihnen umgeht wie mit Menschen."

Peter von der Lauterbach hatte ein Dutzend Pferde für die Kolonie angekauft. Das rechnete man als Ereignis. Zwar war es noch weit von der ersehnten Stunde, wo ein Pferd den Wagen ziehen würde. Doch ein Pferd zu besit­zen, war für jeden Kolonisten ermutigend. Sie verließen sich darauf, daß ihnen die Pferde helfen würden, Wohl­stand und Glück zu erreichen.

Von der Lauterbach beschloß, in Katharinenstadt zu übernachten. Der Weg in die Kolonie war unsicher. Oft lauerten Räuber in der Nacht an Wegen und erschlugen und beraubten reisende Kolonisten. Peter von der Lauter­bach ließ vorsorglich seine Pferde brandmarken, da ge­raubte Pferde gewöhnlich wieder auf den Markt zum Ver­kauf gebracht wurden. Dazu trieb er die Pferde zum Schmied Karl Weiler. Sein Gewerbe blühte. Hunderte Pferde wurden von den Kolonisten gekauft, und alle muß­ten gezeichnet werden.

Nachtquartier nahm von der Lauterbach bei Schreiner­meister Dörfler. Er besaß einen Schuppen mit Schlafbän­ken als Schlafraum für die Gäste, und sein Hof war fest umzäunt.

Meister Dörfler unterhielt sich gern mit seinen Gästen. Richtiger gesagt, er sprach gerne zu ihnen. Auf jede Fra­ge, die Dörfler gestellt wurde, gab er weitläufige Erklä­rungen. Viel erzählte er von dem jungen Pfarrer Baltha­sar Wernborner. Der Geistliche war vor nicht langer Zeit aus Orenburg an die Wolga gekommen und hatte sich mit Leib und Seele seinem Dienst bei den Kolonisten hingegeben. Den Edelmut dieses Mannes konnte Dörfler nicht genug loben. Von Katharinenstadt war Meister Dörfler sehr begeistert. Er malte sich für diese Stadt eine große Zukunft aus. „Auch Saratow war einst klein und schwach", erklärte er seinen Zuhörern. Dörfler lobte auch die Hand­werker in Katharinenstadt. Alle seien ausgesuchte Meister, Katharinenstadt begann den Bau einer Kirche. Dörfler hatte sich der Schreinerarbeiten angenommen. Er sagte, daß die Gemeinde ihn groß ehre und um ihn besorgt sei, da sie so einen geschickten Meister wie ihn nicht mehr finden würde. Die Umgebung von Katharinenstadt sei vortrefflich, prahl­te er. An der ganzen Wolga gäbe es keine so schöne Ge­gend mehr, breit und tief sei hier die Wolga, reich an Fi­schen, und schön von der Stadt aus anzusehen.

„Und wer hat den Platz ausgesucht?" wollte Peter von der Lauterbach wissen.

Dörfler stutzte. Er mußte erst nachdenken. „Die russische Regierung. Alle Orte für die Siedlun­gen waren doch schon bestimmt, ehe wir ankamen."

„Gewiß", sagte Peter von der Lauterbach. „Eine Re­gierung ist gescheit und muß ihren Untertanen alles ge­nau vorschreiben, wo sie zu gehen, wo zu sitzen und wo sie zu wohnen haben, sonst könnten die Untertanen noch meinen, sie dürften auch selbständig denken."

Die allerbegehrteste Ware auf dem Markt war der Ta­bak. Das Tabakrauchen fand immer größere Verbreitung. Auch die Kalmücken waren auf den Geschmack gekom­men. Sie zahlten erstaunlich hohe Preise, aber noch war Tabak rar, weil er in den Kolonien erst wenig angebaut wurde. Hans Haal hatte sich eine Tüte Samen bei einem Kolonisten aus Wittmann gekauft mit der Absicht, am Ka-raman Tabak anzubauen.

Meister Dörfler fragte Peter von der Lauterbach ver­traulich, ob sich auf seiner Kolonie nicht Jungfern oder Witwen befänden, die sich nach Katharinenstadt verheira­ten wollen. Er wisse hier, sagte er, tüchtige junge Män­ner, gescheite und gute Meister, die sich gerne eine Frau ins Haus nehmen möchten. Dörfler flüsterte Peter ins Ohr, daß er, wenn Peter eine Braut brächte, eine gute Beloh­nung zahlen würde.

Peter dachte sogleich an Frau Marget Wulf. Er könnte dem frechen Bauernknorren Riedel einen entschiedenen Strich durch die Rechnung machen. Frau Marget war schön und reizend, und Peter zweifelte nicht daran, daß sie einem Bräutigam gefallen würde. Am Karaman in einer Erdhütte wohnen oder in einem hölzernen Haus in Katha­rinenstadt, das würde sich manche Frau überlegen. Trotz­dem erklärte er tiefernst und belehrend:

„Eine Frau, das ist kein Stück Brot, das man abgeben kann, um den Hunger eines anderen zu stillen. Sie ist auch kein Wams, das man einem Frierenden gibt, damit er sich wärmen kann. Das Weib ist was Einziges auf der Welt und der schönste Teil des Menschengeschlechts."

Dörfler brauste böse auf.

„Willst du mich zum Heiraten verleiten? Ich habe schon zwei Jahre eine Frau im Bett und dazu die schönste in der Stadt."

„Frau Anna?" fragte Peter von der Lauterbach. „Ich habe ihr schon einigemal zugeblinzelt, und sie schien mir davon befangen."

„Duu...! Ich jage dich vom Hof", schrie Dörfler rot vor Zorn.

„Herr Wirt, haben Sie keine Angst. Frau Anna gefällt mir nicht."

Meister Dörfler sprach kein Wort mehr mit Peter.

Direktionsoffizier Goguell mahnte Seb eindringlich an seine Vorsteherpflichten. Er sollte die Kolonisten streng zur Arbeit anhalten und darauf achten, daß sie nicht ver­schwenderisch lebten, sich nicht dem Mißmut und dem Leichtsinn hingaben, und sie zwingen, sich endgültig in der Kolonie festzusetzen.

Seb war über Goguells Anweisungen empört. Er sag­te, daß jeder Kolonist sein Leben nach seinem Gefallen und Verständnis einrichten muß.

„Ein jeder Mensch kennt seine Fähigkeiten und Mög­lichkeiten am besten", erklärte er entschieden. „Ich werde gerechte und strebsame Menschen loben, Unzucht und Verbrechen bestrafen, das ist die Hauptsache meines Am­tes."

Goguell verzog das Gesicht.

„Da gehen Sie mit der Meinung unseres allerhöchsten Präsidenten der Kaiserlichen Kanzlei der Vormundschaft für Ausländer des Fürsten Grigori Orlow auseinander. Seine Hoheit besitzt Tausende Bauern und weiß, wie man mit ihnen umgehen muß." Seb horchte erstaunt. „Und welcher Ansicht ist der hohe Fürst?" „Nur einer", sagte Goguell, „die er von seinen Ahnen geerbt hat, die diese sich von ihren leibeigenen Bauern ge­macht hatten. Fürst Grigori Orlow ist der festen Meinung, daß den Kolonisten die geistigen Fähigkeiten fehlen, selb­ständig wirtschaftliche Tätigkeit anzustreben und ein be­dachtes Leben zu führen. Sie müßten, glaubt er, ständig an der Leine geführt und mit der Peitsche angetrieben werden, und diese wichtige Funktion müßten Edelleute ausführen. Die Vorsteher seien dabei nur Aufseher."

„Aber das Manifest, ist das aufgehoben?" fragte Seb. „Das Manifest", wiederholte Goguell, „es dient dem Zweck der Anwerbung von Kolonisten und wird bei der Verwaltung der Kolonien nicht zur Anwendung kommen." Seb verstand, daß Recht und Gerechtigkeit hier nicht zu suchen waren.

 

Überall auf den Hofplätzen wurden Gruben für Erd­hütten ausgehoben, Pfähle für Schuppen und Stallungen eingerammt. Holz zum Bauen holte man sich aus dem Wald im Karamantal. Die Saratower Wojewodenkanzlei hatte den Kolonisten für den Holzschlag den Wald am Wolgaufer zugewiesen. Doch der Weg vorn Karaman bis dorthin war weit, zwei Tage brauchte man für eine Fahrt. Mit den nicht an Zugarbeit gewöhnten Pferden war es so gut wie unmöglich, genügend Holz zu befördern. Man ent­schied sich darum für Waldfrevel in dem nahegelegenen Wald. Goguell und die Beamten aus der Wojewodenkanzlei schwiegen dazu. Wahrscheinlich wußten sie keinen an­deren Ausweg.

Seb und Willem hatten mit dem Bau von zwei Erdhüt­ten begonnen — Seb wollte es so. Willem fügte sich, ohne ein Wort zu sagen. Er hatte Sebs Gedanken erraten. Ka­trin war anzusehen, daß sie schwer an Willems Geständnis trug. Willem war müde. Er sehnte sich nach Ruhe.

Beide Hütten waren gleich groß angefangen und soll­ten auch in allem gleich vollendet werden. Seb und Wil­lem arbeiteten bis spät in die Nacht hinein und gingen todmüde schlafen.

Marget weilte beständig bei Katrin in der Erdhütte. Sie brachte Mehl, Grütze und Fett mit, und gemeinsam bereiteten sie in einem Kessel das Essen zu. Marget betrug sich bescheiden und sittsam. Sie ahmte eifrig Katrins Tu­genden nach. Katrin führte die Hauswirtschaft, Marget war ihre geduldige und getreue Gehilfin. Am Tisch saßen sie zu viert: zwei Männer und zwei Frauen. Selten nur trafen sich Margets und Willems Augen. Sie blieb stumm, doch ihr Blick drang Willem tief rührend ins Herz. Beim Essen wurde wenig gesprochen. Nach der schweren Arbeit waren die Männer hungrig und ihre Sinne nur auf das Essen gerichtet.

Eines Tages kam Anna Maria Kanter erregt in die Hütte von Seb. Tränen rollten ihr über die Wangen. End­lich begann sie zu sprechen. Sie brauchte von Herrn Vorsteher einen Rat. Sie erzählte, daß Peter von der Lauter­bach ihre Tochter Regine freien wolle und sie nicht wisse, was sie ihrem Töchterchen raten solle. Regine sei erst sechzehn Jahre alt, viel zu jung, um zu heiraten, aber der Bräutigam gefalle ihr über alle Maßen.

„Freit er für sich oder ist er Freiersmann?" fragte Seb.

Anna Maria war die Frage unverständlich.

„Peter von der Lauterbach hat mit Regine unter vier Augen gesprochen, sie hat mir gesagt, daß er ihr einen Heiratsantrag gemacht hat."

„Da darf ich mich nicht einmischen. Zwang ist beim Heiraten gefährlich. Die Ehe muß ein jeder aus freiem Willen eingehen."

Anna Maria nickte. Sie drehte sich auf dem Absatz um und sagte mit einem wütenden Blick auf Marget: „Unser­eins kann sich nicht so einschleichen wie diese da!"

Seb schüttelte erstaunt den Kopf.

„Eine richtige Heiratssucht ist da eingerissen."

Katrin lächelte besänftigend.

„Heiraten, das ist Glück, und einem jeden muß es be­schieden sein."

 

Die große Hitze am Karaman war für die Kolonisten schwer zu ertragen. Keiner von ihnen hätte früher ge­glaubt, daß es auf Erden so heiße Gegenden gibt. Zur Mittagszeit suchten alle nach schattigen Plätzen. Viele bade­ten im Karaman: der Fluß war eine Rettung vor der glü­henden Sonne. Auch die Erdhütten gaben kühlen Unterschlupf. Die heißen Sonnenstrahlen konnten das dicke Erddach nicht durchdringen. Noch immer wollte niemand glauben, daß es in dieser heißen Gegend einen kalten Winter geben kann.

In der Abendzeit wurden Pferde eingefahren. Für die Kolonisten war dieses ein gerngesehener lustiger Aufzug. Jung und alt versammelte sich auf einem freien Platz auf der Straße, wo die Männer die struppigen Pferde für ihren Dienst zähmten. Erst wurde dem scheuen Pferd das Kummet angelegt. Das Tier witterte in dem massiven Gegenstand, den man seinem Kopf näherte, Gefahr. Aus Angst sträubte es sich mit aller Gewalt. Zwei Männer hielten das Pferd am Zaum fest. Das Tier bäumte sich auf und versuchte, das Kummet abzuschütteln. Am Kummet waren zwei lange Stricke als Stränge befestigt. Zwei Män­ner zogen es an die Brust des Pferdes. Das Tier wehrte sich, wurde wütend, schlug mit den Hufen aus, biß und wieherte. Aber nach mehr oder weniger langem Kampf ergab es sich dem Willen der Kolonisten.

Einzelne Pferde ließen sich nicht einfahren. Sie wur­den meist billig verkauft.

 

Am Abend, als Marget nach Hause ging, stieß sie in der Hüttentür auf Willem. Sie blieb nahe vor ihm stehen und sah ihn fest an. Ein heißer Zug der Erregung durch strömte sie. Willem blickte befangen. Einen Augenblick schmiegte sich Marget an ihn, dann wandte sie sich schnell ab und ging.

Katrin saß in der Hütte, Sie hatte sich von der Tür abgewandt und sah mit starrem Blick zum Fenster am Giebeldach, durch das die roten Strahlen der untergehen­den Sonne in die Hütte drangen.

Willem trat ein. Unschlüssig stand er im Raum und schickte sich an, fortzugehen. Katrin rief ihn zurück.

„Marget", sagte sie, „liebt dich, und wenn du sie auch liebst, so heirate sie und quäle sie nicht länger." Willem schaute Katrin bestürzt an. Sie sprach ruhig weiter: „Du weißt, daß ich dich liebe und mich darum um dich sorge. Ich will dich glücklich sehen."

„Alles, was von dir kommt, ist mir teuer, auch Hohn und Spott", entgegnete er mit gehobener Stimme.

Katrin traten Tränen in die Augen. Sie konnte ihre Er­regung kaum bezwingen. Eine Weile starrte sie Willem an.

„Du weißt nicht, wieviel ich leide um dich, vom Schick­sal sind wir getrennt, fest und hoffnungslos."

„Und warum willst du mich verheiraten, mich von dir stoßen?"

„Dazu habe ich einen triftigen Grund. Ich kann nicht länger mehr nur fühlen, meine Kräfte schwinden, und ich muß denken. Hier in der Steppe sind wir angepfählt wie Tiere auf der Weide. Nur Familienglück kann uns hier er­halten, und das gönne ich dir. Verzeihe mir, wenn ich un­barmherzig scheine. Für dich bleibe ich ewig, die ich jetzt bin..."

Eine Zeitlang war es in der Hütte quälend still. Eine kurze Zeit, die unendlich lang war. Jeder fühlte die Grau­samkeit des Augenblicks. Von draußen drangen Stimmen­gemurmel und die harten Hufschläge trabender Pferde herein.

„Erst müssen wir die Hütte fertig bauen", sagte Wil­lem, „eine Frau unter ein fremdes Dach führen, möchte ich nicht."

Katrin schaute Willem fragend an.

„Oder willst du Marfa, die Atamanstochter, heiraten?" fragte sie.

Willem schüttelte verneinend den Kopf.

„Ich bleibe bei euch. Mit euch habe ich Deutschland verlassen, mit euch gehe ich auch weiter den Weg, den wir betraten, bis ans Ende."

Am Abend spazierte Willem mit Frau Marget von der Plattform, aui der die Siedlung angelegt war, hinunter in das Tal, dem Schatzhügel zu. Die Luft hatte sich abge­kühlt, und die Leute verließen ihre Behausungen, um im Freien frische Luft zu atmen. Einige Frauen sahen dem Paar neugierig nach. Die rothaarige Liese Götz verzog grimmig den Mund und stachelte die umstehenden Weiber an:

„Kennt die Marget am Ende einen Spruch, mit dem sie die Männer verlocken kann?"

Anna Maria Kanter fiel ein:

„Ich habe euch schon oft gesagt, Marget ist eine ganz Schamlose." Die Weiber sahen einander empört an. „Seht doch bloß, wie die geht."

Liese geiferte:

„Sie hat den schönsten und vornehmsten Burschen der Kolonie an sich gezogen, und wir haben das Nachsehen. Wenn sie wenigstens etwas Besonderes wäre, eine Schönheit oder tugendhaft. Sie ist nicht im geringsten besser als du, Anna Maria."

„Ja", stimmte Anna Maria zu, „das wollte ich eben auch sagen. Sie ist keinen Besseren wert, als ich einen ha­be. Ich muß aber mit meinem Martin zufrieden sein. So eine Marget nimmt sich den Willem! Das dürfen wir nicht zulassen, Weiber! Wir lassen uns zu viel von ihr gefallen. Wenn wir fest zusammenhalten,, läßt sie Willem im Stich. Wir müssen ihm nur alles über Marget stecken."

 

Direktionsoffizier Goguell sprach mit Seb. Goguell war unzufrieden mit den Kolonisten. Er sagte, daß seine.Vor­gesetzten empört seien wegen deren Trägheit. Ihm sei be­fohlen, den Vorsteher so einzusetzen, daß er die Kolonisten bei der Arbeit antreibt. Am Morgen bei Tagesanbruch soll der Vorsteher die Kolonisten wecken und ihre Arbeit den ganzen Tag überwachen. Die Mittagspause soll abgeän­dert werden, so auch das übliche Zwei-Stunden-Essen. Am Abend soll die Arbeit erst nach Sonnenuntergang abgebro­chen werden.

Seb brannte das Gesicht vor Zorn. Er fragte:

„Wer bin ich hier? Gewählter Vorsteher oder Aufseher von Le Roy?"

Goguell fühlte, daß er zuviel gesagt hatte. „Ich verstehe", lenkte er ein, „daß die Maßnahmen, die die Gesellschaft hier anwenden will, streng sind. Die Kolonisten sind ohnedies schon hart von ihrem Schicksal be­drängt. Jede neue Forderung kann sie in Wut bringen. Aber man darf auch nicht vergessen, daß die Kolonisten Schuldner der Gesellschaft Le Roy sind. Sie sind Verpflich­tungen eingegangen. Geld ist Gold und hat seine strengen und festen Gesetze, die niemand abändern kann, wenn es auch sein innigster Wunsch ist."

„Daraus wird nichts. Wir werden uns bei der Krone beschweren", schrie Seb erbost.

Goguell bemühte sich rasch, Seb zu beruhigen. Er gab zu, daß kein Mensch in der Mittagshitze arbeiten könne. Als Geheimnis erzählte Goguell, daß sich in Katharinenstadt und in anderen Kolonien an der Wolga hochgestellte Persönlichkeiten aufhielten, die erfahren wollten, was die Kolonisten von der Zarin denken, ob sie nicht treubrüchig sind. Die Späher seien Russen, verstünden aber. Deutsch und hätten.geheime Verbindungen zu Kolonisten, die sie über die Stimmung der Bevölkerung in Kenntnis setzen. Seb hörte Goguell mißtrauisch zu. Er sagte: „Unglaublich. Die Zarin hat nichts zu befürchten, sie hat ein Heer und viele Beamten, die sie schützen."

Goguell griente. Er beugte sich zu Seb hin und flüsterte ihm ins Ohr:

„Peter III., der Holsteiner, ist am Leben. Er sammelt ein Heer und will Petersburg einnehmen. Es ist möglich, daß er durch unsere Gegend ziehen wird. Wir müssen gemein­sam aufpassen, daß keine Kolonisten zu ihm überlaufen." „Es wäre nicht wünschenswert", sagte Seb, „daß unse­re Gegend zum Kriegsplatz würde. Den Krieg haben wir von Deutschland her satt."

Goguell lachte klug. Er wollte Seb zeigen, daß er in Regierungsangelegenheiten gut Bescheid wußte, und ihn zugleich mit seiner Offenheit gewinnen.

„Bis nach Saratow läßt Katharina den Holsteiner nicht kommen. Er ist zur Zeit in der Umgegend von Orenburg, das ist noch weit von hier. In Samara steht die Armee des Generals Mansurow. Wenn der Peter einmal zu fassen be­kommt, schlägt er ihn kurz und klein." Goguell lachte heiter. Nach kurzem Nachdenken sagte er ernst: „Ich glaube nicht im geringsten an die Gerüchte von Peter III. Es sind eher aufständische Bauern, die sich mit der Regierung auseinandersetzen."

 

Die Heumahd war in vollem Gange. Das Gras stand dürftig, und auch das nur in Bodensenken und im Karamantal selbst, aber es gab nahrhaftes und gutes Futter ab. In der heißen Sonne trocknete das gemähte Gras schnell und konnte schon nach einigen Tagen zu Haufen zusam­mengetragen werden. Seb war schon ein ganzer Bauer geworden. Er hatte ein Pferd und einen Wagen aus grobem Holzwerk, die er, wenn auch nur leihweise, von der Regie­rung erhalten hatte. Morgens in aller Frühe fuhr die Fami­lie in die Steppe, und den ganzen Tag über wurde bei brennender Hitze gemäht, zusammengefahren und in Hau­fen gesetzt.

Marget arbeitete bei Seb. Sie war allein und darum ge­zwungen, sich einer Familie anzuschließen. Wo konnte sie auch lieber sein als bei Willem, in den sie jetzt grenzenlos verliebt war? In seiner Nähe fühlte sie die schwere Arbeit nicht, die sie jetzt verrichtete.

Katrin hatte es Marget geflüstert, daß Willem, sobald die Erdhütte fertig sei, sie freien wolle. Marget wartete sehnsuchtsvoll auf diesen Tag. Kein größeres Glück konnte sie sich jetzt wünschen.

 

Damke kam in das Kolonieamt, um sich einen Paß aus­stellen zu lassen. Er hatte beschlossen, die Kolonie am Ka-raman zu verlassen. Er war der erste, der diesen Entschluß faßte. Gründe gab es viele, aber entscheidend war der: er wollte kein Bauer sein. Das Leben auf dem Lande war ihm zu einsam und zu eng.

Goguell war strikt dagegen:

„Die Werbungsgesellschaft kann ihr Geld nicht verant­wortungslos auseinanderlaufen lassen."

Damke erklärte, daß er seine Kronschulden im Kolonie­amt gleich allen anderen am Zahlungstermin tilgen wer­de.

„Aber den Zehnten, wer wird den geben?" fragte Go­guell.

Damke wurde böse.

„Ich bin niemand einen Zehnten schuldig, und wenn die Gesellschaft einen Zehnten von mir haben will, so kann sie sich ihn am Karamanberg holen. Ich lasse ihn dort zu­rück."

Goguell sah Damke drohend an:

„Was sich nicht biegen läßt, wird gebrochen. Es ist besser, wenn Sie sich fügen", stieß er hervor.

„Ich bin Offizier!"schrie Damke und richtete sich stramm auf.

„Gewesen", erwiderte Goguell, „Was Sie waren, müs­sen Sie vergessen."

Seb riet Damke davon ab, in die Stadt zu ziehen: „Hier, auf dem Lande, kannst du leichter auf die Beine kommen, erntest dein Korn, ziehst Vieh auf, hast deinen Wagen und schaffst dir so ein ruhiges gesichertes Leben." Damke ließ sich nicht überreden.

„Ich gehe nach Pokrowsk", sagte er, „und beginne ein Gewerbe. Ich zweifle nicht daran, daß es mir glückt."

„Um ein Gewerbe zu betreiben, muß man Mittel haben. Das Geschäft ist wie ein Feuer, wenn man kein Holz auf­legt, brennt es nicht", meinte Seb. Goguell mischte sich ins Gespräch: „Er ist Offizier, was versteht er von Geschäften. Es ist eine große Frage, ob er Talent dazu hat. Der Wille allein genügt da nicht."

Damke wandte Goguell den Rücken zu und tat, als hät­te er dessen Worte nicht gehört.

„Für einen kleinen Anfang habe ich Geld. Ich werde auf dem Markt handeln, zuerst mit Kleinigkeiten, mit allem, was man kauft und verkauft. Wenn ich dann eine alte Bude habe, krieg ich auch mit der Zeit einen Laden und später ein Gasthaus, was mein Ziel ist."

Seb schwieg. Er hatte nichts mehr zu sagen. Goguell er­klärte Seb, daß dessen eigenmächtiges Handeln ein Verstoß gegen die Paßordnung sei und er mit der Direktion zusam­menstoßen werde. Am nächsten Tag verließ Damke die Ko­lonie.

Le Roy war in der Kolonie erschienen. Er kam in einer vornehmen Kutsche wie ein hochgestellter Regierungs­beamter. Eine Eskorte aus zwei Reitern begleitete ihn. Mit­ten auf dem Siedlungsplatz hielt die Kutsche an, und Le Roy, ein fetter Franzose aus Lothringen, stieg aus. Er be­sichtigte mit strengem Eifer die Hütten und Schuppen, die im Bau oder schon fertig waren. Als erster begegnete ihm Peter von der Lauterbach. Le Roy mißfiel der lange unbefangene Kolonist, und er herrschte ihn an:

„Warum schlenderst du da am hellen Tage herum?" Peter von der Lauterbach maß Le Roy verächtlich von Kopf bis Fuß.

„Wer sind Sie, daß Sie sich unterstehen, mir Fragen zu stellen?"

„Vor dir steht dein Werbungsdirektor Le Roy."

„Wenn das so wäre, hätte ich endlich mal den Betrü­ger lebendig vor Augen."

Le Roy brauste auf.

„Soll ich dir vielleicht das Maul mit der Faust stop­fen lassen", schrie er und sah sich nach seinen Begleitern um. Die aber blieben ungerührt. Sie verstanden gut, daß, wenn sie eingriffen, ein Tumult mit der ganzen Kolonie nicht ausbliebe, und sie dann den kürzeren ziehen wür­den. Peter von der Lauterbach ballte die Fäuste und ging auf Le Roy los. Dieser retirierte nach seiner Kutsche. Pe­ter ließ die Hände herabsinken und blieb ruhig stehen. Er schaute bedauernd auf Le Roy.

„Keine Angst, Herr Direktor, ich dachte, Sie seien ein Edelmann und wollten mit mir einen ehrlichen Kampf auf­nehmen. Fliehende Gegner verfolge ich nicht. Ich mag keine Feiglinge."

Le Roy geriet außer sich vor Zorn.

„Wo ist dein Vorsteher?" schrie er. „Du sollst mir dei­ne Grobheit schwer büßen." Peter feixte, was Le Roy noch mehr erboste. „Den Faulpelz sofort aufs strengste bestra­fen!"

„Mit dem Vorsteher sei vorsichtig", warnte Peter, „sonst verhaut er dich wie einen frechen Spitzbuben." Peter trat einen Schritt auf Le Roy zu. Dieser sprang eilig in seine Kutsche und schrie von dort, so laut er konnte, nach dem Vorsteher.

„Schrei nicht so schrecklich, ich werde dir selbst den Vorsteher rufen", sagte Peter von der Lauterbach, „er ist auch nicht gut auf dich zu sprechen."

Von dem Lärm waren schon mehrere Kolonisten ange­lockt. Sie umstanden die Kutsche und schauten erstaunt auf den fremden Herrn, der die Neugierigen böse anstarr­te. Nun kam auch Seb hinzu. Er stellte sich Le Roy vor Le Roy begann sofort, ihn mit Schimpfworten zu überschütten. Seb befolge die Anweisungen der Direktion nicht und treibe die Faulenzer nicht zur Arbeit an. Die Koloni­sten, wütete er, seien schamlose Schmarotzer, Menschen ohne Ziel und Streben.

Einer, Philipp Schreiner, löste sich aus dem Menschen­ring und trat entschlossen auf Le Roy zu:

„Es reicht. Wir lassen uns nicht länger von dir beleidi­gen. Du kannst abfahren."

„Was!" schrie Le Roy. Seine Stimme überschlug sich. Er zeigte auf Schreiner. „Diesen und", Le Roy suchte mit dem Blick nach Peter von der Lauterbach.

„Und diesen", sagte Peter von der Lauterbach und zeig­te mit dem Finger auf sich.

„Ja, ganz richtig, diesen zwei verabreichen je zwanzig Peitschenhiebe."

In der Gruppe lachten einige laut auf. Le Roy bebte vor Zorn. Peter von der Lauterbach höhnte:

„Im voraus danke ich untertänigst für die milde Gabe, Herr Direktor." Er versetzte den Pferden vor der Kutsche mit einem Stock kräftige Hiebe, daß diese erschrocken davonstürmten. Der Kutscher konnte sie nicht aufhatten, weil ein Steinhagel die Kutsche verfolgte. Die beiden Reiter sprengten der Kutsche nach, ohne den geringsten Versuch zur Abwehr zu machen. Keiner der Kolonisten hielt mit sei­ner Freude über den eben errungenen Sieg hinter dem Berg. Nur Seb blieb ernst. Er verstand, daß das soeben Vorgefallene noch lange kein Endsieg war. Die Direktoren haben das Geld und damit die Macht über die Kolo­nisten. Geldfesseln wiegen schwerer als Ketten.

 

Trotz aller Schwierigkeiten ging das Leben auf der Kolonie vorwärts. Es wurde fleißig und eifrig gebaut. Die Kolonisten nannten ihre Kolonie Dachskolonie und sich selbst Dachse. Dabei war die Siedlung schon ein richtiges Dorf. Es gab eine Rinderherde und auch Schafe besaßen manche Kolonisten. Zwei Ferkel gab es ebenfalls im Dorf und auch eine Ziege. In der Nacht bellten Hunde nach dem Mond und am Morgen krähten Hähne.

Katrin und Marget knüpften Binsenmatten. Binsen gab es am Karaman genug. Mit den Matten verkleidete man Wände und Türen, sie dienten als Teppiche und als Matratzen auf den Pritschen. Die Binsenmatten wa­ren eine der ersten Waren, die man nach Katharinenstadt auf den Markt brachte. Schnur und auch Stricke fertigte man aus Riedgras. Auch das Korbflechten betrieben viele Kolonisten.

An der Einfahrt ins Dorf ließ Seb einen Pfosten mit einem Schild daran aufstellen. Darauf standen der Name der Kolonie und das Gründungsjahr 1767. Die Kolonisten glaubten fest an das Gedeihen ihrer Kolonie.

Der Weg nach Katharinenstadt war halbwegs befahr­bar, doch allein wagte sich niemand auf die drei bis vier Stunden lange Fahrt. Immer wieder hörte man von Räuberüberfällen auf Reisende. Daher sammelten sich zur Fahrt nach Katharinenstadt meist ein Dutzend oder mehr Fuhren, und ein jeder nahm irgendeine Waffe mit. Meist war es ein Beil, weil es auch bei Reparaturarbeiten un­terwegs dienlich war. Die Wagen bestanden ganz aus Holz, und nicht selten brach eine Achse, und es mußte eine neue eingezogen werden.

Müller machte jetzt immer ein würdevolles Gesicht. Er war ganz in seiner Schulmeisterrolle aufgegangen und trank nur noch heimlich Schnaps. Bei ihm in der Hütte, die ihm gleichzeitig als Amtsstube diente, saß mit ernster Miene Peter von der Lauterbach. Müller war sein Gegner.

„Regine ist noch zu jung, sie ist unmündig und läßt sich von kindlichem Leichtsinn leiten", erklärte Müller. Peter schaute Müller scharf an.

„Um zu heiraten, versteht Reg-ine genug, wenn es nicht so wäre, würde sie nicht heiraten wollen."

„Regine ist für die Ehe noch nicht rejf. Zu einer Ehe­frau gehören reife Gefühle", erklärte Müller.

„Die hat sie. Sie hat es mir ganz offen gestanden. Wäre ich sonst zu Ihnen gekommen?"

„Ich muß erst mit Regine selbst sprechen", sagte Mül­ler.

Peter widersprach: „Das geht nicht, Regine schämt sich." „Sehen Sie", erklärte Müller, „ein Beweis dafür, daß das Mädchen noch nicht heiratsfähig ist."

„Sie behaupten, Herr Schulmeister, was Sie. nicht wis­sen. Ich kenne Regine und weiß, was sie und wozu sie fä­hig ist."

Müller gab nicht nach:

„Sie sollten sich ein erwachsenes Mädchen zur Frau nehmen, die die Hauswirtschaft führen kann, die Ihnen zugetan ist und in allem Sie zu versorgen imstande wä­re. Eine gute Frau neben sich ist ein Paradies auf Er­den."

„Eine Mutter für mich habe ich nicht nötig." Müller sprach noch viel mit Peter von der Lauterbach. Peter hielt aber an seiner Forderung fest: er wollte sich mit Regine verloben. Vernunft, belehrte Müller, sei das Maß, mit dem man an die Heirat herangehen müsse. Auch damit ließ sich Peter von der Lauterbach nicht überzeugen. Müller drohte mit alten Gesetzen aus Deutsch­land, die vorzeitiges Heiraten verbieten. Auch dieses wies Peter zurück.

„Wir sind nicht in Deutschland, und hier am Karaman wirken keine Gesetze. Es sind heuer noch keine geschaffen worden."

„Wir brauchen hier keine Gesetze zu schaffen, man wird sie uns geben", erklärte Müller wissend und stolz.

„Das geht aber nicht so schnell", erwiderte Peter von der Lauterbach.

Müller erinnerte Peter von der Lauterbach an sein früheres Streben, in der Stadt zu leben, worauf Peter ent­schieden antwortete, daß er auf dem Land leben werde, da ihm das ländliche Leben gut gefiele. Müller ergab sich. Er war es müde zu streiten, vielleicht bedauerte er Peter auch. Eins war Müller klar geworden, daß es gar nicht so leicht ist, Menschen zu bevormunden, wenn man keine Machtmittel besitzt, außer der Kraft des Wortes.

Peter und Regine waren verlobt. Regines Mutter, An­na Maria Kanter, hatte sich seitdem völlig verändert: sie war sehr stolz geworden und antwortete auf die Grüße der Nachbarinnen oft nicht.

Die Zeit der Roggenaussaat nahte. Die Kolonisten gingen mit Eifer ans Werk. Sie erhofften von ihren Saa­ten Ernten, die ihnen zu einem besseren Leben verhelfen würden. Seb und Willem hatten schon ein ansehnliches Stück in der Steppe beackert. Es war unglaublich schwer, mit dem Hackenpflug den harten Boden zu bezwingen. Mühsam wurde mit dem schwachen Pferd etwas Erde ge­brochen, die den Samen aufnehmen sollte. Die Landstükke waren noch nicht verteilt, und ein jeder ackerte dort, wo es ihm gefiel. Niemand kannte das Land und das Klima am Karaman, um feestimmen zu können, wo bessere Ernten gedeihen könnten. Alles Wichtige für den Acker­bau in dieser Gegend war unbekannt und schwer zu erkunden.

Der Roggensamen mußte aus Katharinenstadt geholt werden. Offizier Johann Wilhelmi hatte ihn in Nishni Nowgorod angekauft und in Katharinenstadt eingelagert.

An einem Morgen fuhren elf Fuhren von der Kolonie nach Katharinenstadt ab. Der Himmel war trübe und re­genschwer. Mit beladenen Wagen auf so schlechten We­gen in den Regen zu kommen, war gefährlich, doch der Bauer kann auf gut Wetter nicht warten.

Lagerleiter in Katharinenstadt war Heinrich Weißer, ein. wortkarger und eigensinniger Mensch. Den Roggen­samen maß er mit einem Faß, das ein Pud Roggen fassen konnte. Weißer füllte aber das Faß nur bis zwei, drei Fin­ger unter dem Rand. Die Kolonisten protestierten dagegen. Weißer erklärte, daß er mit dem einbehaltenen Korn seine Verluste beim Vermessen decken wolle. Es kam zum Streit. Man konnte sich nicht einig werden. Die Koloni­sten beschwerten sich beim Hofrat Tilzin, der die Lager verwaltete. Weißer mußte nachgeben. Durch den Streit war jedoch viel Zeit verlorengegangen, und erst spät am Nachmittag konnten sich die Fuhren auf den Heimweg begeben.

Der Himmel hatte sich aufgehellt, und der Weg war trocken. Doch bei der überfahrt am Kleinen Karaman blieben einige Fuhrwerke im Sumpf stecken. Ihre Last mußte Sack für Sack über den Fluß gebracht werden. Es war schon gegen Abend, als die Fuhren vom Kleinen Karaman wegfuhren.

Von den elf Fuhrmännern hatte keiner an etwas Be­drohliches gedacht, als auf der Höhe am Karaman kurz nach Sonnenuntergang, nur noch eine halbe Stunde Fahrt bis. zur Kolonie, sich ein Trupp Reiter zeigte. Die Entfer­nung von den Fuhren bis zu den Reitern war nicht groß, und trotz der eingetretenen Dämmerung konnte man sie auf der noch besser beleuchteten Höhe zählen. Es waren zwanzig sehr verschiedene Reiter. Niemand von den Fuhr­leuten zweifelte daran, daß es Räuber waren. Aus welchem Grunde sollten hier friedliche Menschen in einem großen Reitertrupp erscheinen?

Einer, er war größer als die anderen und saß auf einem schönen starken Pferd, war höchstwahrscheinlich ihr An­führer. Er ritt etwas vor dem Trupp.

Die Fuhrleute versammelten sich bei Willem. Sie tru­gen ihre Beile mit sich und waren zur Abwehr bereit. Ein jeder der Kolonisten verstand, daß es zu siegen oder zu sterben galt. Willem befahl, die Fuhren im Kreise aufzu­fahren und jedes Pferd mit dem Zügel an den davorste­henden Wagen zu binden, damit die Tiere beim überfall nicht durchgehen konnten. Die Fuhrleute sollten sich in die Mitte der Wagenburg zurückziehen. Johann Haal schlug vor, auszuspannen, aufzusitzen und zu fliehen.

„Das Dorf ist nahe, und alle können sich retten", sagte er, „die ganze Kolonie wird dann die Räuber in die Flucht treiben."

Die Fuhrleute hatten sich noch nicht entscheiden kön­nen, da kamen die Räuber angesprengt. Der Hauptmann, ein Europäer mit einem kräftigen Vollbart, voran. Der Ge­danke daran, wie sich die Bande gleich auf die friedlichen Fuhrleute stürzen würde, war schrecklich. Sie schwangen Keulen, lange Messer und auch Fangstangen. Willem schrie:

„Männer, wehrt euch!"

Die letzte Furcht wich von den Kolonisten. Sie waren zur Wehr bereit, wie zu einem Werk, wo alle Kraft, Ge­schick und auch feste Entschlossenheit eingesetzt werden mußten. Sie hielten ihre Beile fester in den Händen. Peter von der Lauterbach war den Angreifern einige Schritte entgegengetreten. Er wollte sich des Hauptmanns anneh­men. Sein erster Schlag sollte dessen Pferd treffen, dann wollte er dem Räuber den struppigen Kopf spalten.

Es kam aber anders, als man erwartete. Die Räuber hielten ein Dutzend Schritte vor den Fuhren inne, starrten eine Weile die Fuhren und die Männer an, danach lenkten sie ihre Pferde zur Seite und ritten in ruhigem Trab da­von. Die Kolonisten sahen ihnen nach. Was die Räuber vom überfall abgehalten hatte, wußte keiner. Vielleicht fürchteten sie Widerstand, oder war ihnen das Korn als Beute nicht der Mühe eines Angriffs wert. Erst als die Räu­ber schon weit entfernt waren, setzten die Fuhrleute ih­ren Weg fort. Am hohen Himmel blinkten viele Sterne auf, und ein leichter kühler Wind blies über die Steppe. Schwarze Dunkelheit breitete sich über die Erde.

Willem gewahrte, daß Hans Haal fehlte und auch sein Pferd war nicht da. Alle verstanden sofort: Haal war zur Kolonie gejagt, um Hilfe zu holen.

Die Säcke mit dem Korn auf Haals Wagen wurden auf andere Wagen verteilt. Als sich der Zug in Bewegung setzte, kamen Reiter aus der Kolonie den Fuhrleuten entgegen. Unter ihnen war auch Haal. Das Dunkel aber hatte schon die Banditen verschluckt.

 

In der Kolonie war es keinem verborgen geblieben, daß Willem, und Frau Marget Wulf in vertrauten Beziehungen standen, und doch kam ihre Verlobung unerwartet. Es wurde darüber viel und heiß gesprochen.

Die Vermählung fand am Sonntag statt, als Pfarrer Johannes von der Nachbarkolonie Gottesdienst abhielt. Der Altar war in dem einzigen Haus der Kolonie errichtet. Da aber der Raum sehr klein war, fanden nur wenige Be­sucher Platz. Viele standen draußen vor der Tür und ver­folgten von dort die Zeremonie. Lieblich drangen Gesang und Gebete durch Tür und Fenster an die Ohren der Kolo­nisten, die andächtig lauschten. Müller spielte zum Gesang auf der Geige. Sein Spiel war rührend und vertiefte die Andacht der Besucher noch mehr. Alle erfüllte Stolz, daß sie so einen großen Musikus als Schulmeister hatten.

Nach der Kopulation begab sich das junge Paar im Zuge seiner Freunde in Willems Hütte. Alle trugen aus Deutschland mitgebrachte. saubere" Kleider, und das stimmte so heiter und traut, als hätte man die Heimat heute hier am Karaman. Einige Weiber vergossen Freudentränen.

Im Schuppen, der gerade noch rechtzeitig fertig gewor­den war, standen ein langer Tisch und Bänke — die Hoch­zeitstafel. Nicht weit vom Schuppen auf dem Hofe war in die Erde ein Herd gebaut, auf dem Katrin und einige an­dere Frauen das Hochzeitsessen kochten. Es gab auch Schnaps für alle. Für Musik sorgten Müller und Seb auf ihren Geigen. Nach dem Essen wurde getanzt und gesun­gen:

Einen Schleifer will ich haben,

einen Schleifer spielt mir.

Ich hab' ein schön Schätzchen,

und das gefällt mir.


Willem und Marget tanzten langsam im Kreise. Beide lächelten brav, wie es sich für sittsame Brautleute gebührt. Die Hochzeitsgäste geizten nicht mit Geld und wertvollen Geschenken.

Nach Sitte und Brauch tanzten nun als engste Freunde des Paares Seb mit der Braut und Katrin mit dem Bräu­tigam. Katrin und Willem drehten sich schweigend, bis Willem begann:

„Habe ich heute nicht einen Fehler begangen, den ich später bereuen werde? Mir ist eigenartig zumute."

Katrin senkte den Kopf. Willem wußte nicht, ob Katrin zustimmend genickt oder nur gerührt ihren Blick von ihm abgewandt hatte. Der Tanz war zu Ende, und sie mußten sich trennen. Beide waren erregt.

Am Tisch wurde voller Inbrunst gesungen. Ein jeder gab sein Bestes. Goguell war auch zur Hochzeit geladen, er war aber nicht erschienen. Seb war darüber beunruhigt, denn er befürchtete, daß Goguell die Einladung vielleicht mißverstanden hatte. Er war schließlich mit den Gewohn­heiten der Kolonisten nicht vertraut. Seb riet dem Braut­paar, Goguell persönlich zu ihrer Hochzeit einzuladen, was sie auch befolgten. Goguell aber lehnte dankend ab, da er Diener der Direktion sei und sich ihrem Willen fü­gen müsse.

„Die Direktion verbietet den Kolonisten aufs streng­ste, Hochzeiten oder andere Festgelage abzuhalten, da die Kolonisten dabei ein Teil ihres Gutes verschwenden und so der Gesellschaft Schaden zufügen."

Willem war darüber wütend.

Die Hochzeit war in vollem Gange, als Damke in die Kolonie kam. Er saß auf einem stolzen Pferd und sah ver­ändert aus: Das Leben in der Stadt hatte sein Gesicht et­was geglättet und auch seine Haltung war neu. Willem lud Damke sogleich zur Hochzeit ein. Damke bemühte sich um ein freundliches Gesicht, doch innerlich war er so ver­stimmt, daß er es kaum verhehlen konnte. Sebs Worte:

„Du hast Glück, bist gerade zur rechten Zeit gekom­men", reizten ihn noch mehr.

„Ich hätte wahrlich vor der Kopulation erscheinen sol­len oder noch früher", sagte er. Seb verstand den Ernst dieser Antwort und schaute mißtrauisch drein.

Noch vor ihrem Ende verließ Damke die Hochzeit. Er ging in Müllers Hütte. Sein alter und getreuer Freund, als er endlich kam, empfing ihn freudig. Er schüttelte ihm lange und fest die Hand, danach drückte er ihn auf die Pritsche nieder und setzte sich neben ihn. Kurze Zeit schauten sie sich prüfend in die Augen. Damke fragte:

„Nun, und wie weiter? Was wird aus uns hier werden?"

Müller war zufrieden, daß sein alter Kamerad bei ihm Rat suchte. Er begann zu erklären:

„Das Leben des Menschen ist sein Werk, und er allein trägt die Verantwortung dafür, darum muß er wirken und schaffen, kämpfen gegen allerhand ihm von der Natur und Menschenhand gestellte Hindernisse."

Damke machte ein mißmutiges Gesicht und wollte plötzlich wissen, wie es kam, daß Willem Marget heiratete? Dieser hielt doch immer so viel von sich und hatte niemals nach Marget geschaut.

Müllers Gesicht verfärbte sich dunkelrot: „Das hartnäckige Bauernweib ließ sich nicht überreden. Sie wird es bereuen. Zweimal habe ich mich ihr angebo­ten, und jedesmal hat sie abgelehnt. Ich bin schon fast überzeugt, daß der Teufel in ihr steckt und mich mit ihr neckt."

Damke sann eine Weile nach, dann sagte er: „Marget muß von Willem befreit werden. Rate mir, wie ich das bewerkstelligen kann."

Müller war über diese Frage bestürzt. „Das ist unmöglich", sagte er kurz. „Es muß aber geschehen. Marget will ich zur Frau ha­ben, und sie wird es werdet", sagte Damke mit einer Bestimmtheit, die keinen Zweifel zuließ.

„Was kannst du da machen? Willem ist ihr rechtmäßi­ger Mann."

Damke schaute Müller prüfend an. Es schien, als über­lege er, was dieser gesagt hatte.

„Davon später." Damke erhob sich, reichte Müller zum Abschied die Hand und schickte sich an, fortzugehen.

„Wohin?" fragte Müller besorgt, „die Nacht steht vor der Tür."

„Meine Geschäfte verlangen mich."

„Dich können auf dem Wege Räuber überfallen", warn­te Müller.

Damke zog unter seiner Jacke zwei Pistolen hervor:

„Vier Schuß, die richten was an." Er lächelte zufrieden und sagte: „Ein Offizier verläßt sich auf seine Waffe."

 

Zweites Kapitel

KRIEG AM KARAMAN

Überall flüsterte man von Peter III., der sich mit sei­nem Heer den deutschen Kolonien am Karaman näherte. Wie Nachrichten aus Katharinenstadt fneldeten, waren Vortruppen unweit von Schaffhausen gesehen worden., Die Soldaten, erzählte man sich, seien starke Krieger. Jeder einzelne von ihnen sollte imstande sein, zehn Mann des Gegners zu besiegen. Der Zug der Aufständischen be­wegte sich ungemein schnell, ohne Aufenthalt, da jeder Widerstand gnadenlos gebrochen wurde. Pugatschow, wie man Peter III. nannte, konnte also in einigen Tagen in Katharinenstadt sein. Ein Grund zur Flucht für Offiziere, Beamte und Adlige, weil Pugatschow mit ihnen kurzen Prozeß machte. Gemeinen Leuten täte er nichts zuleide, wollten einige wissen.

Alle diese Gespräche verwirrten die Menschen. Es war Erntezeit, wo alle Kraft in der Arbeit hätte eingesetzt werden müssen. Aber die Ungewißheit lähmte allen Fleiß.

„Die ähren" meinten manche Kolonisten, „werden die Soldaten nicht mitnehmen können, aber Korn können sie beschlagnahmen." Der Siebenjährige Krieg war den Kolonisten noch gut im Gedächtnis, und für sie zählte jeder Krieger als Räuber, ganz gleich, ob er der friedlichen Be­völkerung ihre Habe auf gesetzlichem oder ungesetzlichem Weg wegnimmt.

Marget weinte oft. Sie fürchtete Krieg. Katrin redete ihr gut zu und meinte, daß der Krieg am Karaman nicht so grausam sein werde wie in Deutschland, weil es hier keine Preußen gäbe. Soviel Katrin sie auch zu trösten ver­suchte, Marget ließ sich nicht beruhigen.

Willem verhielt sich zu den Gesprächen über Puga­tschow ganz anders. Ernst und furchtlos schien er sogar auf den Krieg zu warten. „Krieg ist nötig, weil es Zustän­de gibt auf der Wejt, die die Menschen auf friedlichem We­ge nicht abändern können, da ihnen dazu die Geduld nicht ausreicht", sagte er jedem, der es hören wollte.

Immer wieder versuchte Marget einzulenken:

„Wir haben jetzt einen Hof mit Pferden und Kühen und notwendigem Geräte. Alles ist unser Eigen, und wenn uns Gott segnet, werden wir auch Kinder haben. Der Krieg wird uns nur Unheil bringen."

Willem bedauerte seine Frau.

Goguell bestellte Seb zu sich. Offizier Paul Runitsch und einige Beamten hatten ihn ebenfalls aufgesucht. Die Gäste sahen besorgt aus. Runitsch fragte Seb ohne Um­schweife, wie die Kolonisten zu Pugatschow gestimmt sei­en, ob es Kolonisten gäbe, die sich ihm anschließen könn­ten.

Seb zuckte mit den Achseln und sagte, daß er von sol­chen Vorhaben bis jetzt nichts gehört habe. Es sei aber nicht ausgeschlossen, daß der eine oder der andere aus bestimmten Gründen bei Pugatschow Zuflucht suchen wird.

Runitsch dachte einen Moment nach und wollte dann wissen:

„Gibt es in der Kolonie dem Throne treue Leute, die bereit wären, gegen den Aufwiegler zu kämpfen?"

Seb erinnerte den Offizier an die Zusage der Regierung, daß die Kolonisten keinen Kriegsdienst zu leisten brau­chen. Daraus verstehe sich auch die Haltung zu Puga­tschow, der sich gegen die Regierung erhoben hat.

„Wir bleiben", sagte er mit Bestimmtheit, „von jedem in diesem Krieg fern."

Runitsch schüttelte mißbilligend den Kopf. Süßlich lä­chelnd fuhr er fort:

„Ich hatte vergessen, daß Sie Ausländer sind. Sie wol­len mit uns nichts zu tun haben uud stellen sogar unsere allergnädigste Monarchin mit dem Erzrebellen Puga­tschow gleich."

Seb war gereizt:

„Wir flohen vom Krieg nicht, um erneut Krieg zu füh­ren."

Eine Weile herrschte peinliche Stille. Runitsch unter­brach sie.

„Wenn sich ein Trupp Kolonisten finden sollte, der zum Schein zu Pugatschow überginge und ihn töten würde, so gäbe es dafür eine Belohnung." Runitsch erklärte weiter: „Das Töten von Pugatschow ist nicht nur gerecht und brav, es ist auch im höchsten Grad tapfer und rühmlich. Es würde nur das gerechte Urteil der Regierung und aller ihrer züchtigen Untertanen vollstreckt werden." Seb wehrte entschieden ab:

„Für solche Art Aufträge bin ich nicht der Richtige."

Runitsch beendete das Gespräch, denn seine Aufgabe war streng geheim, und für den Anfang hatte er genug er­fahren. Er konnte sich ein Bild von dem Kolonistenvorste­her machen, was für ihn sehr wichtig war. Die geheime Kommission zum Kampf mit Pugatschow, der Runitsch an­gehörte, verfügte über Nachrichten, daß Pugatschow von den Kolonisten in der Umgegend von Saratow eine gute Meinung habe. Er schätze den deutschen Freiheitssinn, den er im Siebenjährigen Krieg kennengelernt hatte. Der drei­ßigjährige Führer des großen Aufstandes hege nicht wenig Hoffnung auf Unterstützung und Beistand von seiten der Kolonisten. Freilich war es auch für ihn kein Geheimnis, daß die Kolonisten keinen Grund hatten, mit der Zarin und dem russischen Adel sehr zufrieden zu sein.

Am selben Tag verließ Runitsch die Kolonie in Rich­tung Pokrowsk. Goguell fuhr mit.

Einige Stunden nach ihrer Abfahrt sprengte ein Trupp Reiter in die Kolonie. Wütend stürmten sie Goguells Haus und fragten nach einem fremden Offizier. Die Reiter ge­hörten zu Pugatschow. Sie sahen waghalsig und furchtlos aus. Den Kolonisten drohten sie mit Todesstrafe, wenn sie sich ihrem Willen widersetzten. Von Seb verlangten sie eine gute Beköstigung und Korn für die Pferde. Seb wußte nicht, woher er soviel Essen und Getreide hernehmen soll­te. Der Anführer drohte:

„Bei Nichterfüllung legen wir dem Vorsteher einen Strick um den Hals und hängen ihn an die Sonne zum Trocknen."'

Weiter verlangten die Pugatschower Reiter die Bereit­stellung von einem Dutzend Sättel, sobald sie wiederkä­men.

Noch am selben Tag verließen die Pugatschower Rei­ter die Kolonie, nach dem sie Seb den Befehl Pugatschows mitgeteilt hatten, mit dem dieser anordnete, daß alle Be­wohner während des Vorüberziehens seines Heeres ihre Behausungen nicht verlassen dürfen.

Es bestand jetzt nicht mehr der geringste Zweifel, daß Pugatschow näher kam. Jeden Tag konnte er eintreffen.

Der Krieg schien unvermeidlich. Die Kolonisten ließen schwermütig die Köpfe hängen, keiner wußte Rat. Alle verstanden, daß man aus dem Regen in die Traufe gekom­men war.

Am darauffolgenden Tag kamen erneut Reiter in die Kolonie, Diesmal befanden sich unter den Pugatschow-Leuten auch ein paar Dutzend Kolonisten. Die Leute in der Kolonie waren enttäuscht. Anstatt eines großen diszipli­nierten Heeres, wie man erwartete, war in großer Unord­nung ein Haufen Reiter erschienen, der in einer Schlacht gewiß nichts Besonderes ausrichten konnte. Ihr Haupt­mann befahl, sofort die Pferdeherde der Kolonie zusammenzutreiben, damit sein Trupp die Pferde wechseln konn­te. Ebenso sollte mit allen Reitsätteln, die vorhanden wa­ren, verfahren werden. Auf Weigerung stand die Todes­strafe.

Nach kurzer Zeit war alles erledigt. Pugatschows Rei­ter hatten sich die besten Pferde aus der Herde, darunter auch ein Pferd von Seb und zwei von Müller ausgewählt. Ihre abgejagten Tiere ließen sie zurück. Einer der mitge­kommenen Kolonisten, er hieß Hans Meyer, trat auf Regi­ne zu und sagte ihr, daß er, wenn Pugatschow gesiegt hat, sie heiraten wolle. Regine war darüber sehr erschrok-kerr und konnte nur erwidern, daß sie bereits glücklich verheiratet sei. Hans Meyer nickte verständnisvoll und erklärte:

„Dein Mann ist von der Lauterbach. Er ist adeliger Herkunft. Ihn erhängen wir auch, und du bist frei."

Regine versetzte Meyer einen Fußtritt, daß er rück­wärts taumelte. Dann raffte er sich auf. Sein Gesicht brannte vor Zorn, rasend stürzte er sich auf Regine, die hinter die umherstehenden Weiber floh. Meyer stieß die Weiber beiseite und versuchte, Regine zu erwischen. Schreckensschreie erfüllten die Luft. Den Tumult hörte der Hauptmann. Er gebot Ruhe. Regine mußte dem Haupt­mann das Vorgefallene erklären. Die Weiber bestätigten ihre Worte. Der Hauptmann maß Meyer, der beschämt den Kopf hängenließ, mit strengem Blick. Gespannt erwarte­ten alle den Urteilsspruch des Hauptmanns.

„Sofort, befehle ich, verläßt du uns! Wir sind Puga­tschows Soldaten und leiden unter uns keine niederträch­tigen Bälge. Fort aus meinen Augen!" entschied er.

Meyer ging mit langsamen schweren Schritten weg.

„Schneller", schrie der Hauptmann, und Meyer, von Furcht getrieben, lief schleunigst in Richtung Karamantal, wo er im Gebüsch verschwand.

Die Pugatschow-Reiter verließen die Kolonie ebenso unorganisiert, wie sie gekommen waren. Sie nahmen ih­ren Weg in die Steppe in Richtung der Metschet. Nur eine große Staubwolke wogte über der Erde. Vielen Kolonisten hatte das ein großes Loch in ihren Besitz gerissen. „Wenn es so weitergeht, wird es bald auf der Kolonie weder Vieh noch Brot geben", befürchteten viele.

Katrin war guter Hoffnung und erwartete ihre Nieder­kunft. Sie riet Seb, sich ein Versteck herzurichten, und wenn wieder Pugatschow-Reiter kämen, nicht hervorzukommen. Seb lächelte gutmütig über ihre ängste. Er fürch­tete Pugatschow nicht. Er meinte zu wissen, daß der Auf­stand ihm nicht viel schaden könne. Er glaubte, an dem Krieg keinen Anteil zu haben. So begab er sich ruhigen Gemüts zur Tenne.

Die Ernte war das erste Mal gut ausgefallen. Im letz­ten Herbst hatte es viel geregnet, der Winter war reich an Schnee, und so stand das Getreide gut auf dem Halm. Noch einige solche Ernten, und die Kolonisten könnten festen Fuß fassen. Seb begann sich nun doch über den Krieg zu ärgern. Für sein starkes Pferd, den großen Rap­pen, hatte man ihm ein schwaches, halbtot gerittenes zu­rückgelassen. Das Tier bedurfte langer Ruhe und guter Pflege, um wieder zu Kraft zu kommen.

Die heiße Sonne brannte wie gewöhnlich vom Morgen bis zum Abend. Höhen und Wege lagen kahlgebrannt, und Wirbelwinde trieben große Staubwolken in die Luft. Nur im Karamantal und in den Senken war das Gras noch grün. Hoch am Himmel schwebten Habichte, und in der trockenen Steppe pfiffen Ziesel.

Am Abend kehrte Goguell in die Kolonie zurück. Er versammelte die Gemeinde und verlas ein Schreiben von General Mansurow, das viele Leute zu ernstem Nachdenken veranlaßte. Der Generalermahnte die Kolonisten zur Treue gegenüber der Zarin und ihrer Regierung. Mancher Kolonist, der geneigt war, sich Pugatschow anzuschließen, geriet in Zweifel. Das war auch nicht verwunderlich, wenn man die losen Reiterhaufen von Pugatschow mit der Ar­mee eines Generals verglich. Mansurow bat 25 000 Rubel für den lebend abgelieferten Pugatschow. Das war ein neuer Akzent. Demnach war Pugatschow gar nicht so un­bedeutend.

Goguell schärfte den Kolonisten eine Reihe von Verhaltensregeln ein, für den Fall, daß Pugatschow mit sei­nen Leuten in die Kolonie kommen sollte. „Auf keinen Fall Gewalt anwenden, das kann Strafmaßnahmen seitens der Rebellen zur Folge haben, was letztlich der Regierung schadet, bei der ihr hoch verschuldet seid", schrieb er den Kolonisten vor. Die Männer sollten sich in Verstecken aufhalten, um ein gewaltsames Angliedern an Haufen zu verhindern.

Die Versammlung ging auseinander. Die Leute waren bei Versammlungsende sehr verschiedener Meinung von Pugatschow und dem Ausgang des Krieges. Aber alle wa­ren neugierig auf ihn und seine Taten. Man erzählte, der Führer des großen Aufstandes sei in allem maßlos: Ohne Grund ließe er Menschen erhängen, beschlagnahme Besitz bis auf den letzten Löffel, begnadige große Verbrecher und Gauner und verteile an die Leute Wertsachen für viele Tau­sende Rubel, was sich vor allem Landstreicher zu Nutze machen würden. Er täte, was und wie es ihm in den Kopf käme, ohne überlegung, Berechnung und Untersuchung. Er fühle sich als Alleinherr über alle und alles. Wer gegen seinen Willen sei, den vernichte er ohne Gnade.

Am Abend bei Anbruch der Dunkelheit verließ Peter von der Lauterbach mit fünf jungen Burschen auf dem Wege zur Metschet die Kolonie. Viele Leute sahen die klei­ne Reitergruppe, und keiner fand an ihr etwas Ungewöhn­liches. Die jungen Burschen hatten das Reiten gern. Peter von der Lauterbach war gerne mit den Jungen zusammen und nahm mit Vergnügen an deren Treiben teil. Die Bur­schen ihrerseits mochten ihn und taten bereitwillig, was er verlangte. Das Ausreiten auf die Nachtweide war in der Kolonie zur Gewohnheit geworden, da die Pferde in der kühlen Nacht viel besser grasten als bei Tageshitze.

Am Morgen, als die Nachtweidler heimkehrten, fehlten Peter von der Lauterbach und seine Jungen. Manche Leute auf der Kolonie befürchteten ein Unglück, da es in der Steppe immer unsicher war und ganz und gar in der Nacht. Die Räuberei in der Gegend war groß. Es sollten sich sogar Kolonisten mit der Räuberei befassen.

Die Familien der Burschen und auch Regine waren un­besorgt. Regine erklärte, daß Peter mit den Jungen wahr­scheinlich Kalmücken aufsuchen wird, um Pferde zu kaufen. Kalmücken an ihren Aufenthaltsorten aufzusuchen, war vom Saratower Kontor der Tutelkanzlei verboten, weil öfters dabei Kolonisten beraubt oder gar ermordet wurden. Darum hatte Peter von der Lauterbach sein Vor­haben sicherlich geheimgehalten.

Es vergingen Tage, und Peter von der Lauterbach und die Burschen kamen nicht zurück. Jeden Tag zogen durch die Kolonie fremde Reiter, einmal waren es Reiter von Pugatschow in Kaftanen und Hosen aus Leinen, ein ande­res Mal Soldaten der Zarin in strammer Ordnung und in Uniformen aus Tuch. Die Kolonisten wußten schon nicht mehr, unter wessen Botmäßigkeit sie sich befanden, der der Zarin oder Pugatschows. Es schien, als ließen sich beide Seiten Zeit zu entscheiden, wer die Steppe räumen muß.

Seb besuchte Regine in ihrem Haus. Er schlug vor, eine Gruppe Männer auszuschicken, um Peters Schicksal zu klären. Regine lehnte ab.

„Mein Mann ist kräftig und gescheit genug, um allein aus jeder Lage herauszukommen."

Seb ließ sich überreden, aber der Vorsorge halber or­ganisierte er eine Truppe Männer, die zu jeder Zeit bereit sein sollte, Peter zu suchen, überhaupt, in der Steppe je­manden zu suchen, war schwer. Der Reisende befand sich in der endlosen Ebene wie auf dem Meer: nirgends waren Wege noch Siedlungen wie in Gegenden seßhafter Men­schen. Orientierungsmöglichkeiten waren die Himmels­richtungen. Die Kolonisten am Karaman hatten es inzwi­schen recht gut gelernt, sich in der Steppe zurechtzufin­den. Um an den großen Tümpel zu kommen, orientierte man sich am Kalmückenhügel, der Suslykhöhe und am blauen Wermutsrücken.

Peter von der Lauterbach erschien eines Nachts mit seinen Jungen. Alle waren am Leben und heil. Von der Lauterbach führte eine Herde Pferde mit sich. Viele Leute waren von den Hufschlägen geweckt worden und kamen auf die Straße gelaufen. Verwundert sahen sie, wie die Tiere von selbst ins Gatter liefen. Doch bei der Dunkelheit war genaueres nicht zu erkennen, und so begaben sich al­le wieder zur Ruhe.

Früh am Morgen erschienen die Männer an der Einzäunung, und wie groß war ihr Erstaunen, als der eine seinen Braunen erkannte, ein anderer seinen Fuchs und ein dritter seinen Falben. Es waren alles Pferde, die eini­ge Tage zuvor von Pugatschows Leuten in der Kolonie re­quiriert worden waren. Seb erkannte seinen großen Rap­pen, schüttelte böse den Kopf und sagte streng zu Peter von der Lauterbach:

„Peter von der Lauterbach, erscheinen Sie sofort bei mir im Amt, Sie sollen mir Rede und Antwort stehen."

„Sehr gern, Herr Vorsteher", erwiderte Peter bereitwil­lig, „Sie sollen alles genau erfahren; wie die Sache ausge­dacht war und wie es in Wirklichkeit geschah. Nichts wer­de ich vergessen und auch nichts verheimlichen. Alles ge­schah mit Recht, ohne Lug und Trug. Und die Jungen sind zu loben. Sie sind furchtlos, geschickt und bewiesen sich als tüchtig und tapfer."

Peter von der Lauterbach wandte sich an die rechtmä­ßigen Besitzer der Pferde.

„Nehmt euch eure Pferde und benützt sie wie zuvor. Alte Schuld schiebt auf mich."

Schulmeister Müller trat auf Peter zu und sagte:

„Ich nehme meine Pferde nicht. Wer sie genommen hat, der soll sie mir auch zurückgeben."

Peter maß den Schulmeister mit einem strengen Blick.

„Der, den Sie da meinen, hat den Weg hierher verges­sen, und da habe ich mir die Zurückerstattung erlaubt."

„Das ist eine andere Sache. Ich glaube Ihnen... Und was bin ich Ihnen für ihre Bemühungen schuldig?" frag­te Müller.

Peter dachte lange nach. Es schien, als sei seine For­derung so groß, daß er sich nicht getraue, sie auszuspre­chen. Endlich hob er entschlossen den Kopf, schaute streng den ihn umstehenden Männern in die Augen.

„Ein jeder von euch hat mir und den Burschen einen ehrlichen Dank abzustatten." Die Männer atmeten er­leichtert auf. Einige lachten. Peter sprach weiter: „Wer einen falschen Dank gibt, der wird kein Glück mit sei­nem Pferd haben." Alle lachten heiter, und auch Peter lachte mit.

Mit Seb im Vorsteheramt war das Gespräch ernster. Peter erzählte, wie er das Lager der Pugatschowtruppe an der Metschet erspäht hatte. In der Nacht, als die Wache bei den Pferden schlief, pirschten sie sich an die Herde heran und trieben sie fort.

„Alles ging gut. Pugatschows Reiter an der Metschet sind jetzt ohne Pferde. Sie haben aber eine Menge be­schlagnahmte Sachen und Geld und können sich bei den Kalmücken Pferde kaufen oder requirieren. Jedenfalls uns finden sie nicht. Wir haben sie gehörig irre gemacht."

„Du bist ein Pferdedieb, ein Räuber", sagte Seb voll Zorn.

„Ein Dieb? Das ist unmöglich. Jeder Mensch ist die Fortpflanzung seiner Eltern. In unserem Stamm gab es keine Diebe. Räuber? Dagegen habe ich nichts einzuwen­den. Meines Großvaters Schloß auf dem hohen Felsen war ein richtiges Räubernest. Auch mein Vater hat geräubert, also darf auch ich die Lust zum Rauben haben."

Seb fragte streng:

„Hast du die Pferde gekauft oder hast du sie ge­borgt?"

Peter machte ein betrübtes Gesicht:

„Ich habe sie zurückgenommen. Soll ich stillhalten wie ein Lamm auf der Schlachtbank? Das kann ich nicht. Ich muß mich wehren um jeden Preis. So ist meine Na­tur. Ich ergebe mich niemandem."

Seb dachte an seinen großen Rappen. Es war ein erst­klassiges Pferd, und er hatte es sehr nötig.

„Gut", sagte Seb, „diesmal verzeihe ich dir, aber mer­ke dir, daß ich das Stehlen und Rauben aufs strengste be­strafen werde. Wir dürfen unsere Ehre am Karaman nicht verlieren."

Willem kam aus Katharinenstadt zurück und hatte sich gänzlich verändert. Er war tief erregt. überall in der Stadt erzählte man von Pugatschow und seiner Kühnheit.

„In Katharinenstadt hat er viele Anhänger. Manche sind bereit, zu ihm überzugehen. Man verspricht sich da­von ein freies und gutes Leben. Vor großen Schlachten braucht man sich da nicht zu fürchten. Die Regierung wagt es nicht, Pugatschow ernsthaft anzugreifen. Sie ist viel zu schwach dazu", erzählte er.

Hans Haal widersprach:

„Das sind nur Gerüchte. Im Siebenjährigen Krieg gingen auch solche Erzählungen um. Die Leute glaubten Sie und wurden irr davon. Eine Regierung ist immer stärker als ein Haufen Aufständischer."

Willem machte ein angewidertes Gesicht.

„Dir reicht ein warmes Bett und ein Kessel mit Essen. Mit allem anderen bist du überfordert. Es gibt aber auch Gott sei Dank Männer, die mehr vom Leben verlangen."

Am Abend versammelten sich bei Willem Kolonisten. Die Männer wollten mehr von Pugatschow hören. Für einige war Pugatschow, da er aus dem Volke stammte, derjenige, der ihnen Rechte und ein sicheres Leben geben konnte. Andere bezweifelten seine Allgewalt, da es ihrer Meinung nach noch keine Regierung auf der Welt gege­ben hatte, die das Volk vor Fürsten und Adel geschützt hätte.

Johannes Holzer fragte:

„Was wird Pugatschow mit den Kolonisten machen? Er kann sagen, schlagt die Kolonisten tot, sie sind von der Zarin hierher gerufen, also sind sie ihre Günstlinge, ihr Vertrauensvolk."

Hans Haal entgegnete scharf:

„Pugatschow wird nichts Schlimmes tun, ehe er nicht die Wahrheit weiß."

Willem fiel ihm ins Wort:

„Erdenken können wir uns viel, aber helfen tut es uns nicht. Mich jedenfalls schreckt auch das Allergefährlich ste nicht. Mein Weg ist mit Pugatschow. Ich glaube an ihn. Der Mann kämpft und fürchtet sich nicht."

In später Nacht gingen die Männer auseinander. Küh­ler Wind blies über die Steppe. Der Himmel war dunkel. Weit in der Ferne grollte Donaer und zuckten Blitze.

 

Willem erschien bei Katrin. Sie hatte sich sehr verän­dert: immer schwermütig und zu allem gleichgültig. Auf Willems Frage, warum sie so betrübt sei, lächelte sie traurig:

„Mir stehen schwere Stunden bevor. Niemand weiß, was die nächsten Tage bringen."

Beide schwiegen eine Weile. Dann sagte Willem:

„Ich gehe zu Pugatschow."

Erschrocken schaute Katrin ihn an.

Willem trat nah an Katrin heran, ergriff ihre Hand und streichelte sie behutsam.

„Verbleibe glücklich, und wenn es das Schicksal will, treffen wir uns wieder."

„Und Marget, was wird aus ihr?" fragte Katrin be­sorgt.

„Sie wird mich leicht vergessen. Was nützt ihr ein kaltes Herz? Wir gehören nicht zusammen."

 

Von Peter von der Lauterbachs Revancheritt an die Metschet erfuhr Goguell. Er ließ Peter zu sich kommen und fragte ihn bis ins kleinste aus. Es war nicht zu übersehen, daß er der Geschichte große Bedeutung bei­maß. Peter befahl er, wenn Pugatschows Leute auf die Kolonie kämen, sich mit seinen Burschen gut zu verstecken. Nichts und niemand könnte diese Henker aufhalten, und die Kolonie müßte deswegen viel leiden.

Goguell fuhr noch am selben Abend nach Katharinenstadt und erschien am Morgen mit einem Kommando Soldaten in der Kolonie. Wieder wurde die Pferdeherde der Kolonisten beschlagnahmt. Nach kurzer Rast zog das Kommando nach der Metschet ab.

Das Ziel war allen in der Kolonie klar.

Am Abend des nächsten Tages kehrte das Kommando, vor sich eine Gruppe Menschen hertreibend, zurück. Die Soldaten schlugen mit Peitschen auf die völlig ermatte­ten Männer ein. In der Kolonie angekommen, machte der Zug halt, und die Gefangenen ließen sich auf die Erde fallen. Unter ihnen erkannten die Kolonisten manchen Mann aus dem Pugatschow-Trupp, der einige Tage zuvor in der Kolonie die Pferde eingetauscht hatte.

Manche baten um Wasser. Eilig liefen einige Koloni­sten los, doch als sie zurückkamen, verbot der Offizier das Trinken. Die Kolonisten waren darüber empört, und Pe­ter von der Lauterbach verlangte, daß man erlauben soll­te, den Armen trinken zu geben. Erst als Goguell dem Offizier etwas zugeflüstert hatte, gab dieser die Erlaub­nis.

Peter von der Lauterbach stand vor den Gefangenen und schaute einen nach dem anderen forschend an. An einem jungen Mann in orientalischem Mantel blieb sein Blick haften. Seine Augen verdunkelten sich, und er frag­te böse:

„Bist du derjenige, der während der Nachtwache ge­schlafen und die Pferde verloren hat?"

Der Gefragte schaute Peter bestürzt an und schwieg. Dann nickte er langsam mit dem Kopf.

Am Morgen trieben die Soldaten ihre Gefangenen nach Katharinenstadt. Von dort brachte man sie per Schiff nach Saratow. Wie Goguell später erfuhr, wurden sie verurteilt: Zwei zum Tode, die übrigen zu Gefängnis. Willem teilte Marget mit, daß er beschlossen hatte; zu Pugatschow überzugehen. Er hatte erwartet, daß Marget in Tränen ausbräche. Sie aber schaute Willem gleichgül­tig an. Willem fühlte, daß er sie unterschätzt hatte. Er fragte:

„Was sagst du dazu?"

„Ist es nötig, daß ich deinen Willen beurteile? Ich kann dich nicht halten, darum gehe in Gottes Namen."

„Warum sprichst du mit mir so schroff? Ich ziehe in den Krieg für die Gerechtigkeit, ich werde für euch strei­ten."

Marget machte eine abwehrende Handbewegung. „Das habe ich schon von vielen gehört, und kein ein­ziger hat die Wahrheit gesagt. Dich treibt ein anderer Grund fort von hier. Du fürchtest dich, mir die Wahrheit zu sagen. Alle Feiglinge sind Heuchler, sagte unser Pfarrer."

Seb warnte Willem vor den Folgen, wenn er sich Pu­gatschow anschlösse, da er persönlich Pugatschows Sa­che für aussichtslos hielt.

„Wie Goguell behauptet, ist Pugatschow bereits ge­schlagen und befindet sich jetzt auf dem Rückzug. Er sucht krampfhaft nach frischen Kräften, die er nie finden wird. Dem Geschlagenen wird sich niemand mehr an­schließen aus Angst vor den schweren Strafen der Regie­rung."

Willem sagte, daß aus Seb der Vorsteher spräche und kein gerechter Mensch.

Viele Kolonisten hegten aufrührerische Gedanken. Ir­gendwie wollten sie ihrer Enttäuschung vom Leben am Karaman Luft machen.

Fred Goguell war jetzt Kreiskommissar, er hatte Re­gierungsgewalt, und Seb mußte sich ihm ohne Widerrede fügen. Jedesmal, wenn Goguell der Meinung war, daß die Kolonisten ihre Schulden an die Regierung nicht zurück­zahlen könnten, versammelte er die Gemeinde und hielt lange Moralpredigten. Der Inhalt seiner Reden war fast immer derselbe: Die Kolonisten seien faul und ohne Ziel und Streben, seien verschwenderisch und unsittlich.

Die Kolonisten waren schon lange über diese ent­ehrenden Beschuldigungen erbost. Als Goguell sich ein­mal wieder recht in Eifer geredet hatte, schrie einer der Versammelten: Schinder! Goguell unterbrach seine Rede und schaute erschrocken auf die Versammelten. Alle sa­hen ihn demütig an. Er wollte schon weitersprechen, da schrie jemand von der anderen Seite: Henkersknecht! Go­guell wurde es sichtbar ängstlich. Sein Blick überflog die Männer um ihn. Hans Haal sagte in getreuestem Tone:

„Herr Kommissar, wir haben alles verstanden. Wir sind aber keine Hörigen und brauchen uns darum nicht beschimpfen zu lassen."

Um sich vor einem eventuellen tätlichen Angriff zu schützen, ging Goguell auf ein Wortgefecht ein.

„Die Tatsachen sind so: essen und schlafen und trinken auf Staatskosten."

Einer von den Kolonisten schrie:

„Fressen, saufen und stinken!"

Eine Lachsalve brach aus. Goguell sprach weiter.

„Die Regierung schenkt euch nichts! Alles, was ihr von ihr bekommt, müßt ihr bis auf die letzte Kopeke zu­rückzahlen, und das wird euch schwerfallen."

„Pugatschow rechnet auch für uns mit ab", sagte Mar­tin Kanter.

„Ach so!" ereiferte sich Goguell, „da macht ihr die Rechnung ohne den Wirt. Die Bestie kann die Quittungen vernichten, was er allerorts, wo sein böser Fuß hintritt, auch tut. Doch das hilft nichts. Die Schulden der Kolonie sind in Petersburg verbucht. Und wenn dieser Rebellen-hauptmann die Dokumente wegschleppt, dann muß der Unschuldige für den Schuldigen leiden. Dann heißt es: gleiche Brüder gleiche Kappen. Die Schulden müssen dann von den Einwohnern der Kolonie in gleicher Höhe ent­richtet werden."

Mürrisches Murmeln durchlief die Versammelten.

„Ein jeder hat seine Schulden selbst zu zahlen", schrien einige.

„Gewiß", sagte Goguell, „so ist es richtig, aber der Un­flat Pugatschow will es anders."

Über die Frage der Schuldenbegleichung wurde noch lange und heiß geredet. Goguell war mit dem Ausgang der Versammlung zufrieden. Er hatte den Angriff auf sich abgewehrt und die Versammlung auf Pugatschow gehetzt: Besser konnte er es sich nicht wünschen. Goguell dachte': Wenn der Vorfall dem Oberbefehlshaber General Golizyn entsprechend berichtet werden wird, könnte er auch noch auf eine Belohnung hoffen.

Unter vier Augen sprach Willem mit Peter von der Lauterbach. Er versuchte, ihn zum Anschluß an Puga­tschow zu bewegen. Willem malte ein interessantes Bild vom Leben bei Pugatschow, das den waghalsigen Peter verlocken sollte.

Von der Lauterbach ließ sich aber nicht verleiten.

„Ich kann so ein Leben nicht vertragen", sagte er. „Jeder Befehl ist mir zuwider. Ich will mich nicht kom­mandieren lassen."

Willem blickte mißmutig drein. Er hatte auf Peter von der Lauterbachs Beistand gerechnet.

 

Beim Kreiskommissar Goguell erschien ein junger Of­fizier aus der Armee, die gegen Pugatschow operierte. Auf den ersten Blick sah man dem breitschultrigen, blauäugi­gen Mann seine Gutmütigkeit an. Den Kolonisten war er gesonnen. Er hatte keine Ordonnanz bei sich und war dar­um selbst um seinen schlanken Schimmel besorgt. Der Mann stellte sich als Gardeoffizier Gawrila Romanowitsch Dershawin vor. Sein Diener, Jan Gomulka, ein Husar aus den polnischen Konföderierten, erklärte er, sei auf dem Wege nach Pokrowsk Pugatschowschen Banden in die Hände gefallen. Er selbst sei flank seinem Schimmel ent­kommen. Der Offizier sprach deutsch. Dershawin beabsichtigte, sich eine Zeitlang in der Kolonie aufzuhalten, um mit Pugatschowleuten in Berührung zu kommen, die er über die Lage bei Pugatschow auszuforschen gedachte. Goguell war beunruhigt, denn er verstand, daß es sich hier um Leben und Tod handelte. Dershawin erklärte:

„Ich rechne auf Ihre und der Kolonisten Hilfe. Die Re­bellion bringt den Kolonisten viel Unglück, wo sie auch so schon viel leiden und gelitten haben. Je schneller wir den Sieg erringen, desto geringer wird der Schaden sein, den der Krieg den Kolonisten zufügt."

Dershawin suchte Seb im Kolonieamt auf. Er verhielt sich höflich und zurückhaltend und zeigte Interesse für das Leben der Kolonisten. Seb klagte über die strenge Bevor­mundung:

„Wir werden wie Verbrecher bewacht. Alles in unserem Leben ist uns vorgeschrieben. So will man uns in das rus­sische Leben hineinzwängen."

Dershawin versprach, daß er alle Klagen, die Seb vor­brachte, dem Chef des Tutelkontors mitteilen werde.

Dershawin besuchte mehrere Kolonisten. Er sprach auch mit Willem, der natürlich nichts von seinem Entschluß, zu Pugatschow überzugehen, verlauten ließ. Er meinte nur, daß ihm Pugatschows strenges Vorgehen gegen die Regierungsbeamten und Adligen gefalle.

„Sie sind diejenigen, die uns bedrängen und uns die Freiheit nehmen", erklärte er. Auf Dershawins Frage, ob wohl viele Kolonisten Pugatschows Taten billigten, ant­wortete Willem mit Stolz: „Ein Dutzend gewiß, vielleicht noch mehr. Die Zarin sollte sich ein Beispiel an Pugatschow nehmen und sich dem Volke zuwenden, dann wür­de niemand gegen sie vorgehen."

 

Dershawin überdachte die Lage der Kolonisten. Die hier herrschende Unzufriedenheit würde seine Mission nicht gerade erleichtern.

Dershawin besprach mit Goguell Pläne, wie man Pu­gatschow gefangennehmen oder vernichten könnte. Sie be­wahrten dabei die größte Vorsicht. Dershawin erwähnte Willem, ob der vielleicht Dienste beim Vorgehen gegen Pugatschow leisten könnte:

„Er ist ein fixer Kerl, eifrig und furchtlos."

„O nein", widersprach Goguell, „der Kerl ist Anhän­ger von Pugatschow. Ich habe ihn immer im Auge."

Dershawin gab sich nicht zufrieden:

„Ist er nicht so einer, der für uns wie auch für Puga­tschow dienlich sein kann? Es gibt solche Menschen, die streiten des Streites wegen."

Goguell schüttelte verneinend den Kopf.

„Nein", sagte er, „Willem sucht seinen Vorteil. Er hofft, ihn bei Pugatschow zu finden."

„Das ist gut für uns. Wir geben ihm Geld und verspre­chen ihm, wenn er unsere Aufgaben erfüllt, auch noch die Bürgerehre."

Die erste Frage war, wie an Willem herangehen, um sein Einverständnis zu erwerben und dabei sicher zu sein, daß die ganze Geschichte verschwiegen blieb. Vor allem wollten Dershawin und Goguell ganz im Schatten, bleiben. Sollte Willem irgendwie aufbrausen und das geplante Un­ternehmen ausplaudern, so würde es kaum jemand glau­ben, wenn niemand von der Obrigkeit damit in Zusam­menhang stünde. Man beschloß, daß Karl Roiletter, Goguells Diener, ein ungezwungenes Gespräch mit Willem führen sollte, um dessen Meinung zu erfahren. Auch Rol-letter weihte man nicht ganz in die Sache ein. Ihm sagte Goguell, die Regierung werbe für ihr Heer Soldaten unter den Kolonisten. Der Sold sei hoch: 2000 Rubel für ein Jahr Dienst. Rolletter sollte das Willem zu wissen geben, und dann Willems Meinung Goguell mitteilen.

Am selben Abend kam Runitsch zu Goguell. Er freute sich sehr, daß Dershawin bereits einiges unternommen hatte. Ein Kolonist, meinte Runitsch, könne sich leicht das Vertrauen Pugatschows erwerben. Er müsse nur furchtlos und kühn erscheinen. Runitsch fühlte sich in dieser unge­wissen Zeit am sichersten auf der Kolonie am Karaman. Er verblieb darum ruhig bei Goguell in Erwartung, was die Zukunft bringen würde.

Rolletter hatte von Willem nichts Genaues erfahren können. Willem hatte ihm gleichgültig zugehört und nur einmal spöttisch gefragt, ob wohl das Geld den angewor­benen Soldaten zugute geschrieben oder bar ausgezahlt werde. Als Rolletter fortging, wollte Willem wissen, ob wohl die Soldatenwerber schon in die, Kolonie kämen.

Die Offiziere wollten ihre Hoffnungen noch nicht auf­geben und sprachen deshalb mit Seb. Er sollte nun Wil­lem aushorchen. Auch ihm hatten sie ihr wahres Ziel ver­schwiegen.

Aber an Seb scheiterte der Plan völlig. Wie immer war Seb streng offen:

„Ich werde nicht zulassen, daß man in meiner Gemein­de Soldaten wirbt. In der augenblicklichen schlechten La­ge kann es Kolonisten geben, die aus Verzweiflung an die Angel gehen und so über sich und ihre Familien Unglück bringen."

Goguell brauste auf:

„Als Amtsperson müssen Sie die Regierung unterstüt­zen und denen Schutz gewähren, die aus Treue unserer allerhöchsten Monarchin dienen wollen."

Seb berichtigte ihn:

„Ich habe nicht nur Pflichten der Zarin gegenüber, sondern auch den Kolonisten, die mich als ihren Vorste­her gewählt haben und mir vertrauen."

Nach langem Beraten bei Goguell beschlossen die Offi­ziere, mit Peter von der Lauterbach zu sprechen. Man wußte von Peters Scharfsinn und seinem Widerstrebungsgeist.

„Mit Widerspenstigen", sagte Runitsch, „ist leichtes Umgehen. Man braucht von ihnen nur das Gegenteil von dem zu verlangen, was man erstrebt." Die Sache war beschlossen.

Am Nachmittag kam aus Katharinenstadt die Nach­richt, daß der Hauptzug der Pugatschowschen Scharen bereits in den obersten Kolonien des Schöncher Kreises angekommen war. Kreiskommissar Johann Wilhelmi hätte die Flucht ergriffen. Sein Haus wäre von Kolonisten ge­plündert und sein Vieh fortgetrieben. In den Kolonien des Kreises herrsche großer Aufruhr. Scharen von aufstän­dischen Kolonisten sprengten mit geraubten Pferden durch die Kolonien und bedrohten der Regierung treu gebliebene Kolonisten mit Raub und Mord. In Wolsk habe man Lager ausgeraubt und auch viele Läden ausgeplündert. Dasselbe solle in Katharinenstadt passieren, wo der Kreiskommissar Iwanow bis jetzt die Ruhe in der Stadt aufrechterhalte.

Am frühen Morgen bei Tagesgrauen erschienen Wil­lem, Martin Kanter und noch zwölf junge Burschen an der Pferdebucht. Sie hatten Zäume, Sattelwerk und Eßsäke bei sich. Es war feierlich still wie immer zu dieser frühen Stunde. Die Männer wählten lange, bis sie die ihnen am besten geeigneten Tiere gefunden hatten.

Um die Bucht versammelten sich Männer, Frauen und Kinder. Alle schauten erstaunt Willems Trupp zu. Furcht­sam flüsterte einer dem anderen ins Ohr: „Die gehen zu Pugatschow über." Es gab unter den Zuschauern auch solche, die alle Meldungen vergrößern, so wie es ihnen einkommt. Man erzähl­te schon, daß Pugatschow selbst auf dem Wege an den Karaman sei und in einigen Stunden auf der Kolonie großmächtig erscheinen werde. Hans Haal bat:

„Laßt mir um Gottes willen meine Fuchsstute hier. Ei­nen anderen Gaul kann ich mir nicht mehr kaufen." Der Junge, der die Stute sattelte, sagte zu ihm:

„Vetter Hans, wenn die richtigen Pugatschower kommen, dann seid Ihr Eure Stute auf Nimmerwiedersehen los. Ich aber bringe sie Euch zurück, wenn der Krieg zu Ende ist."

Der Junge horchte nicht weiter auf Haals Gezeter. Er bestieg das Pferd und schaute stolz in die aufgehende Son­ne.

Willem saß auf seinem Braunen, für ihn gab es kein bes­seres Pferd.

Viele Anwesende verabschiedeten die Freischärler. Mütter weinten besorgt um ihre Söhne. Sie wußten noch gut von Deutschland her, was ein Krieg ist. Anna Maria Kanter küßte ihren Martin und weinte laut. Auch Regine schluchzte. Marget war zum Abschied nicht erschienen. Später begab sich Regine zu Marget. Diese saß ruhig am Fenster und schaute auf die Straße. In ihrem Gesicht lag keine Spur von Trauer.

„Willem zieht ab, und du sitzt zu Hause", sagte Regi­ne erregt.

„Laß ihn ziehen in Gottes Namen. Er geht seinem Ziel entgegen", sagte Marget und starrte wieder hinaus auf die helle Straße. Nach einer Weile: „Jeder Mensch muß dort sein, wohin er gehört, sonst wird er nimmer froh. Sieh da diesen Stengel", Marget zeigte auf eine Melde am Wege. Rings um den Stengel war alles in Staub getreten, nur der eine Stengel stand noch aufrecht. „Hätte er Beine und Füße, wäre er von hier schon geflohen. So aber trifft ihn bald ein Rad oder ein Fuß und es ist aus mit ihm, weil er sich auf einem schlechten Platz befindet." Regine seufzte schwer.

„Ach", sagte sie, „tut mir Vater leid, wenn er um­kommt, sterbe ich vor Gram. Warum ist er nur auf Gogu­ell so wütend?"

Die Freischärler zogen ab. Sie ritten im Haufen, Wil­lem voran. Von einer Schlachtordnung wußte keiner et­was. Auf der Kolonie fand es niemand für nötig, die Jun­gen für einen Krieg vorzubereiten: die Kolonisten waren doch auf hundert Jahre vom Kriegsdienst befreit, und die Schutzwacht über sie hatte laut Manifest die Regierung übernommen.

Die Reiter schlugen den Weg nach Katharinenstadt ein.

Von der Karamanhöhe ging es hinunter in die weite Ebene der Wolga zu. Das Wolgaufer war in zartes Blau gehüllt. Dem Reitertrupp folgte in einigem Abstand auf ei­nem Leiterwagen Peter von der Lauterbach.

Die Erregung in der Kolonie hatte jetzt den Höhe­punkt erreicht. Das Dreschen auf der Tenne und die Vorbereitung zur Herbstsaat waren fast völlig eingestellt. Aus Furcht vor Pugatschows Scharen wollte niemand die Kolonie verlassen.

Dershawin und Runitsch weilten noch immer bei Go­guell. Sie glaubten nicht daran, daß Pugatschow an den Karaman kommen könnte. Katharinenstadt würde ihn schon festhalten. In der Stadt gab es genug kleine Läden und verschiedene Lager, wo Pugatschow sein Recht gebrauchen konnte. Eine besondere Bedeutung hatten für ihn die Salzlager, da der Salzhandel Monopol der Regierung war. Saratow lag in der Nähe. In zwei Tagen Marsch konnte es erreicht werden. Pugatschow bereitete sich zum Sturm auf die Stadt vor.

In der Kolonie traf man Maßnahmen zum Schutz vor den Pugatschowschen Scharen. Seb stellte auf der Karamanhöhe Wachtposten auf, die mit Rauchsignalen das Nä­hern von Reitern zu melden hatten. Viele Familien hielten auf ihren Höfen Wacht. Die größte Angst befiel die drei Offiziere. Für sie war Pugatschow ein Todfeind. Doch auch Kolonisten, Anhänger von Pugatschow, konnten ih­nen gefährlich werden, sie überfallen und töten oder Pu­gatschow ausliefern. Goguell beauftragte zuverlässige Ko­lonisten, beständig in der Kolonie zu spähen, ob nicht ir­gendwo ein überfall auf ihn vorbereitet wird. Die Offizie­re hielten ihre Pferde und die nötige Ausrüstung zur Flucht immer bereit.

Einige Tage waren vergangen, Peter von der Lau­terbach war aber noch nicht zurück. Regine litt. Sie glaubte, ihr Mann sei vor Pugatschow aus Angst vor dessen Rache für den überfall an der Metschet geflohen. Müller äng­stigte sich ebenfalls. Er hatte seine Geige in die Erde ver­graben, damit sie ihm keiner rauben konnte. Jeden Abend veranstaltete er Bet- und Bittstunden, um das heranna­hende Unheil abzuwenden.

Eilig kam Karl Rolletter ins Haus von Goguell. Er meldete:

„Husar Jan Gomulka ist mit einigen Kolonisten in der Nachbarkolonie angekommen. Er hat einen Appell von Pugatschow bei sich, in dem Pugatschow die Kolonisten aufruft, sich ihm anzuschließen. Gomulka suchte auch nach dem Gardeoffizier Gawrila Dershawin, um ihn Pugatschow auszuliefern."

Die Offiziere saßen sofort auf. Rolletter begleitete sie als Ordonnanz. Durch die Kolonie ritten sie in ruhigem Schritt, um keinen Verdacht zu erwecken. Sie unterhielten sich laut und scherzten. Am Karaman tränkten sie ihre Pferde und schlugen dann den Weg in die Steppe ein. Hinter dem Sandberg, als sie schon außer Sicht waren, trieben sie ihre Pferde an, umritten unbemerkt halb die Ko­lonie und von der entgegengesetzten Seite lenkten sie in das Suslytal, wo sie im Gebüsch verschwanden. In der Nacht setzten sie ihre Reise fort.

Ihr Ziel war der Irgis, wo sie sich im Rücken des Pu-gatschowschen Heeres glaubten. Die weite Steppe schien menschenleer. Nichts war zu hören und zu sehen. In der dritten Nacht stießen sie an einem Nebenfluß des Irgis auf einen großen Haufen bewaffneter Kirgisen. Es waren mehr als hundert Reiter, und. den Kampf mit ihnen auf­zunehmen, hieße in den Tod rennen. Die Offiziere ergriffen die Flucht. Dershawin trieb seinen Schimmel an, und der zeigte, was er konnte. Nicht nur die Kirgisen blieben weit hinter dem Reiter zurück, auch seine Gefährten kamen nicht nach, so daß er einhalten mußte.

Nach einigen Stunden fühlten sich die Offiziere in Si­cherheit und machten Rast. Sie frühstückten und freuten sich, daß sie den Kirgisen entkommen waren. Dershawin mutmaßte daß die Kirgisen einen überfall auf die Kolonien im Schilde führten. Was hatten sie sonst in so großer Zahl hier zu suchen?

Nach siebentägiger Reise kamen die Offiziere im Lager des Generals Mansurow an, dessen Armee gerade einen Angriff auf Pugatschow begann. Die Offiziere muß­ten sofort den Rückweg antreten. Jetzt aber schon in einer Armee, die stark genug war, Pugatschow zu besiegen.

In Katharinenstadt hielt Pugatschow sich nicht lange auf. Er ließ das Salzlager und noch einige Versorgungsla­ger öffnen, nahm, was er für sein Heer nötig hatte, das übrige schleppten Diebe auseinander. Auf dem Markt­platz ließ er einige seiner Gegner erhängen. Es waren Regierungsbeamte aus der Wojewodenkanzlei, die es gewagt hatten, in Katharinenstadt zu verbleiben. Die Kolonisten wurden nicht angetastet.

In der Kolonie flaute allmählich die Aufregung ab. Seb versah ruhig sein Amt, und auch die Ko­lonisten gingen wieder ihrer Arbeit nach. Katrin hatte einen Sohn geboren. Sie ließ ihn zu Ehren ihres Vaters Philipp taufen. Im Wochenbett erkrankte sie schwer. Zu ihrem Kind sagte sie:

„Du bist in einer unruhigen und schweren Zeit gebo­ren. Ich wünsche dir ein friedliches Leben. Glück soll dir beschieden sein."

Marget betreute Katrin und das Kind. Seb brachte Mar-gets Ernte ein. Die alten Freundinnen, Katrin und Marget, waren jetzt wieder fast immer beisammen.

Müller begegnete Marget auf der Straße. Er war sehr gut gelaunt und sprach ihr sein Mitgefühl mit ihrem Kum­mer aus. Marget entgegnete kurz: „Ich habe keinen Kummer." Müller bot sich an:

„Wird in der Wirtschaft nicht der starke Arm eines Mannes gebraucht? Ich wüßte einen." Marget lehnte ab.

„Ich komme ganz gut mit allem allein zurecht." Es gab in der Kolonie viel Gerede um Peter von der Lauterbach. Er war spurlos verschwunden. Niemand woll­te glauben, daß Peter umgekommen sei. Aber der Tod er­wischt manchmal auch den Vorsichtigen und Geschickten und oft auf ganz harmlosen Wegen. Es war Krieg.

Regine glaubte fest daran, daß ihr Mann am Leben sei und heil zurückkomme. Sie wartete jeden Tag auf ihn. In der Nacht erwachte sie bei jedem Geräusch.

Einer von den vierzehn Freischärlern kam in die Kolonie zurück. Er wäre gerne zu Hause geblieben, aber dafür drohte ihm der Tod. Pugatschow ließ alle Flüchtlinge erhängen.

Als Pugatschow seinen Weg nach Alaty nach dem Sü­den einschlug, erwartete man ihn schon in Saratow. Erst gedachte man, sich zu wehren. Um die Stadt wurden Grä­ben ausgehoben, Schanzen gebaut und Kanonen aufgefahren. Als aber auch die Stadt Pensa Pugatschow in die Hände gefallen war, gab man in Saratow den Gedanken an Widerstand auf. Niemand glaubte mehr, daß man Pugatschow aufhalten könne. Widerstand, befürchtete man, würde ihn noch mehr erzürnen, und er könnte die Stadt ausschlachten und niederbrennen.

Die Obrigkeit der Stadt ergriff die Flucht. Die Zurück­gebliebenen waren bereit, sich Pugatschow zu ergeben. Mit einer großen Prozession mit Heiligenbildern, Kirchen­fahnen und Psalmengesang empfing der Bischof Puga­tschow vor der Stadt. Der hohe Geistliche verneigte sich vor dem Führer des Aufstandes, den er noch vor wenigen Tagen in seinen Gebeten verdammt hatte, und anerkannte ihn als obersten Machthaber der Stadt.

Pugatschow ließ sich auf kein Gerede ein und befahl kurz entschlossen, die Heuchler auseinanderzutreiben, Einige herausgefischte Adlige und Beamten ließ er sofort aufknüpfen. Die Scharen der Aufständischen stürzten sich in die Stadt, brachen Lagerräume und Läden auf, durch­stöberten die Kontore der Regierung und die Wohnungen wohlhabender Bürger. Wenn sie einen Adligen oder Beam­ten erwischten, schleppten sie ihn zu Pugatschow vor Ge­richt, der sie zum Tode verurteilte. Alle anderen wurden freigelassen.

An verschiedenen Stellen der Stadt brach Feuer aus. Saratow war ganz aus Holz gebaut. Das Feuer griff schnell um sich.

In der Stadt lebten viele Bettler, Tagelöhner, arme Handwerker und Hausdiener, die die Stadt nicht verlas­sen wollten. Viele traten Pugatschows Heer bei.

In Saratow erschien eine Delegation aus Pokrowsk mit Ataman Kobsar an der Spitze. Zu ihr gehörte auch der Ausländer Damke. Mit einem Boot hatten sie die Wolga überquert in der Absicht, Pugatschow die Unterwer­fung von Pokrowsk zu melden.

Pugatschow ließ die Gesandten vor sich treten. Er fragte einen jeden, wer er sei. Danach befahl er, Kobsar und die drei anderen Kosaken zu erhängen und Damke freizulassen.

Auf dem Marktplatz und vor der Stadt am Wolgaufer baumelten die Leichen der Erhängten. Mit großer Mühe, allein im Boot, erreichte Damke das Ufer von Pokrowsk. Die Nachricht, die er mitbrachte, erschreckte die Pokrowsker Kosaken. Viele verließen eiligst die Stadt. Es gab verschiedene Banden, die unter dem Namen Pugatschows Freischärler in Pokrowsk Unfug trieben. Sie raub­ten, wo sie nur konnten. Damke, um der Gefahr zu entge­hen, rettete sich in der Nacht zu Pferd in die Kolonie am Karaman. Seine Waren hatte er versteckt und die Bude geschlossen. In dieser unruhigen Zeit wollte er in seiner Kolonie sein, bei seinen Freunden, mit denen er so lange Zeit das Schicksal geteilt hatte.

Angekommen, kehrte Damke bei seinem alten Freund Müller ein. Der hatte sich sehr verändert. Sein Amt zwang ihn, so manches an seinen Gewohnheiten zu ändern. Aus Anlaß der Rückkehr seines Freundes konnte Müller einem guten Schluck nicht entsagen. Um so mehr, da Damke eine Flasche guten Branntwein aus der Stadt mitgebracht hatte.

Sie sprachen über Pugatschow. Müller sagte: „Irgendwelche geheime Kraft mag wohl in ihm stecken, sonst würden ihm nicht so viele Menschen folgen und ihm Glauben schenken."

„Die Menschen sind oft wie Schafe: wo eins hingeht» folgt ihm das nächste, und so gehen Hunderte in eine Richtung", philosophierte Damke.

„Die Menschen sind keine Schafe. Wir vergleichen sie nur gern mit Schafen, wenn wir ihr Betragen und Han­deln nicht verstehen können." Damke wollte alles wissen:

„Wie geht es jetzt in der Kolonie? Daß Willem sich Pugatschow angeschlossen hat, kann ich kaum glauben. Und Marget?"

„Ist stolz", sagte Müller böse. „Sie versteht nicht, daß es mit ihrem Willem und ihr aus ist. Willem kehrt nie wie­der zu ihr zurück, auch wenn er im Kampf am Leben bleibt. Die Freischärler werden gewiß hart bestraft."

„Bist du wirklich überzeugt, daß Willem nicht mehr zurückkehren wird?" fragte Damke.

„Daran ist kein Zweifel, Marget kann sich jetzt schon als Witwe betrachten."

Damke ging auch zu Seb. Dort traf er Marget. Damke freute sich, auch Marget war froh. Sie fragte ihn, wie er in der Stadt lebe und ob er nicht bereue, die Kolonie ver­lassen zu haben.

Damke zögerte mit der Antwort.

„Das Leben in der Stadt ist leichter als in der Kolo­nie", sagte er, „Doch zu Hause bin ich hier."

Damke schenkte den Frauen Seidenbänder, ein seltener Schmuck, den er von einem chinesischen Kaufmann in Saratow erworben hatte.

Von jenem Tag an kam er oft zu Marget, verrichtete verschiedene Arbeiten in ihrer Wirtschaft und unterhielt sich lange mit ihr. Anna Maria Kanter hatte endlich wie­der Anlaß zum Tratsch:

„Marget ist eine liederliche Dirne, sonst würde sie kei­nen fremden Mann bei sich im Hause dulden."

Müller warnte Damke. Ausschweifung und Liederlich­keit wurden in der Kolonie streng geahndet und oft als Vorwand zur Verfolgung aus anderen Gründen benutzt. Pugatschow hatte eilig Saratow verlassen und zog weiter nach Süden. Die Armee Mansurows folgte ihm auf den Fersen. In der ganzen Gegend, von Kasan bis Sara­tow, zogen noch andere Trupps von Freischärlern umher. Diese oft nicht großen Scharen handelten völlig selbstän­dig. Sie wußten nichts von Pugatschows Lage, und er wußte nichts von ihnen. In der Kolonie erschienen öfters solche Truppen, die sich aber um die Verwaltung der Ko­lonie nicht kümmerten. Sie wechselten gewöhnlich ihre Pferde, beschlagnahmten Lebensmittel und Sattelzeug, ruhten sich einige Tage aus und zogen weiter, um dassel­be in einer anderen Siedlung zu wiederholen. Wenn ihnen zufällig ein Beamter aus der Stadt oder ein Adliger in die Hände fiel, so erschlugen sie ihn und nahmen seine Wert­sachen an sich. Im übrigen waren sie "nicht blutgierig, sa­hen müde aus und hätten wohl gerne ihr unruhiges Leben für ein friedliches Familienleben eingetauscht.

Aus Schönchen verlautete, daß der Kreiskommissar Wilhelmi zurückgekehrt war. Er verwaltete von neuem die Kolonien und hatte aus den Kolonisten Kommandos gebildet, die die noch bestehenden Pugatschowschen Freischärlertruppen verfolgen sollten. Die Hoffnung auf Befreiung durch Pugatschow war schon fast allerorts aufgegeben worden.

Der Kreiskommissar von Katharinenstadt Iwanow hielt drei Mann von den vierzehn Freischärlern vom Karaman gefangen, darunter Martin Kanter. Von Willem war nichts zu hören.

Auch von Saratow kamen Nachrichten, daß die Regie­rung dort wieder die Macht ausübte. Lodeschinski, der Chef der Tutelkanzlei, war auch nach Saratow und in sein Kontor zurückgekehrt. Alle Papiere des Kontors hatte Pu­gatschow mit sich genommen, und alles mußte von vorne angefangen werden.

In der Kolonie erschienen Goguell und Dershawin mit einem Kommando Soldaten. Die Soldaten waren gut be­waffnet und hielten straffe Ordnung. Sie führten auch eine Kanone mit sich. Goguell ließ sein Haus und seinen Hof in Ordnung bringen. Er ordnete an, daß alle Möbel, Geräte und Vieh sowie Futter und Nahrungsmittel, wel­che in der Zeit seiner Abwesenheit verschleppt worden waren, zurückzuerstatten seien.

Goguell brauchte nicht lange zu warten. Aller Besitz, der sich bei den Kolonisten befand, wurde bereitwillig zu­rückgebracht, natürlich mit der Erklärung, daß der Stuhl oder das Kanapee, Bett, Gabel, Sense und Rechen bloß aufbewahrt worden waren, weil der Besitzer abwesend war und sein Zeug ohne Aufsicht lag.

Pugatschow hatte Zarizyn verlassen und eilte weiter nach Süden. Nach einigen Tagen Marsch hatte ihn Gene­ral Michelsohn mit seiner Armee unweit der Stadt erreicht. Pugatschow floh mit einem Trupp ihm ergebener Anhänger in der Richtung nach dem Jaik, wo der Aufstand seinen Anfang genommen hatte. Dort wurde er gefangengenommen. Von der Festnahme informierte Go­guell auf der Gemeindeversammlung. Er sprach stolz, ge­bieterisch und auch drohend.

Die Kolonisten verstanden den Kreiskommissar nur zu gut. Jetzt blieb für sie nur eins: sich am Karaman zu be­haupten. Groß war der Schaden, den sie erlitten hatten. Der Viehbestand hatte sich verkleinert, die Felder waren vernachlässigt, die Vorräte aufgezehrt.

Dershawin begab sich mit dem Kommando Soldaten nach dem Schöncher Kreis, wo immer noch einzelne Ab­teilungen von Pugatschows Heer herumstreiften. Goguell fuhr nach Saratow, um Hilfe für die notleidenden Koloni­sten zu erbitten.

 

Damke hatte die ganze Nacht bei Marget verbracht. Am Morgen bestieg er sein Pferd und ritt eiligst nach Pokrowsk. In einer Woche wollte er zurückkehren und Marget nach Pokrowsk holen, damit sie näher beieinander wären.

Ganz unerwartet kam Peter von der Lauterbach in die Kolonie zurück. Er hatte seinen Leiterwagen mit Heu be­laden und war ganz wohlauf. Er sagte, er hätte die ganze Zeit auf der Wolgawiese gelebt. Es sei ihm sehr wohl ge­wesen, bei dem Gedanken, sich in Gefahr zu befinden.

Lange Zeit nach Pugatschows Niederlage brachte man sieben Mann von den ehemals vierzehn Freischärlern als Gefangene in die Kolonie. Einer von ihnen erzählte, daß Willem in der letzten Schlacht gefallen war.

„Wir waren umzingelt, es wurde immer enger für uns. Ich stand an Willems Seite. Er sah ruhig zu, wie man uns einpferchte. An einer Stelle war noch eine kleine Lücke. Ich zeigte hin und sagte: hier können wir durchsprengen. Willem schaute mich mit starrem Blick an. Dann schlug er auf sein Pferd ein und stürzte sich auf die Feinde. Da knallten einige Schüsse, und er fiel vom Pferd. Die Reiter jagten über seinen Körper hinweg und nahmen uns gefan­gen. Man hielt uns lange auf diesem Platz fest, und ich suchte Willem unter den Gefallenen. Er war tot. Er hatte eine große Wunde in der Brust. Die Augen standen ihm offen und waren schauderlich leblos."

Müller schrieb Schneiders Erzählung auf und ließ sie von ihm unterzeichnen. Er sagte, die Aussage würde als Todesschein dienen.

 

Drittes Kapitel

SCHRECKEN UND NOT

Satylgan war mit seiner Bande an der Metschet am großen Tümpel angekommen. Die Bande zählte fast drei­hundert Mann und noch mehr Pferde. Es war an einem Freitag im August des Jahres 1774. Die alte Moschee an dem Tümpel kannte ein jeder Moslem bis weit hinter dem Jaik. Hier verrichteten alle Hirten der Umgebung ihre Gebete zu Allah. Auch Satylgan hoffte, mit inbrünstigem Gebet den Schutz und die Hilfe Allahs zu erlangen. Schon viele Jahre betrieb er seine Raubgeschäfte, und nicht ein einziges Mal hatte man ihn gefaßt. Allah mußte ihm geholfen haben. Wie konnte es auch anders sein — führte er doch Krieg gegen Ungläubige, was seine heilige Pflicht war.

Und so hatte es begonnen: Satylgan war mit seinem Sohn Mukan auf der Suche nach Weideland am Tobol an­gekommen. Da stießen die zwei in der Steppe auf einen Mann mit zwei halbwüchsigen Kindern, einem Knaben und einem Mädchen. Die drei hatten sich verirrt. Satylgan versprach, ihnen den Weg zu ihrem Dorf zu zeigen, tat aber das Gegenteil mit der Absicht, sie zu berauben. Als der Mann sich weigerte, noch weiter Satylgan zu folgen, erschlug er ihn. Die zwei Kinder nahm er mit nach Tulgai. Beinahe ein Jahr hielt er sie bei sich gefangen. Da kam ein Moslem weit vom Süden zu ihm ins Haus. Der Mann war Viehhändler und kaufte bei Satylgan die zwei Kinder und zahlte ihm dafür soviel Geld wie für ein Dutzend Pferde. Satylgan gefiel das sehr, und er sagte zu dem Händler, er solle bald wiederkommen. Der Händler versprach es und gab Satylgan Handgeld unter der Bedin­gung, daß Satylgan Menschen nur an ihn verkauft.

Von jener Zeit an durchstreifte Satylgan mit seinem Sohn Mukan Gegenden, wo russische Bevölkerung wohnte. Sie überfielen Menschen, die sich von ihren Siedlungen entfernt hatten, und schleppten sie zum Verkauf. Mit der Zeit schlossen sich Satylgan Tair, Dschussupp, Elebai und andere an. Nun waren sogar kleine Dörfer von ihnen bedroht. Wenn es ihnen mit Russen nicht glücken wollte und die Gelegenheit ihnen einen Baschkiren oder Bolgaren zuführte, raubten sie auch diese mit der Rechtfertigung, ihre Opfer seien vom Islam abtrünnig geworden.

Satylgan dehnte sein Jagdgebiet immer weiter aus. Er bediente sich seiner Kundschafter, die bis an die Wolga vordrangen und die Gegend erforschten.

Vom Karaman zurückgekehrt, brachte ihm der Kund­schafter Walichan die Nachricht, daß an dem Fluß Dörfer angelegt seien. Die Einwohner seien Christen aus einem fernen Land im Westen. Sie seien unbewaffnet und lebten friedlich. Auch hätten sie eine fremde Sprache und seien kaum von der russischen Regierung geschützt. Satylgan bereitete sofort den Raubzug zum Karaman vor. Er tat alles in höchster Eile, weil er befürchtete, daß die Ibrai-Bande ihm zuvor kommen könnte.

Die Räuber ritten einzeln und somit unauffällig vom Tulgai ab. Am Usen sammelte sich die Bande wieder, um ihren Plan auszuführen.

Die Roggenaussaat war in vollem Gange. Der Roggen gab am Karaman von allen Getreidearten die beste Ernte. Außerdem überstand er viel leichter Trockenzeiten im Juni als Weizen, Gerste und Hafer. Die Kolonisten säten dar­um also sehr viel Roggen.

Das Roggenfeld der Kolonie lag am Wolfsgraben. Der Graben war lang und tief und ganz mit Bäumen und dichtem Buschwerk bedeckt. In seiner Nähe war es gefährlich, hier hausten Wölfe und verbargen sich Räuber, die die Kolonisten auf den Feldern überfielen. Die Kolo­nisten verrichteten daher ihre Feldarbeiten alle zu gleicher Zeit.

Auf der Sohle des Wolfsgrabens sprudelten Quellen mit kaltem Wasser. In der Hitze der Mittagszeit begaben sich Philipp Schreiner und noch einige Männer zum Gra­ben, um Wasser zu schöpfen. Sie trugen als einzige Waf­fe Keulen. An einer Stelle blieben sie erschrocken stehen. Vor ihnen lagen die Leichen erschlagener Menschen. Sie waren nackt, und das Blut an ihnen war noch nicht ge­trocknet.

Die Kolonisten wollten die Stelle schnellstens verlas­sen, um Hilfe zu rufen, denn die Mörder konnten noch nicht weit sein. Da hörten sie etwas weiter im Gebüsch schweres Stöhnen. Vorsichtig gingen sie darauf zu. Ein Mann mit kleinen schiefen Augen starrte sie flehend an und zeigte mühsam auf seine Wunde am Bauch. „Walichan", rö­chelte er.

Schreiner brachte Wasser von der Quelle. Der Sterben­de trank gierig. Nach einer Zeit stieß er aus: „Ibrai, Ibrai", und zeigte mit dem Finger auf seine Brust. Er war angekleidet, hatte einen Dolch und einen Strick bei sich. Alle drei Erschlagenen waren Kirgisen. Den Kolonisten schien der Vorfall sonderbar. Sie fragten sich, warum diese Unglücklichen hierher in das Feld der Kolonie ka­men und wer sie ermordet hat? An einer hohen Stelle am Rande des Grabens hoben die Kolonisten eine Grube aus.

 

Am Samstag nach dem Morgengebet berichtete der Schnüffler Walichan seinem Hauptmann von den Ge­schehnissen während seines „Ausflugs" in die Nähe der Kolonien am Karaman. Satylgan ahnte nichts Gutes. Aber Walichans Bericht munterte ihn auf. Stolz erzählte Wali­chan von seiner Begegnung mit Ibrais Kundschaftern:

"Ich habe mich in der Nacht, als sie schliefen, an sie angeschlichen. Zwei starben von meiner Hand im Schlafe. Hier als Beweis ihre Dolche. Einer aber, Ibrai, der Jüngere, war aufgesprungen und hatte mich erkannt. Er rief meinen Namen. Ich habe ihm den Dolch in den Bauch gestoßen, und er rannte in Schrecken davon."

„Entkommen?" fragte Satylgan erregt. „Nicht weit! Ich konnte ihn nur nicht finden, weil es dunkel war. Allah ist mein Zeuge, daß er tot ist." Satylgan war immer noch erregt.

„Ich will seine Leiche sehen", sagte er. „Wenn Ibrai lebend zu seinem Hauptmann zurückkommt, wird dieser sich an mir rächen." Satylgan fragte auch nach den Ko­lonisten, nach ihrer Stimmung, ihrer Ahnungslosigkeit seinen geplanten überfall betreffend.

Dann verfiel er in tiefes Nachdenken. In solchen Stun­den hörte man ihn nicht, weil alle glaubten, daß der Haupt­mann sich mit Allah über sein Vorhaben beratschlage. Andächtig auf der Erde sitzend, erwarteten die Räuber den Entschluß ihres Hauptmanns.

Walichan und auch die anderen spürten Satylgans plötzliche Unentschlossenheit, die Kolonie anzugreifen. Sie waren mit seinem Zögern unzufrieden, denn sie er­hofften reiche Beute und einen guten Fang. Sklaven wur­den jetzt nicht nur von Moslems aus Buchara gekauft, sondern auch für viel Geld von reichen Beis am Tulgai, Akmola und Uil. Der Besitz von Sklaven war ein Zeichen von Reichtum und Macht.

Nach langem Nachdenken wandte sich Satylgan an seine Bande:

„Meine Kraft hat mich verlassen. Meine Arme sind nicht schnell genug für sichere Dolchhiebe. Mein Kopf schmerzt, und die Augen sind trübe. Geduldet euch!"

Die Räuber sahen erstaunt einander an. Ihr Hauptmann verläßt sie in einer entscheidenden Stunde!

Walichan erhob sich. Seine Stimme klang drohend.

„Ich bin von nun an der Führer der Bande und daß keiner muckst. Meine Kraft ist groß und mein Dolch spitz."

Auch Satylgan erhob sich in seiner ganzen Größe. Er überragte alle anderen Räuber. Mit festen Schritten ging er auf Walichan zu. Dieser wollte zurückweichen, Satyl­gan hatte ihn aber erreicht. Mit einem wuchtigen Hieb stieß er Walichan den Dolch in die Brust. Der Getroffene sank langsam zu Boden. Blut quoll ihm aus der Wunde. Er war tot, ehe die Anwesenden verstehen konnten, was vor­gefallen war.

Voll Sehrecken starrten jetzt alle auf Satylgan. Mit schweren Schritten ging der Hauptmann zum Tümpel, wusch seine Hände im stillen Wasser, kniete an Walichans Leiche nieder und betete zu Allah. Die Räuber machten es ihm nach. Im Kreise gekauert, beteten sie lange und in­brünstig.

 

Die Sonne sank im Karamantal. Einige zerfetzte Wol­ken in ihrer Nähe brannten in heller Glut. Nach dem schwülen Tag brachte die frische Abendluft Erquickung. Kühe brüllten und Schafe blökten: das Vieh kehrte von der Weide heim. Damke war auf dem Weg in die Kolonie. Er ritt auf einem stolzen Pferd, ihm folgten einige von ihm gemietete Wagen. Die Fuhrmänner schauten sich neu­gierig um. Sie staunten über das neue Dorf, das am Kara­man entstanden war. Besonders fielen ihnen die geradli­nigen Straßen und die rechteckigen Hofplätze auf. Einer der Fuhrmänner meinte:

„Die Ausländer sind in allem sauber und pünktlich. Das ist Geiz und Prahlerei bei ihnen. Ich verstehe nicht, was sie davon haben, diese Kauderwelschen. Welchen Nutzen kann eine gerade Straße haben? Schön ist es auch nicht. Krumme Straßen sind schöner."

Ein anderer widersprach:

„So sieht die Straße aufgeräumt aus. Vater-Pope Grigori sagt, wir Rechtgläubigen sollen das Wirtschaften bei den Kolonisten lernen."

Damke ritt geradewegs zu Marget, die schon ungedul­dig auf ihn wartete. Ihre Wirtschaft hielt sie in schönster Ordnung.

Am selben Abend noch besuchte Damke Seb und Katrin. Die beiden waren sehr froh, ihn zu sehen. Sie wollten viel über das Leben in Pokrowsk wissen, welche Veränderungen der Krieg gebracht hatte: spurlos konnte so ein hartes und blutiges Ringen nicht vorübergehen.

Damke berichtete, daß Poroschenko, der Schenkwirt, tot sei. Ein Auswärtiger hätte ihn meuchlings ermordet. Der Mörder sei geflohen, aber niemand suche ihn, weil Poroschenkos Tod auch niemand betrauert. Marfa, die Atamanstochter, sei noch am Leben und beweine den Tod ihres Vaters. Auch Willems Tod habe sie schwer getroffen. Sie hatte die Hoffnung nicht aufgegeben.

„Zygmunt Klatzky", erzählte Damke, „hat seine Schmiede vergrößert und sich Gesellen genommen. Es fehlt ihm nur an Eisen, obwohl der Krieg ihm nicht wenig Bruch zugeschwemmt hat. Seine Schmiede ist in vollem Gang..."

Seb fragte nach Chmara, der die Kolonisten so un­freundlich bei der Abfahrt von Pokrowsk begleitet hatte.

„Der ist verschollen. Als ein Trupp Pugatschowmänner sich seinem Hause näherte, ging er eilig auf den Hof, und seitdem hat ihn niemand gesehen. Auch nichts von ihm gehört. Man mutmaßt, er sei auf der Flucht in der Wolga ertrunken."

Die Freunde sprachen auch von Willem. Sie bedauerten zutiefst seinen Tod.

„Er mußte als erster sterben, wo er doch gesund war und soviel Lebensfreude in sich trug", grübelte Seb laut. Damke sagte darauf:

„Wer weiß, was in seinem Gemüt lag, als er sich der Kugel entgegenstürzte."

Bis spät in die Nacht zog sich die Unterhaltung hin. Man sprach auch von der Regierung in Petersburg und ob sie noch nicht überzeugt wäre, daß das Leben am Karaman für die Kolonisten sehr schwer sei, und daß es nötig wäre, in andere Gegenden zu ziehen. Damke lachte laut auf:

„Die Regierung braucht uns hier am Karaman, um ihre Macht in der Gegend zu stützen. Ob es sich hier leicht oder schwer leben läßt, kümmert sie nicht. Eine Regierung hat keine Gefühle, sie hat nur Berechnungen."

Damke schickte sich an fortzugehen, da kam Salomon Klein ins Haus gestürzt. Vor Erregung stotternd, berich­tete er, was ihm ein eben bei ihm eingekehrter Kalmücke erzählt hatte. Am großen Metschettümpel hätten sich Hun­derte Kirgisen versammelt. Sie kämen von weither und führten Böses im Schilde.

Die Nachricht beunruhigte Seb. So viele Kirgisen, das konnte gefährlich werden. Aber er zweifelte noch. Woher sollten so viele Kirgisen plötzlich gekommen sein? Die ganze Gegend war voll von Regierungstruppen, die alle verdächtigen Reiterhaufen abfingen. Seb bat Salomon, die Nachricht im Dorf zu verbreiten, damit die Leute ihr Vieh bewachen.

Damke ging diese Meldung wenig an. Was konnte ein Kirgisenhaufen einer Kolonie antun? Soweit, glaubte er, wagen sich die verhärmten Nomaden nicht. Aus Erfah­rung war er zu der überzeugung gekommen, daß nicht die hungrigen und gepeinigten Menschen, sondern die satten und lüsternen andere anfallen. Er suchte Müller auf. Der einstige frohe Musikant hatte sich in einen Gottesschwär­mer verwandelt. Von sich sagte er:

„Hier an diesem Ort habe ich wahre Erkenntnis gefun­den. Das verlassene und karge Leben am Karaman tut mir wohler als jeder frühere Prunk und lose üppigkeit. In Qual und Elend müssen wir den Sinn unseres Lebens suchen. So ist der Wille unseres allmächtigen Schöpfers."

Damke konnte sich dieser Auffassung nicht anschließen. Er widersprach aber auch seinem Freund nicht. Müller hatte sich nunmal als Schulmeister zu tief in sein Amt vergra­ben. Damke stellte sich sein Wohl anders vor. Warum sollte er sich auch um seiner selbst nach dem Tode kümmern, wo doch sein Leben so kurz ist? Die Ewigkeit war für ihn unbegreiflich, er verstand nur das, was einen Anfang und ein Ende hatte. Damke war es, als hätte sein Leben erst jetzt einen richtigen Anfang genommen: Marget hatte ihn ganz behext. Zeitweise kam ihm das komisch vor. Ein Bauernweib aus Hessen sollte sein Glück auf Erden sein. Auch war ihm der Karaman gar nicht so fremd wie früher. Das Runde Eck im Tal, der Gerdhügel und der Eichenwald — alles schien ihm nahe und vertraut.

Es war bereits dunkel geworden. Hinter der Karaman-höhe stiegen schwarze Wolken auf. In der Ferne grollte Donner. Regen war zu erwarten. Im Graben über dem Fluß schrie ein Uhu. Es war schauerlich. Damke schritt durch eine stille einsame Gasse der Kolonie. Ein bedrückendes Gefühl bemächtigte sich seiner. Verse aus seiner Jugend­zeit bei Hofe kamen ihm in Erinnerung.

Die Ruhe schauert mich im Herz.

Sie reißt in Fetzen mir den Leib.

Und ich fliehe von dem Schmerz

und laß die Ruhe im Verbleib.


Das Grab sei ihre gute Hütt',

dort kann sie ewig wohnen.

Der Ausgang sei der Erd verschütt',

auf ihrem Sarg da soll sie thronen.


Marget erwartete ihn. Die Fuhrleute hatten sich schon zur Ruhe gelegt. Am nächsten Tag war Sonntag, und da sollte Pfarrer Johannes das Paar Damke und Marget Wulf vermählen. Die Wolken am Himmel hatten sich verzogen, und unzählig viele Sterne funkelten in weiter Höhe am Himmelsbogen.

Alle Menschen in der Kolonie schliefen einen festen Schlaf, nur Salomon Klein wachte. Er ahnte eine unge­heuere Gefahr. Selbst der Kalmücke war voll Angst und Furcht.

Jeder Sonntag war in der Kolonie ein Feiertag. Am Sonntag ruhten die Menschen von der Arbeit aus, be­lustigten sich und gingen ihren Vergnügen nach. Es gab selten einen Sonntag, wo nicht ein Ereignis geschah. An einem Sonntag 1767 wurde Seb zum Vorsteher gewählt, an einem Sonntag 1768 heirateten Marget und Willem, an einem Sonntag im August desselben Jahres verließ Dam­ke die Kolonie. Und noch an vielen anderen Sonntagen fiel in der Kolonie etwas vor, was den Tag zum Gedenktag machte. An einem Sonntag 1774 sollten Daniel Damke und Marget kopuliert werden, und davon wußte die ganze Ko­lonie.

Vom frühen Morgen war Katrin bei der Arbeit. Sie wichste die Schuhe, bürstete die Feiertagskleider und wusch und putzte die Kinder. Aus der Vorratskammer im Flur hol­te sie Mehl und Butter für süße Nudeln, Sebs Lieblings­speise. Die Kammer schien ihr zu eng, und sie bat Seb, er solle die Wand des Verstecks abreißen, damit die Kammer größer wird.

„Der Krieg ist doch vorbei und die Verstecke brauchen wir nicht mehr."

Seb nickte bedächtig dazu und sagte:

„Wir wollen nichts überstürzen."

Hinter dem Sandberg stieg die Sonne auf. Ihre Strahlen waren goldweiß und angenehm warm. Auf der Straße er­schienen in Sonntagskleidern Kolonisten mit ihren Kin­dern. Der Gottesdienst nahte. Die Leute strömten der Kir­che zu, die sich in einem Holzhaus am Karamanufer befand.

Müller zog an einem Stock die Kirchenfahne hoch, das Zeichen, daß in Kürze der Gottesdienst beginnt. Seb betrat die Kirche. Unruhe quälte ihn. Kirgisen an der Metschet — das war gefährlich. Am frühen Morgen hatte er Peter von der Lauterbach ausgeschickt, in der Richtung der Metschet Ausschau zu halten. Er war noch nicht zurückgekehrt. Warum bleibt der so lange aus, fragte sich Seb.

Die Kirche war schon lange nicht so voll wie an diesem Sonntag. Ein jeder wollte dabei sein, wenn die Ehe zwischen dem ewigen Junggesellen, Offizier und Pokrowsker Händler Damke, mit der reizend schönen Wit­we Marget geschlossen wird. Hier war es nicht so wie bei jungen Brautleuten, wo man sich über die blühende Schön­heit freute, und die schon Bejahrten sich nach ihren jungen Jahren sehnten. Hier war alles viel tiefer und ernster.

„Endlich macht Damke den letzten Schritt zum ehrwür­digen Mann", sagte Philipp Schreiner.

Unter den Kirchenbesuchern erzählte man, daß die Hochzeit großartig gefeiert werden soll. Damke hätte fünf Eimer Schnaps aus der Stadt mitgebracht. Auch Honig und Lebkuchen und Dörrfische. Von Marget wußte man, daß sie ein fettes Rind hatte schlachten lassen. Auch an Bier und Met war eine Unmenge besorgt. Nur der Kreiskommissar durfte davon nichts wissen, da kostspielige Hochzeiten verboten waren.

Hans Haal spuckte böse aus.

„Wann nimmt das ein Ende, daß man fragen muß, was man essen und trinken darf?"

Keiner konnte verstehen, warum das Leben hier auf so einem ungerechten Grundstein aufgebaut war.

Philipp Schreiner deklamierte:

Hasse nicht,

wenn man dir die Knochen bricht.

Hasse nicht,

wenn man dich mit Messern sticht.

Mach immer nur ein froh' Gesicht,

armer, trauriger Wicht.


„Ja, das dürfen wir: Unseren Kopf ruhig hinhalten", sagte Schreiner zum Schluß.

Die Luft war schwül geworden. Vielleicht gab es noch Regen, ehe der Gottesdienst zu Ende ist. In der Kirche wurde es still. Alle horchten nach den Fenstern hin. Jeden Augenblick konnten von dort die Worte des Geistlichen erklingen und darauf die Antworten der Brautleute. Ein je­der der erwachsenen Kolonisten kannte das Zeremoniell der Kopulation und hätte ohne Fehler selbst kopulieren können.

Die Stille in der Kirche wurde vom Dröhnen vieler Huf­schläge unterbrochen. Vom Sandberg kamen unzählig vie­le Reiter angesprengt. Einige hundert Schritte vor ihnen jagte Peter von der Lauterbach. Die Menschen eilten von der Kirche weg und sahen bestürzt, wie der Reiterhaufen rasch immer näher kam. Von der Lauterbach hatte schon die Kolonie erreicht. Seb trat ihm entgegen. In kurzen Worten erklärte von der Lauterbach, daß die Kolonie überfallen wird. Seb befahl sofort Peter von der Lauterbach: „Eile nach Katharinenstadt und rufe Hilfe, schnell!" Peter galoppierte aus der Kolonie, während die Räuber die ersten Häuser der Siedlung erreichten. Die Männer rannten in die nächstliegenden Höfe nach Waffen. Die Wei­ber mit den Kindern liefen auseinander, in den Häusern Rettung suchend. In der Kirche wurden die feierlichen Worte der Kopulation vor dem Altar gesprochen. Schreiner schrie durchs Fenster in den kleinen Gottesraum: „Schnell heraus, die Kolonie wird überfallen!" Pfarrer Johannes hatte die letzten Worte gesprochen, das Brautpaar hatte noch „Gott sei mit Euch" vernommen und stürzte als letztes aus der Kirche.

Satylgan hatte seine Bande in Zehnergruppen einge­teilt. Jeder Zehner hatte seinen Anführer. Beim Anfallen von Menschen durften sich die Zehner nicht trennen und nicht mehr als drei, vier Menschen einriegeln, die über­macht mußte auf jeden Fall gewahrt bleiben. Schwer ver­wundete Banditen wurden in Sicherheit gebracht. Furcht­same oder Mitleidige konnten von dem Anführer als Feig­linge getötet werden, wenn mehr als die Hälfte des Zeh­ners zustimmte. Wer den Gefangenen gefesselt hatte, dem gehörte die Hälfte dessen Werts. Die andere Hälfte gehör­te allen anderen Teilnehmern zu gleichen Teilen.

Die Banditen hatten Seb umringt. Mit einer Sense schlug er um sich. Die Banditen hielten sich schlagweit von ihm und in einem fort warfen die Angreifer Schlingen nach ihm. Es gelang aber nicht, ihn zu fangen. Langsani verließen Seb die Kräfte. Darauf rechneten die anderen. Als Seb sah, daß keine Hilfe kam, stürzte er sich auf den Räu­berhaufen und schlug einem die Sense in die Rippen. Der Getroffene schrie auf. Da hatten die Räuber Seb schon gepackt und fesselten ihn mit Stricken an den Händen. Dann umringten sie ihren Verwundeten und schrien flehend: „Allah, Allah", ließen sich auf die Erde nieder, was bedeuten sollte, daß der Getroffene im Sterben lag. Die Fesseln lockerten sich, und Seb warf sie ab. Er schaute sich blitz­schnell um und gewahrte nicht weit von sich eine Gruppe, die Schreiner umringt hatte, der sich mit einem Beil in der, Hand wehrte. Seb eilte ihm zu Hilfe. Aber die übermacht ,war groß. Einer sprengte auf Schreiner los und versetzte ihm einen mächtigen Hieb. Schreiner stürzte ohnmächtig zu Boden. Auch den ermatteten Seb hatte man bald wieder gefesselt.

An mehreren Stellen tobte immer noch der Kampf zwi­schen Kolonisten und Räubern, aber viele waren schon ge­fangen und lagen gefesselt. Unter ihnen Pfarrer Johannes, Damke, Marget, Regine. Manch einem Kolonisten war es gelungen, sich mit den Kindern in Kellern, Gebäuden, hin­ter Gärten oder im Stroh zu verstecken. Katrin saß mit ih­ren Kindern in der Vorratskammer im Versteck, das sie bei den Pugatschowschen Unruhen errichtet hatten. Wie gut war es doch, daß Seb das Versteck nicht vernichtet hatte! Ein Zehner hatte ihr Haus und auch die Kammer durchsucht, hatte alle Eßwaren mit fortgenommen, doch Katrin mit den Kindern im Versteck hatten sie nicht entdeckt.

Einige Kolonisten waren am Karaman ins Gebüsch geflüchtet.

Niemand widersetzte sich mehr dem überfall. Die Ko­lonisten wußten jetzt, daß es nicht nur um den Raub von Lebensmitteln und Waren ging, sondern vor allem um den Raub von Menschen.

Die Gefangenen waren gefesselt und wurden an der Kirche zusammengetrieben. Die Weiber weinten, die Kin­der schrien, die Männer stöhnten. Unglaublich: Menschenräuber!

„Für diesen Kraftkerl da gibt es ein hübsches Sümm­chen."

Damke stieß dem Banditen, der ihn grinsend ansah, mit dem Kopf so an das Kinn, daß dieser wie geschleudert rück­wärts umfiel. Er sprang auf und stürzte sich mit dem Dolch auf Damke. Zwei andere hielten ihn an den Armen fest und stießen ihn zurück. Toir, der Damke bei der Ge­fangennahme gefesselt hatte, schrie drohend:

„Du willst mein Geld erschlagen, aber ehedem erschla­ge ich dich."

Die Räuber trieben die geraubten Kolonisten aus der Kolonie desselben Weges, wie sie gekommen waren. Mit den Menschen trieben sie auch Pferde, Kühe und Schafe fort. Die Räuber zu Pferd hielten ihre Beute fest umschlos­sen. Ein jeder von ihnen hatte auf dem Rücken seines Pfer­deis noch ein Bündel geraubter Sachen. Seb befahl den Leuten so langsam wie möglich zu gehen. Die Räuber aber hieben mit Peitschen auf die Gefangenen ein und trieben sie an. Im Haufen entstand ein Durcheinander. Die Be­drohten stießen an ihren Nachbarn, die Schwachen fielen zu Boden, schrien und stöhnten, und die Räuber verloren die übersicht über ihre Opfer.

Regine ging hinter Schreiner. Den Frauen und Kindern hatten die Räuber die Fesseln abgenommen. Sie begann unbemerkt Schreiners Fessel zu entknoten. Die Gefangenen in der Nähe schlössen einen festen Ring um Schreiner und Regine, damit die Räuber nichts merken konnten. Die Strik-ke waren schon lose, und Schreiner hielt sie nun selbst fest. Der Zug hatte das Karamantal passiert, und es ging jetzt hinauf auf den hohen Sandberg. Der Weg führte na­he am steilen Karamanufer entlang. Die Kolonisten hatten ihn so angelegt, um das karge Feld nicht unnötig zu verkleinern. Sie kannten den Weg gut, auch das Ufer und das Tal, das mit dichtem Wald bewachsen war.

Die von dem überfall verschont gebliebenen Kolonisten schlichen vorsichtig aus ihren Verstecken hervor. Zu ihrem Schrecken sahen manche, daß sie allein zurückgeblieben waren. Ihre Familien waren fort. Auch Katrin trat aus ih­rem Hause. Das Dorf war leer, und Seb nicht mehr da. Ih­re Nachbarin, Wes Eva, hatte durch das Dachfenster ge­sehen, wie Seb gefesselt und fortgeführt worden war. Ka­trin hörte ruhig zu. Der Schrecken war so groß, daß sie ihn nicht fühlen konnte.

Immer mehr Kolonisten versammelten sich bei Katrin. Ein jeder teilte mit, wen er bei den Gefangenen gesehen hatte. Aller Blicke waren auf den Sandberg gerichtet. Plötz­lich sah man, daß in dem Zug alles durcheinanderging. Die Räuber sprengten hin und her. Am steilen Ufer hielten sie an, sprangen ab und schauten ins Tal. Es war zu weit, und man konnte nicht genau sehen, was vorgefallen war. In der Kolonie war kaum ein Dutzend Männer zurückgeblieben. Den Räubern nachzusetzen war sinnlos. Darum wurde beschlossen, die Hilfe aus Katharinenstadt abzu­warten und dann gemeinsam die Verfolgung aufzu­nehmen.

Nach einer Weile bewegte sich der Gefangenenzug in der Ferne weiter und verschwand hinter dem Sandberg. Einige der Räuber ritten zurück ins Flußtal. In der Kolo­nie befürchtete man ihre Rückkehr. Weiber und Kinder be­gaben sich in ihre Verstecke, die Männer bewaffneten sich mit Sensen und Beilen und legten sich in den Hinterhalt. Die Räuber verweilten aber am Waldesrand nahe am Fluß. Erst bei Anbruch der Nacht erfuhren die Kolonisten das Vorgefallene. Philipp Schreiner erzählte es ihnen.

„Der Strick an meinen Armen war entknebelt. Als wir nahe an das steile Ufer kamen, war ich mit einem Sprunge am Rande des Ufers und stürzte mich hinunter. Es war hoch, aber wenn es gilt, ist man federleicht. Ich hörte, wie die Schlinge durch die Luft sauste, doch sie traf nicht. Schnell lief ich weiter. Der Wald ist an dieser Stelle licht, und von der Höhe konnte man mich wahrscheinlich gut se­hen. Ich tauchte darum im Unterholz unter und wartete, daß die Räuber die Verfolgung aufgaben. Doch sie ritten im Tal, wo das Ufer niedrig und schräg war, zum Fluß und an ihm entlang, bis zur Stelle, wo ich mich befand. In den Wald trauten sie sich nicht. Einer nur stieg ab und ging auf mich zu. Er mag mich nicht gesehen haben. Als er nur noch einen Schritt weit von mir war, sprang ich auf, und ein Schlag mit einem Holzstück streckte den Schinder zu Boden. Ich nahm seinen Dolch und schlüpfte in einen Busch in der Erwartung, einem anderen Räuber zu begeg­nen. Bis zum Abend wachten die Bestien am Waldrand, aber keiner kam mehr zu mir. Ich hörte sie nach ihrem Gesellen rufen. Nach Stunden, der Räuber hatte sich etwas erholt, taumelte er zum Fluß und trank gierig. Danach ging er zu seinen Kumpanen, sprach lange mit ihnen und zeigte immer wieder mit der Hand nach der Stel­le, wo ich mich befand. Dann entfernten sich die Räuber." Die Nacht nach dem überfall war für die meisten übriggebliebenen Kolonisten schlaflos. Auf der Höhe an der Kolonie hatte man Wachen aufgestellt, die Alarm schlagen sollten, wenn die Räuber wieder kommen sollten.

Am Morgen kam in die Kolonie Kreiskommissar Gogu­ell. Ein Bote hatte ihm den überfall auf die Kolonie gemel­det. Goguell begab sich sofort in die Nachbarkolonie, um Männer zur Verfolgung der Räuber zusammenzurufen.

Um die Mittagszeit des nächsten Tages erschien aus Katharinenstadt Pfarrer Balthasar Wernborner mit einem Trupp Kolonisten zu Pferde. Das war die erste Hilfe. Der Haufen war nicht groß und nur mit Schlagwaffen und Spie­ßen ausgerüstet. Wernborner klagte, daß die Kathafinen-städter von der Nachricht des überfalls auf die Kolonie in Furcht geraten waren und sich zur Verteidigung der Stadt vorbereiten. Nur wenige hatten sich entschlossen, den Geraubten zu Hilfe zu eilen. Die Besitzer von Feuerwaffen hielten diese für den Schutz der Stadt zurück.

Wernborner war fest entschlossen, die Bande zu ver­folgen. In der Kolonie riet man ihm ab. Philipp Schreiner, der die Lage gut kannte, bewies, daß die Verfolgung der Räuber mit so schwachen Kräften nur neue Opfer kosten wird. Wernborner ließ sich nicht überreden. Er sagte, jede Stunde in der schrecklichen Gefangenschaft von Antichri­sten sei für das Leben der Unglücklichen gefährlich, und man müsse sich beeilen, sie zu befreien.

Nach langem Hin und Her wurde man sich einig, daß Wernborner mit seinem Trupp die Räuber nicht angreifen, sondern nur von weitem verfolgen soll, bis Goguell mit sei­nen Leuten ankommt. Auch versprach man sich Hilfe von Schönchen, wohin von der Lauterbach zu Kreiskommissar Wilhelmi beordert war. Wernborner mit seinem Trupp zog ab, Philipp Schreiner und Katrin sahen ihm nach. Ka­trin sagte:

„Da muß ein Wunder geschehen, wenn die paar Männer die Räuber besiegen."

Schreiner seufzte schwer.

„Die reiten dem Teufel geradewegs in den Rachen."

Die Kolonie war zerstört. Die Leute weinten und stöhn­ten. Besonders niedergeschlagen waren die Weiber, deren Männer geraubt worden waren. Katrin tröstete sie. Sie be­mühte sich Trost zu geben und meinte, sie wäre dessen völ­lig sicher, daß ihre Männer bald heil zurückkehren.

„Die Regierung ist stark, sie wird Soldaten schicken und die Bande unschädlich machen. Sie hat Pugatschows Scharen besiegt und soll mit einem Trupp Räuber nicht fertig werden?"

Ums Herz aber war es Katrin sehr schwer. Sie fühlte, daß sie nicht mehr die Kraft und den Geist in sich trug, den sie anfangs ihres Lebens in der Kolonie hatte. Damals hatte sie den festen Glauben, mit den schwersten Schick­salsschlägen fertig werden zu können. Mit tiefem Schmerz schaute sie jetzt dem Wernborner Trupp nach. Nichts als Krieg, dachte sie. In Deutschland Krieg, in Rußland Krieg. Immer mehr Elend. Warum bekriegen sich die Menschen immer aufs neue? fragte sich Katrin, und sie fand keine Antwort.

Wes Eva kam zu Katrin. Sie war voller Hoffnung auf Wernborners Verfolgung der Räuber.

„Er wird sie bestimmt befreien", sagte sie. „Die Anzahl der Krieger macht die Stärke nicht. Im Sagenbuch habe ich gelesen, wie ein Recke hundert Mann besiegte."

„Unser Leben ist keine Sage", antwortete Katrin ernst.

Die Nacht verging wieder in schwerer Wehmut. Nie­mand in der Kolonie konnte fest schlafen. Jedes Ge­räusch erschreckte. Die Männer trugen beständig Waffen. Die Wächter lauschten auf jeden Laut.

In der Nacht kehrte von der Lauterbach zurück. Die Ko­lonisten versammelten sich bei ihm. Er mußte ausführlich berichten, welche Hilfe von anderen Kreisen zu erwarten war. Von der Lauterbach sah übernächtigt aus. Die Nach­richt, daß Regine gefangen war, traf ihn schwer. Er sagte:

„Ich werde sie befreien, und wenn sie dem Teufel im Leibe steckt." Dabei erhob er seine Faust zum Schwur.

Die Zuhörer glaubten ihm. Von der Lauterbach war kein Feigling.

 

Die Nachricht von Schreiners Flucht brachte Satylgan in wilden Zorn. Er rief Dschussupp zu sich und fragte, wo der Gefangene sei, dem er nachgesetzt hätte. Dschussupp, der von dem Schlag auf den Kopf immer noch nicht bei klaren Sinnen war, sagte, er wisse von nichts. Darauf schlug Satylgan mit der Peitsche Dschussupp so hart über den Rücken, daß dieser sich vor Schmerzen krümmte.

Die Gefangenen schleppten sich mühevoll weiter. Seb ging voran. Er war auch der mutigste. Pfarrer Johannes be­tete. Müller ließ nur selten seine Stimme hören, und wenn er sprach — immer nur ein und dasselbe, Phrasen von der übergroßen Macht des Leids, welches erbaulicher und stär­ker als alle Freude sei.

„In der Nacht entwische ich denen", sagte Damke.

„Nein, nein", ängstigte sich Marget, „ich will hier nicht allein bleiben!"

„Ich nehme dich mit, wir fliehen zusammen."

„Nein, auch das nicht", sagte Marget. „Wenn sie uns dann einfangen, erschlagen sie uns. Sie sind jetzt besonders wütend, weil ihnen Schreiner entkommen ist. Sie werden uns totmartern, um den anderen Gefangenen Furcht vor der Flucht einzujagen. Besser noch, sich hier entlangzuschleppen, bis man uns befreit."

„Und wenn keiner kommt? Ich habe den Verdacht, daß das Räubergesindel mit unseren Vorgesetzten im Bunde steht. Die russischen Beamten und die Geistlichkeit sind noch viel mehr dafür, daß wir Kolonisten von der Wolga verschwinden. Sie werden sich schwerlich aufrichtig Mühe geben, uns zu befreien."

Marget hatten diese Worte tief entsetzt. Sie hatte bis jetzt fest daran geglaubt, daß die russische Regierung al­les daran setzen würde, die geraubten Kolonisten zu be­freien. Müller mischte sich in das Gespräch ein.

„Der Herr Offizier hat die Wahrheit gesagt. Den Rus­sen sind wir ein großer Dorn im Auge. Dazu haben sie zwei Gründe: Erstens weil wir deutsch sprechen, und zwei­tens weil wir nicht zu der russischen Kirche übergegangen sind."

Damke ergänzte:

„Das ist noch nicht alles. Die Russen möchten uns als unterworfenes Volk behandeln, was ihnen aber bis jetzt die Zarin nicht erlaubt. Das ist der Russen großer ärger und ihr Haß auf uns."

Pfarrer Johannes versuchte zu beschwichtigen: „Wir stehen unter dem Schutz der großen Zarin Katha­rina II. Sie besitzt die Macht im Reich und mit ihr ist Gott. Die mächtige Herrscherin wird uns helfen. Ihre Be­amten müssen ihren Willen erfüllen, widrigenfalls wird sie die Zarin züchtigen. Unser Glauben ist unsere Burg, die Feste, wo wir geschützt und bewahrt sind." Damke wiegte zweifelnd den Kopf. „Es ist aber verflucht schwer zu ertragen, von diesen Hunden fortgetrieben zu werden. Wenn es noch Krieger wären, aber so — stinkige Räuber, die weder Ehre noch Gewissen im Leibe haben." Seb warnte:

„Redet nicht solches Zeug zusammen. Die Leute sind ohnedies entmutigt. Die russischen Beamten werden ihre Pflicht erfüllen, daran kann kein Zweifel sein. Jetzt müssen wir dafür sorgen, daß wir heil und am Leben bleiben. Der Weg bis hinter den Jaik ist noch weit, und man wird uns finden und retten."

Am dritten Tag nach dem überfall erschien in der Ko­lonie ein großer Trupp Kolonisten aus den benachbarten Kolonien. Es waren alles kräftige Männer, bewaffnet und zu Pferd. Den Trupp befehligte Offizier Goguell. Die Rei­ter bemühten sich um militärische Ordnung. Zum Trupp gehörten außerdem Fuhren mit Proviant, Koch- und Eßge­schirr, Zelten, Brettern, Schaufeln und anderem Gerät. Die Kolonisten atmeten bei diesem Anblick erleichtert auf. Auf diese Kräfte konnte man hoffen.

Der Trupp hielt sich einige Stunden in der Kolonie auf, Goguell unterwies seine Leute im Fechten und machte Ma­növer zum überfall auf die Räuber. Die Männer der Kolo­nie schlössen sich Goguells Trupp an.

Am Abend kam Lauterbach von seinem Kundschafter­ritt zurück. Er meldete, daß sich die Räuber mit den Ge­fangenen am großen Metschettümpel befänden. Sie hatten dem Späher weit nachgesetzt, konnten ihn aber nicht ein­holen und kehrten zurück. In der Steppe, nicht weit von der Metschet, fand Lauterbach erschlagene Leichen. Die Toten waren so verstümmelt, daß er sie nicht erken­nen konnte.

Spät am Abend kam noch ein großer Trupp Reiter aus dem Katharinenstädter und Schöncher Kreis in die Kolo­nie. Es waren fast vierhundert Mann, alle gut ausgerüstet. Der Trupp wurde von Gardeoffizier Gawrila Dershawin angeführt. Goguell sprach mit Dershawin, und es wurde beschlossen, alle Männer unter Dershawins Befehl zu stel­len.

Jetzt zweifelte schon niemand mehr an der Befreiung der Gefangenen. Dershawins Kämpfer waren zahlenmäßig der Räuberbande überlegen und hatten die bessere Bewaff­nung.

In der Nacht noch zog man ab. Eine Vorhut mit Lauter­bach an der Spitze war bereits losgeritten. Der Zug beweg­te sich vorsichtig und stets nach sicherer Deckung suchend. Gesprochen wurde nur im Flüsterton. Dershawin hatte be­schlossen, den Zug am Morgen gegen die Räuber in den Kampf zu führen, um somit die Tageszeit für die Verfol­gung zur Verfügung zu haben. Goguell ritt neben Dersha­win. Beide besprachen noch einmal den Angriffsplan. Der­shawin behauptete, daß die Räuber sich nicht wehren wür­den, weil sie wie alle Räuber Feiglinge seien.

„Sie haben ein Gemüt wie Schakale: mordgierig und unbarmherzig, aber nur dann, wenn sie sich außer Gefahr fühlen."

Dershawin wollte die Bande umzingeln, um jedwede Flucht auszuschließen. Er erklärte weiter:

„Wenn sie uns entkommen, kehren sie später wieder, nur geschickter, weil sie die ganze Ursache ihres Mißge­schicks in ihrer Unvorsichtigkeit suchen werden."

„Vielleicht sind die Räuber Soldaten des Chanats", zweifelte Goguell. „Die Kirgisen haben sich noch nicht er­geben, sie versuchen immer noch ihre Herrschaft in der Gegend wiederherzustellen, und das darum, weil die Re­gierung nicht entschieden genug gegen sie vorgeht."

Dershawin widersprach:

„Das sind Menschen, die allein Habsucht hierher getrie­ben hat. Um aber die volle Wahrheit zu erfahren, ist es nötig, die Räuber einem gründlichen Verhör zu unterzie­hen, um somit weiteren überfällen vorzubeugen."

Ein Melder von der Vorhut sprengte heran:

„Das Lager der Banditen kann in einer Stunde Marsch erreicht werden. Die Räuber lagern im Tal der Metsehet. In einer halben Stunde sieht man schon ihre Feuer."

Dershawin gab der Vorhut den Befehl, einen nahe am Lager der Räuber gelegenen sicheren Platz für die Schar auszusuchen.

Im Osten graute der Morgen, der Tag nahte. Kühler Wind strich über die Steppe. Dershawins Männer quälte die Müdigkeit, manche schlummerten in ihren Sätteln.

Der kühle Morgen schläferte auch die Räuber ein. Weit im Tal zerstreut, dösten sie auf der Erde sitzend vor sich hin. Ihre Pferde, die sie an Stricken hielten, weideten im Gras.

Damke hatte in der Nacht Marget einigemal zu über­reden versucht, mit ihm zu fliehen. Doch jedesmal, wenn er sich nur rührte, sah er Dschussupps Katzenblick auf sich gerichtet. Der Kirgise ließ ihn keinen Augenblick aus den Augen. Er wußte gut, daß er selbst von Satylgan getötet wird, wenn Damke in der Nacht entlief.

Müller, erklärte seinen Nachbarn, daß heller Sonnen­aufgang Glück bedeutet. Steckt die Sonne aber hinter Wolken und ihre Strahlen sind nicht sichtbar, bringt das für den kommenden Tag nichts Erfreuliches.

„Das habe ich in Kassel von einer alten Amme gehört und mich später überzeugt, daß es öfter zutrifft. In Hessen gibt es wenig helle Morgen, und darum auch wenig freudige Tage."

Die Gefangenen hatten kaum geschlafen, denn die Nacht unter freiem Himmel war kalt. Der Gedanke an ein Leben in der Sklaverei war fast unerträglich. Aber die Hoff­nung auf Befreiung hielt alle aufrecht.

Damke überschlug in Gedanken, wieviel Männer die benachbarten Kolonien und Katharinenstadt aufbringen könnten für einen Kampf gegen die Räuber. Denn daß es viele und gut bewaffnete Männer sein mußten, stand nach dem gestrigen Niedermetzeln des Wernborners Trupps au­ßer Zweifel.

Müller fragte:

„Wird die Regierung Soldaten schicken, uns zu be­freien?"

„Ganz bestimmt", antwortete Damke. „Ihre Majestät, unsere allergnädigste Monarchin, wird es nicht dulden, daß solch Gesindel wie diese Räuber hier in der Gegend Unfug treiben. Die Kolonien sind der Zarin Werk, und sie wird sie nicht zerstören lassen."

Alle gaben sich bereitwillig der Hoffnung auf Rettung hin. Aber wann kommt sie, die Rettung, dachte ein jeder.

Gestern waren einige Zehnergruppen mit Elebai an der Spitze ausgezogen. Sie sollten die Kolonie an der Mündung der Metschet überfallen und ausrauben. Der Weg war nicht weit und Elebai hätte am Abend zurück sein müssen. Viel­leicht hat Elebai einen anderen Weg eingeschlagen und sich von ihm, Satylgan, losgesagt? Bei diesem Gedanken stieg dem Räuberhauptmann alles Blut zu Kopf. Wenn das so ist, wird der Schurke erfahren, was es bedeutet, Satyl­gan zu hintergehen.

Es war schon hell geworden. Der Himmel war rein, und das Morgenrot stieg im Osten auf. Marget hob den Kopf und lauschte aufmerksam.

„Ich höre das Gedröhn von Pferdehufen", sagte sie. „Ganz genau höre ich es."

Die Gefangenen um sie bestätigten ihre Worte. Auch die Räuber hatten die Hufschläge vernommen, denn sie schauten in die Richtung, woher der Lärm kam. Satylgan sagte zu seinem Vertrauten:

„Elebai kommt. Es ist sein Glück."

Auch die anderen Räuber glaubten, daß Elebai vom überfall zurückkehre. Es bemächtigte sich ihrer eine schwerbezähmbare Vorfreude auf die Beute. Satylgan un­terdessen dachte bereits an den nächsten überfall auf eine Kolonie. Er würde dann in der ganzen Kirgisensteppe und auch in Chiwa als großer Sklavenhändler bekannt werden. Chane würden ihn grüßen und ihm Ehre erweisen.

Auf der Höhe zeigten sich Reiter. Es war Dershawins Schar. Sie sprengten in scharfem Galopp auf das Lager zu. In der Mitte ritt ihr Kommandeur, an den Flanken die Offiziere Goguell und Subrytzki. Die Räuber saßen blitz­schnell auf und ritten zum Haufen an. Die Gefangenen erhoben sich und schauten erstaunt nach dem Reiterschwarm, der immer näher kam. Die Wache um die Gefangenen schloß den Ring fester und drohte mit Peitschen.

Satylgan erhob gebieterisch seine Knute — das Zeichen zum Angriff. Der Räuberhaufen sprengte Dershawins Schar entgegen. Hinter der Höhe kamen immer mehr Rei­ter hervor. Es schien, als wollte ihre Zahl kein Ende neh­men. Satylgan stutzte. Einen Augenblick schaute er er­schrocken auf seine Gegner. Fassungslos kehrten die Räuber um und ergriffen die Flucht. Es fielen einige Ge­wehrschüsse. Im Haufen der Räuber stürzten einige vom Pferd. Voller Schrecken jagten die anderen weiter.

Die Gefangenen jubelten vor Freude. Seb hatte seine Hände schon befreit, warf den Strick von sich und stürzte sich auf den Räuber mit dem Kamelgesicht, der die Ge­fangenen auf dem Wege und auch bei der Rast scho­nungslos peitschte und immer drohte, sie zu erschlagen. Der Räuber wollte davonreiten, doch Seb hatte ihn so schnell aus dem Sattel gerissen, daß er nicht mal seinen Dolch ziehen konnte. Die anderen Wachen wollten ihrem Kumpan zu Hilfe kommen. Doch als sie sahen, wie Satylgan mit seinem Haufen die Flucht ergriff, wendeten sie eiligst ihre Pferde.

Die befreiten Kolonisten fielen über den gefangenen Räuber her, besonders die Weiber. Sie watschten ihn, daß es weithin knallte. Marget entriß ihm die Peitsche und schlug ihm damit heftig über den Rücken.

Damke hatte ein freies Pferd erwischt und nahm die Verfolgung auf.

Bei jedem Schuß duckten sich die Banditen in ihren Sätteln tiefer an den Rist ihrer Pferde und schrien nach Allah.

Der so heiß ersehnte Augenblick war gekommen, Pfar­rer Johannes kniete nieder und betete zu Gott so laut und inbrünstig wie er nur konnte. Dershawins Reiter setzten den Flüchtenden nach. Besonders geschwind stürmten die Flanken, die den Kreis um die Räuber schließen sollten. Von der Lauterbach galoppierte ah die befreiten Koloni­sten heran:

„Regine, lebst du noch?" Regine lachte vor Freude und rief ihm zu: „Ja, Peter, bin auch noch gesund." Dann sprengte Lauterbach den Räubern nach. Ein Teil der Räuber war schon umzingelt, aber Satylgan, der das schnellste Pferd besaß, schien mit einer kleinen Gruppe zu entkommen. Die Erde dröhnte unter dem heftigen Hufschlag der dahinzufliegen scheinenden Pferde.

Satylgan spürte, welche Gefahr ihm drohte. Er gab den Räubern, die ihm folgten, ein Zeichen anzuhalten und den Kampf mit den Verfolgern aufzunehmen. Er selbst ge­dachte, dabei zu entkommen. Niemand von den Räubern befolgte seinen Befehl.

Unter den Befreiten war jetzt reges Leben. Sie umarmten und küßten sich gegenseitig. Viele verspürten das erste Mal seit ihrer Gefangenschaft Hunger. Es wur­den Kessel aufgestellt und Essen gekocht und rasch Zelte aufgeschlagen, damit sich die Schwachen etwas erholen konnten. Einige der Befreiten badeten im Tümpel. Müller erklärte, die Zeit der Gefangenschaft sei viel zu kurz gewesen. Zu kurz, um das Gewissen zu reinigen.

„Elend und Not schickt Gott, damit sich die Menschen bessern, damit sie ihr Leben verstehen und schätzen ler­nen." Müller ließ seinen Blick über die Zuhörer schweifen und erkannte Damkes Fuhrleute Safron und Michail. Er runzelte die Stirn und sagte: „Glaubt ihr, der reiche Dam­ke wird den Fuhrleuten für die Zeit, wo sie in Gefangen­schaft waren, Tagelohn zahlen? Nein. Er wird sagen, die haben für mich nicht gearbeitet, also brauche ich auch keinen Lohn zu zahlen. Er müßte aber denken: die Leute habe ich in die Kolonie gebracht, sie gerieten in Gefangen schaft, also muß ich ihnen für diese Zeit Lohn zahlen. Die Leute brauchen das Geld."

Marget schaute Müller an, als wollte sie ihn mit ihren Blicken durchbohren. Daß Müller über Damke so abwertend sprach, hatte sie aufs ärgste erregt.

„Herr Schulmeister", sagte sie scharf, „Sie sollten Ihren bisherigen Freund nicht plötzlich schlecht machen. Und das in aller öffentlichkeit. Damke ist mutig und stark, er kann sich durchaus verteidigen."

Müllers Gesicht verfärbte sich. Es war wohl nicht die rechte Zeit, Damke zu beurteilen. Aber er konnte es nicht verwinden, daß der Offizier sich von ihm so weit entfernt hatte. Und nun hatte er auch noch Marget geheiratet. So eine quälende Verlassenheit wie an diesem Tag fühlte Mül­ler zum ersten Mal. Er starrte verlegen vor sich hin.

„Rührt niemand an, und Ihr seid selbst am sichersten", sagte Marget und wandte sich von Müller verachtend ab. Es war schon Mittag, und die Verfolgung der Räuber dauerte immer noch an. Im Lager waren nur die befreiten Kolonisten und die Fuhrleute zurückgeblieben. Waffen hat­ten sie keine und wenn jetzt Räuber kämen, könnten sie sich kaum wehren. Die Befreiten wußten, daß Elebai mit seinem Bandenteil das Metschettal entlang gezogen war. Er mußte von dort denselben Weg zurückkommen. Das konnte jede Stunde geschehen. Von Dershawins Reitern sah man nur noch kleine Trupps von der Nachhut am Ho­rizont Aussicht halten.

Für alle Fälle bereiteten sich die Leute im Lager zur Abwehr vor. Jeder Erwachsene legte sich eine Schlagwaffe zurecht: Prügel, Bretter, Stangen, Schaufeln und Beile. Für die Kinder und Schwachen wurden Verstecke im Schilfrohr ausgesucht. Ein jeder war bereit, lieber zu sterben als noch einmal den Räubern in die Hände zu fallen. Die Kolonisten hatten jetzt verstanden, daß sie sich vor allem selbst schüt­zen mußten.

Am Nachmittag kehrten Dershawins Reiter zurück. Ein großer Teil der Räuber war gefangengenommen. Die noch vor wenigen Stunden so grausamen Räuber hatten sich völlig verändert. Vor Angst flogen ihre Augen in den Höhlen hin und her. Sie waren bereit, jeden Wink der Wache demütig zu erfüllen. Wenn sie von jemandem angesprochen wurden, knieten sie untertänigst nieder und drückten ihr Gesicht an die Erde.

Satylgan war entkommen. Die vom weiten Weg ermü­deten Pferde der Kolonisten hatten ihn nicht einholen können. Auf seinem Fluchtritt war Satylgan in einer tiefen, mit Schilfrohr bewachsenen Senke verschwunden.

Am großen Tümpel machte die Reiterschar Rast. Men­schen und Tiere waren nach der langen Jagd müde und hungrig. Alle freuten sich des Sieges über die Ban­diten.

Goguell begab sich mit einigen Männern zu der Stelle, wo Pfarrer Wernborner und seine Getreuen zu Tode ge­quält worden waren. Die Mörder hatten ihre ganze Mordlust an ihnen ausgelassen. Wernborners Leiche trug sieben Dolchstiche und viele Schlagwunden. Auch die anderen er­schlagenen Kolonisten waren schrecklich zugerichtet. Tiefe Trauer ergriff die Kolonisten. Sie hoben ein großes Grab aus und betteten die Leichen der Ermordeten hinein. Johann Hof, einer aus Wernborners Trupp, stieß gramer­füllt hervor:

„Man müßte die Räuber alle hierher bringen und sie auf diesem Grabe töten."

Goguell erwiderte:

„Dann wären wir nicht besser als sie. Nur ein Gericht darf ihnen die verdiente Strafe auferlegen."

Ober die Leichen im Grab baute man aus Brettern eine feste Decke. Pfarrer Johannes vollführte das Bestattungs­ritual. Seb hielt eine Grabrede.

„Sie haben ihr Leben hingegeben, um unser Leben zu retten. Wir, die Geretteten, werden»ihnen ewig dafür dank­bar sein und ihr Andenken hoch in Ehren halten. Auch un­seren Kindern werden wir eingeben, ihrer in Liebe und Achtung zu gedenken."

Auf den Hügel steckte man ein Holzkreuz mit den Worten:

„Wanderer, bete für uns!"

Am Morgen begab sich der Zug auf den Rückweg in die Kolonie. Alle Menschen außer den gefangenen Räubern waren-jetzt zu Pferd. Der Weg war weit und bei Hitze beschwerlich.

Die Steppe lag fast leblos. Nur selten pfiff eine Ziesel­maus, oder ein Habicht kreiste hoch in der Luft. Manch­mal schoß auch ein grauer Hase über den Weg. Der Him­mel war wolkenleer. Die Luft trocken und heiß.

Seb und Müller ritten nebeneinander. Der Reiterhaufen konnte kaum mit einem Blick umfaßt werden. Inmitten sol­cher Stärke fühlte sich ein jeder sicher. Kein Feind würde es wagen, so eine Macht anzugreifen. Müller sagte zu Seb, daß er sehr zufrieden sei. Ihm bekäme der ganze überfall wie ein Bad im kälten Wasser, wo man vor Kälte zittert, danach sich aber recht wohl fühlt. So ein Bad kann alle Gebrechen heilen.

Seb schaute Müller streng an.

„Herr Schulmeister, was Sie da sprechen, ist Unsinn, und es ist besser, wenn Sie es nicht wiederholen, da kein Mensch diese Abgeschmacktheit von Ihnen annehmen wird."

Müller setzte eine unzufriedene Miene auf und schwieg. Nach einer Weile aber sagte er:

„Was ich vorhin von unserer Gefangenschaft sagte, sind nicht allein Gefühle, sondern auch Gedankenschlüsse, die Sie als gebildeter Mann ernster aufnehmen müßten."

Die Offiziere Dershawin, Goguell und Subrytzki ritten dem Zug voran. Dershawin war der Auffassung, daß nur die Saumseligkeit die Ursache der Menschenopfer sei.

„Der ehrenwerte Wernborner hatte keine Geduld abzu­warten, bis sich alle aufgerüttelt, gereckt und gestreckt hatten. Sein Tod liegt uns auf dem Gewissen." Goguell nickte zustimmend.

Die Ankunft der befreiten Kolonisten mit ihren Be­freiern löste eine so unbeschreibliche Freude aus, wie sie die Kolonie noch nie erlebt hatte. Umarmungen, Küsse, Freudenschreie, Lachen und Weinen, alles in hastigem Durcheinander. Auch die Katharinenstädter und Schöncher Reiter erhielten so manchen Kuß. Vor der Kirche hatten sich alle Einwohner der Kolonie und ihre Retter versam­melt. Seb hielt eine Ansprache, wo er all denen, die an der Vernichtung der Räuberbande Anteil hatten, innigsten Dank aussprach und ihnen Heil und Glück im Leben wünschte. Mit großer Ehrerbietung wandte sich Seb an Gardeoffizier Gawrila Dershawin und sprach seine Aner­kennung für dessen Großmut und edles Herz aus. Der Ju­bel in der Kolonie wollte kein Ende nehmen.

Seb und Katrin fühlten sich grenzenlos glücklich. „Mich quälte das schwere Schicksal, das dich und die Kinder mit meiner Gefangennahme getroffen hatte", sagte Seb.

„Ich habe nicht einmal darüber nachgedacht, weil ich nicht glauben konnte, daß du lange fortbleiben wirst", ent­gegnete Katrin.

„Da tatest du recht. Wenn man nicht an das Unglück glaubt, wird es auch nicht kommen."

Damke lud seine Freunde doch noch zur Hochzeits­feier ein. Essen und Trinken konnten zwar nur zum Teil vor den Räubern gerettet werden, aber das tat der Freude und Heiterkeit keinen Abbruch. Die Gäste aßen und tran­ken, sangen und tanzten nach Herzenslust. Müller war zur Hochzeit nicht erschienen. Er sagte, er wäre vom Weg müde. Keiner glaubte es ihm, da es an diesem Tage in der Kolonie keine müden Menschen gab.

Am 5. September 1774 berichtete Gardeoffizier Der­shawin dem Oberbefehlshaber General Golizyn, daß er mit einer Schar Freiwilliger eine Räuberbande über­wältigt und mehr als achthundert geraubte Kolonisten befreit habe.

 

Viertes Kapitel

ÜBERSIEDLUNG AN DIE LINIE

Mit dem Drang Rußlands, seine Macht zu verstärken, reiften auch die Pläne zur Unterwerfung des Kaukasus. Katharina II. machte ihren Günstling Grigori Potemkin zum Generalgouverneur vom Nordkaükasus. Das russi­sche Reich sollte festen Fuß in den Nordkaukasischen Steppen fassen. Dazu mußten die fruchtbaren Ebenen be­siedelt und entwickelt werden. Potemkin verlangte von der Zarin, daß sie nicht die weniger wichtigen Wolgastep­pen, sondern den Nordkaukasus mit Kolonisten besiedeln sollte. Die Zarin erließ ein Reskript, mit dem sie den Ko­lonisten an der Unteren Wolga erlaubte, sich im Nordkau­kasus anzusiedeln.

Zur Besiedlung wurde in der Hauptsache ein Land­streifen, der durch Mosdok führte, die sogenannte Mosdoklinie, angewiesen. Die Kolonisten am Karaman nannten den Ort kurz Linie.

1782 übergab die Zarin die Kolonien an der Unteren Wolga der Verwaltung der Saratower Wojewodenkanzlei. Der Saratower Kameralhof und das Landgericht, denen die Kolonien von nun an unterstellt waren, nahmen diese Angelegenheit nicht ernst und überließen die Kolonien sich selbst.

 

Jeden Sonntag fanden in der Kolonie am Karaman im Schulhaus Gemeindeversammlungen statt. In demselben Haus wurde auch Gottesdienst abgehalten. Das Haus be­stand ganz aus Holz und war erst wenige Jahre zuvor gebaut worden. Im Innenraum standen Bänke, und für al­le gab es genügend Platz. Trotzdem hielten sich die Män­ner bei Versammlungen mehr auf dem Hof auf. Der Wort­wechsel war oft so heiß und die gebrauchten Worte so grob und unziemlich, daß dafür das Schulhaus, wo der Al­tar stand, nicht der richtige Platz war. Während einer Un­terhaltung auf dem Schulhof sagte Heinrich Schulz zu Karl Frank:

„Pachte mein Land!"

Frank schüttelte verneinend den Kopf.

„Dein Land kriege ich umsonst, warum soll ich es pachten?"

„Warum umsonst?" fragte Schulz bestürzt.

„Du ziehst doch an die Linie, ich und dein Land blei­ben hier", erwiderte Frank völlig ruhig.

„Freue dich nicht zu früh. Ich bleibe eben daheim, und mein Land kriegst du nicht. Dir zum Schur mache ich das."

„Bleib", sagte Frank in gemütlichem Tone, „du hast zu entscheiden." Nach einer kurzen Weile sprach er weiter: „Du machst aber einen Fehler, wenn du bleibst. Hier am Karaman kommst du nie auf einen grünen Zweig. Du bist schon zu weit zurückgeblieben, um uns einzuholen.."

Schulz schaute Frank böse an.

„Du willst, daß ich an die Linie ziehe?"

„Ich will das nicht, ich rate es dir nur."

„Warum soll ich fort von hier, von meiner Kolonie, und du darfst bleiben? Weil du mein Land willst?"

„Warum gerätst du so außer dir? Ich rate dir im guten, daß es so besser für dich ist."

Die Gemeindeversammlung beriet über die Verteilung des Heuschlags. Feld und Heuschlag wurden schon seit vielen Jahren auf die männlichen Personen der Gemeinde verteilt. Bei der Ernennung der Vermessungskommission hatte die Gemeinde immer Schwierigkeiten, da beim Ver­messen der Grasstand in Betracht gezogen werden mußte. Die Männer der Kommission mußten ehrliche und kundige Männer sein. Da sich aber die Vermessungskommission immer Beschuldigungen wegen ungerechter Verteilung an­hören mußte und sich sogar Feinde zuzog, fanden sich ge­wöhnlich keine ehrenhaften Männer mehr zur Wahl.

Als die Versammlung mit dem Aufteilen der Wiese nicht vom Fleck kam, nahm Karl Frank das Wort. Er erklärte es für ungerecht, die Wiese auf die männlichen Einwohner statt nach der Anzahl der Tiere zu vertei­len, denn:

„Das Heu wird doch vom Vieh und nicht von den männ­lichen Personen gefressen." Die Gemeinde horchte auf. So etwas hatten sie noch nie gehört. Frank merkte das und sprach weiter. „Wir haben das Recht, diese Frage zu ent­scheiden. Seitdem das Tutelkontor auseinandergejagt ist, sind wir unsere eigenen Herren."

Von allen Seiten schrien die Männer auf Frank ein.

„Du willst die armen Leute ausziehen. Der Heuschlag gehört uns allen zu gleichen Teilen. Ein jeder muß sein Teil haben, ob er Vieh besitzt oder nicht", rief Schulz.

Frank ließ nicht locker.

„Wir müssen alles richtig und gerecht machen. Das Gras, das ihr nicht gesät und auch nicht gemäht habt, verkauft ihr uns. Das ist nicht gerecht. Ihr.nehmt von uns Geld und macht keinen Finger krumm dafür."

Aus der aufgebrachten Versammlung schrie man:

„Richtig. Wir füttern das Vieh und myssen dazu das Gras, das auf unserer Wiese wächst, kaufen."

Die Männer schrien wütend durcheinander. Allerlei Vorwürfe wurden laut. Die viehlosen Kolonisten und die­jenigen, die wenig Vieh besaßen, nannten Franks Vorschlag eine himmelschreiende Ungerechtigkeit und Frank selbst bezeichneten sie als Spitzbuben. Die reichen Bauern anerkannten die Verteilung der Wiese auf die Anzahl der Tiere als einzig richtigen und vernünftigen Weg.

„Wem gehört die Wiese?" fragte Frank. „Der Krone. Von wem hat die Krone den größten Nutzen? Von uns, die wir Vieh züchten, was die Zarin braucht."

„Die Zarin pfeift auf dein Vieh... Du schenkst es ihr doch nicht, und für Geld kann sie überall und immer Vieh kaufen. Die gnädige Zarin braucht Männer, die Lastep tragen, ackern und ähren gabeln können, deshalb gehört ihnen auch der Heuschlag und nicht deinen dummen Vieh­köpfen", parierte Heinrich Schulz.

Auf die zwei Streitenden trat David Puhl zu. Auch er war erregt und gegen Franks Vorschlag.

„Ihr wollt uns kleine Bauern ausschalten. Wie können wir Vieh züchten, wenn wir kein Futter beschaffen kön­nen?"

„Schafft euch Vieh an, dann habt ihr auch Recht auf Futter", entgegnete Frank.

„Willst du mich für dumm verkaufen? Beim Viehauf­ziehen muß man füttern, und nicht erst züchten und dann füttern." Puhl stieg die Zornesröte ins Gesicht.

„Was du da vorschlägst, ist nichts anderes als Gemein­heit und Dieberei, du solltest dich schämen, hier so einen ungerechten Vorschlag zu machen. Und wenn du mit dei­nem Willen durchkommst, dann zünden wir euch das bei uns gestohlene Heu an, daß es abbrennt wie eine Wachs­kerze in der Osternacht."

Frank schaute Puhl drohend an.

„Gut, daß du es ausgesprochen hast, ich werde es mir merken. Oder nimmst du deine Worte zurück?"

Puhl schwieg. Er war verlegen und bereute seine Wor­te.

Zu Hause erzählte Puhl seiner Frau Pauline von dem Zusammenstoß mit Frank. Pauline war bestürzt.

„Da hast du einen Fehler begangen, der uns schwer treffen wird. Du hast wohl vergessen, daß unsere Anna und Franks Sohn August sich lieben. Im Herbst wollen sie heiraten. Und jetzt hast du alles zunichte gemacht. Frank ist nachtragend, wenn man ihn beleidigt hat."

„Hols der Teufel. Es ist nun mal so gekommen. Wenn Frank sich aber an unserer Tochter rächen will, so soll er merken, daß er mich nicht in die Knie zwingen kann. Un­sere Tochter ist ein hübsches und kluges Ding und wird nicht ohne Mann bleiben."

Er suchte in Gedanken bereits nach einem anderen Bräutigam. Am geeignetsten schien ihm des Vorstehers Sohn Philipp. Seine Eltern, Seb und Katrin Bauer, waren angesehene Leute. David Puhl zweifelte nicht daran, daß Philipp Anna heiraten würde. Man mußte Philipp bloß wissen lassen, daß Anna auf ihn wartet. Dabei tat Eile not, um den Eindruck zu erwecken, als hätte Anna August ver­lassen und nicht umgekehrt.

Noch ein anderer Umstand bereitete Puhl viele Gedan­ken. Er hatte fest beschlossen, an die Linie zu ziehen. Die Gegend dort ähnelte einem Paradies im Vergleich zu der Gegend am Karaman. So erzählten die Leute, die dort wa­ren. Der Winter sei nur kurz und leicht erträglich. über­mäßige Hitze und Trockenzeiten gäbe es überhaupt nicht, und an kühlem Wasser fehle es auch nirgends. Der Boden sei fruchtbar, so daß Obst und Gemüse ohne Mühe gedie­hen. Nichts konnte Puhls Vorstellungen vom Nordkauka­sus durcheinanderbringen.

Warum sollte er also noch länger am Karaman blei­ben? Wie er hatten viele Kolonisten beschlossen, vom Ka­raman an die Linie zu ziehen und dort eine neue Kolonie zu gründen.

Karl Frank hatte die ganze Kolonie in Aufruhr ver­setzt. überall sprach man von seinem Vorschlag zur Ver­teilung der Wiesen.

Am Sonntag nach der Gemeindeversammlung hatte Frank seinen Sohn August und Peter, den Knecht, in aller Heimlichkeit schon zeitig auf die Wiese geschickt. Die Bau­ern in der Kolonie wetteiferten ständig miteinander: wer wen in der Arbeit überholte. Jeder wollte als erster sein Heu in Haufen setzen. August Frank und der Knecht Pe­ter waren mit allem Gerät am Ort. Sobald Karl Frank sein Los gezogen haben würde, wollte er auf seinem schnellen Pferd zur Wiese jagen und mit der Mahd beginnen. Er rechnete sich den anderen gegenüber einen Vor­sprung von vielen Stunden aus. Es blieben auch jedes Jahr kleine, nicht aufgeteilte Flecke Wiese, die frei gemäht werden konnten. Wer eben als erster auf der Wiese war, konnte das meiste Heu einfahren.

Am Mittag kam die Vermessungskommission von der Wiese unverrichteter Dinge zurück. Sie brachte eine em­pörende Nachricht. Mehr als die Hälfte des Wiesenlandes hatten Pokrowsker Kosaken abgemäht. Der Kommission erklärten sie, sie hätten das Wiesenland von der Krone gepachtet. Der Pachtvertrag sei im Saratower Kameralhof abgeschlossen worden, wo sich die Kolonisten auch zu be­schweren hätten, wenn sie nicht einverstanden seien.

Die Leute auf der Kolonie fluchten, wüteten und droh­ten, doch Rat wußte niemand. Der einzige Ausweg schien, sich zu beschweren. Aber wo und bei wem? Viele Klagen waren schon gegen das ungerechte Vorgehen der Sarato-wer Regierung erhoben worden. Alle blieben sie unbeach­tet. Im besten Falle wurden sie abgelehnt. In der letzten Zeit waren den Kolonisten Beschwerden bei der Obrigkeit so gut wie untersagt. Diese Umstände schürten die Umsiedlungslust immer stärker.

Gleich nach der Rückkehr der Kommission von der Wie­se versammelten sich die künftigen übersiedler, um sich zu beraten. Wenn bis dahin manche in ihrem Entschluß noch schwankten, so hatte die Empörung über den Heu­schlagraub allen Wankelmut vertrieben. Heinrich Schulz sprach als erster.

„Heute haben wir es erfahren müssen, daß wir recht tun mit einer Umsiedlung. Hier ist kein Bleiben mehr für uns. Ich rate allen, so schnell wie möglich Saratow den Rücken zu kehren, solange das Tor noch offen ist."

Von allen Seiten stimmte man ihm zu. Hans Haal, der sich bis jetzt von den Umsiedlern ferngehalten hatte, war heute auch erschienen, was viele erstaunte. Als er sich erhob und zu sprechen begann, hörten alle aufmerk­sam zu.

„Ich, ihr Leute, bin auch der Meinung, daß wir umsie­deln sollten. Die Regierung in Saratow, der wir jetzt un­terstellt sind, wird uns so lange berauben, bis wir mit lee­ren Händen und zu Fuß von hier fortgehen müssen."

„Richtig, richtig!" ertönten beifällige Rufe.

David Puhl nahm das Wort:

„Saratow ist ein Spitzbubennest. Heute haben sie un­sere Wiese verkauft, morgen nehmen sie sich den Wald, dann das Feld, und am Ende sitzen wir hier wie ein Vogel auf dem Ast und können uns nicht mehr ernähren."

Bis spät in die Nacht zog sich die Versammlung. Ein jeder wollte sprechen, um seine Unzufriedenheit auszu­drücken. Niemand trat gegen die Umsiedlung an die Linie auf.

 

Seb riet allen, die ihn um Rat fragten, die Kolonie nicht zu verlassen. Er erinnerte sie daran, mit wieviel Mü­he und Leid die Kolonisten den Karaman erobert hatten. Man soll doch sein Werk nicht so leichter Hand zurücklassen. Seb warrtte vor den Bergbewohnern, die sehr mord­gierig seien.

Seine Worte fanden aber wenig Anklang. Einige Kolo­nisten behaupteten sogar, Seb stecke mit der Saratower Regierung unter einer Decke. Mit großem Eifer und eilig bereiteten sich die Leute zur Umsiedlung vor. Besonders wichtig waren die Wagen. Der bevorstehende Weg war weit und führte durch unbekannte Gegenden. Die Wagen­kästen wurden mit Planen abgedeckt, um die mitgeführte Habe und auch die Menschen vor Unwetter zu schützen. überall waren die Umsiedler rege bei der Arbeit. Man half sich gegenseitig mit Ratschlägen für die Reiseaus­rüstung.

Die Kolonie hatte sich entschieden in zwei Parteien geteilt: Kolonisten, die an der Umsiedlung festhielten, und Kolonisten, die am Karaman verbleiben wollten. Die über­siedler mußten vieles von ihrer Habe verkaufen, da sie nicht alles mit sich führen konnten.

Bei Heinrich Schulz fand die Versteigerung statt. Josef Rolletter führte sie. Es ging um Haus, Nebengebäude, Um­zäunung des Hofplatzes. Alle schwiegen. Josef schaute sich um.

„Wer bietet etwas?"

Keine Antwort. Josef schaute Schulz fragend an. Ein solcher Fall war noch nie vorgekommen. Niemand wollte kaufen. Quälende Stille herrschte. Viele der Anwesenden standen mit gesenkten Köpfen. Endlich sagte ein Bursche lächelnd:

„Zehn Rubel."

„Zehn Rubel zum ersten!" Josef machte eine lange Pau­se. „Zehn Rubel zum zweiten!" In Erwartung des weite­ren schaute der Ausrufer sich fragend um. Die Umstehen­den schwiegen.

„Zehn Rubel zum zweiten!" Jetzt mußte er rufen zum dritten, und der Hof im Werte von dreihundert Rubel wä­re für zehn Rubel feil gegangen.

Schulz wurde bleich im Gesicht und zitterte vor Erre­gung.

„Halt", schrie er. „Ich verkaufe den Hof nicht."

Alle schauten erstaunt auf Schulz. Niemand sagte ein Wort. Nach einer ganzen Weile Ruhe brach einer in lau­tes Gelächter aus. Es war der Bursche, der zehn Rubel geboten hatte. Immer mehr Anwesende stimmten in das Gelächter ein.

Schulz war tief verletzt. Er ging in seine Kammer und blieb dort bis zum nächsten Morgen. Die Nachricht von dem mißlungenen Verkauf bei Schulz verbreitete sich schnell in der Kolonie. Einige lachten, andere wurden von schwerer Wehmut ergriffen. Die Umsiedler behaupteten, es sei eine Verschwörung seitens der zurückbleibenden Kolonisten im Gange. Doch diese Hinterlist werde wei­chen, sobald ein Bauer den feilgebotenen Hof kaufe. Und einer werde sich bestimmt finden, der seine Ehre höher als seinen Vorteil schätzt.

Dem Umsiedlungsrausch war ein gewaltiger Schlag versetzt worden. Hof, Geräte, Möbel und andere Wertsa­chen in den Wind jagen, hielt man für unsinnig, sogar für verschwenderisch. Letzteres zählten die Kolonisten zu den schweren Verbrechen.

Inzwischen gingen Gerüchte um, daß zwei Burschen Puhls Anna den Hof machen: Franks August und des Vor­stehers Philipp. Die Eltern wollten sie aber nur demjenigen Freier geben, der bereit wäre, mit an die Linie zu zie­hen. Das war eine schwere Bedingung, da gerade beide Väter der Burschen große Gegner der Umsiedlung an die Linie waren. Frank verbot seinem August jedwede Ver­bindung mit Anna.

„Puhl ist ein niederträchtiger Mensch, und ich will ihn nicht als Verwandten haben. Auch Anna will ich nicht in meiner Familie sehen", sagte er. August schwieg zu den Worten seines Vaters. „Was sagst du dazu?"

„Nichts", antwortete August endlich. „Es ist ohnedies alles klar. Ich werde nicht heiraten."

„Anna?"

„Überhaupt nie im Leben."

„Drohst du mir, deinem Vater?"

„Das ist mein Entschluß, und ich werde ihn nicht än­dern."

Franks Blut geriet in Wallung.

„Du bist mein Sohn", sagte er streng, „und zwar mein einziger, und bist verpflichtet, unser Geschlecht fortzu­pflanzen. Ich werde dich zwingen, das zu tun." Vater und Sohn saßen eine Weile still nebeneinander. „Nun", fragte der Vater, „was sagst du dazu?" August schwieg. „Ich lasse dir Zeit zum überlegen. Verliere nicht den Kopf und begeh keine Dummheit. Du bist jetzt erwachsen und darfst dich nicht von einem dummen Mädel verführen lassen."

„Wenn ich sie liebe, warum soll ich sie nicht heiraten?" begehrte August auf.

„Liebe", spottete Karl Frank, „das sind Schwärmereien in jungen Jahren. Sie verlieren sich mit der Zeit wie das Steckenpferdreiten der Kindheit. Das Leben stellt viel ern­stere Fragen als die Liebe. Mit Liebe hat man noch keinen ernährt, doch viele sind daran schon zugrunde gegangen." August machte mit der Hand eine abwehrende Bewe­gung. Karl Frank brauste auf.

„Du hast mir zu gehorchen, wenn du keine Sünde auf dich laden willst!"

Es gingen Gespräche um, mit der Umsiedlung bis zum nächsten Jahr zu warten. Die Ernteaussichten waren gut. Ein Teil der Kolonisten war aber dafür, die Umsiedlung so schnell wie möglich zu vollziehen. Philipp Schreiner und Seb unterhielten sich über diese Frage. Schreiner vertrat die Ansicht der Umsiedler.

„Beide Parteien haben ihren Vorteil. Die einen erhalten für sich und ihre Nachkommen mehr Land, die anderen kommen in eine bessere Gegend und werden auch die Kronschulden los."

Seb sagte:

„Am besten wäre es, wenn wir alle zusammen blieben, so wie wir es bis jetzt waren. Je mehr Menschen in der Kolonie leben, desto sicherer und geselliger ist es für alle. Land haben wir hier genug. Zivei Drittel unserer Aussaa­ten machen wir heute auf Kronland, von dem es ringsher­um genug gibt. Wir zahlen dafür keine Steuer und auch keinen Pachtzins. Und sollte es einmal an Land mangeln, so werden wir für die Landlosen unter uns Gewerbemög­lichkeiten schaffen."

Schreiner dachte nach.

„Du hast recht", pflichtete er Seb bei. „Viele Menschen sind eine Macht. Aber aus Not, wenn Nahrung und alles andere nicht ausreichen, kann sie zugrunde gehen." Seb schaute betrübt vor sich hin.

„Einige werden bestimmt zurückkehren", bemerkte Schreiner. „Das Heimweh wird sie hertreiben."

„Wenn sie können und dürfen. Die Regierung wird es nicht zulassen, daß die Kolonisten viel umherziehen. Das macht jeden arm. Nicht umsonst sagt man: Dreimal um­gezogen ist soviel wie einmal abgebrannt. In der Bauern­wirtschaft gibt es Dutzende Geräte und Werkzeuge, die beim übersiedeln nicht mitgenommen werden können. Sie werden gewöhnlich verschenkt oder für einen Spottpreis abgegeben. Am Ansiedlungsort werden sie aber wieder gebraucht und müssen aufs neue gekauft oder hergestellt werden. Außerdem verliert der Umsiedler unnötig viel Zeit."

Hans Haal ging zu Seb ins Kolonieamt.

„Herr Vorsteher, ich nehme meine Abmeldung zurück. Ich bleibe in der Kolonie."

Seb schaute Haal erfreut an.

„Besonnen?" fragte er. Haal nickte bejahend. „Das ist ein guter Entschluß."

Der Weg von Saratow nach Orenburg führte durch die Kolonie am Karaman. In den letzten Jahren hatte Saratow mit der Stadt am Jaik den Viehhandel entwickelt. Von den ersten Sommertagen an bis spät in den Herbst hinein trie­ben Händler und Kolonisten Vieh von Orenburg nach Sa­ratow, wo sie ihre Rinder absetzten und sich an den Jaik zurückbegaben. So machten sie bis zu dreimal in einem Sommer Gewinn und vergrößerten mit jedem Jahr ihr Geschäft. Haal schaute Seb vertrauensvoll an und sagte:

„Ich gedenke, mich mit Viehhandel zu beschäfti­gen. Das ist ein einträgliches Geschäft, und ich mache mich nach und nach vom Bauernstande los." Haal merkte, daß sein Entschluß Seb nicht gut einleuchtete, und sprach weiter: „Am Ende kann ich Händler und Bauer sein. Land habe ich, und das übrige findet sich beim Bauern immer." Seb nickte. Haal wollte Sebs Meinung hören. „Ich möchte gerne einen Rat hören, darum kam ich hierher."

„Wie ich den Handel verstehe, ist er unsicher und kann fehlschlagen, und du bist mit einem Schlage ruiniert. Ur­sachen dafür gibt es genug: Räuber, Seuchen, Preisschwan­kungen. Mit einem Wort, du schwimmst in einem Kahn auf dem Strom, schnell und auch vergnüglich, doch wenn der Kahn kentert, kannst du ertrinken."

Haal lächelte heiter.

„Mir tut es um alle leid, die uns verlassen werden. Lange Zeit haben wir zusammen gearbeitet, gedarbt und uns gfireut, und jetzt sollen wir uns trennen, und das ge­wiß auf immer und ewig."

„Das will ich nicht hoffen. Zwar ist es nicht ausge­schlossen. überall im Leben ist Gefahr. Auch der Bauer kann mit seiner Wirtschaft umgestülpt werden. Hier am Karaman sogar sehr leicht, hier wühlt und reißt die Dürre gefährlicher als das Wasser der Wolga."

 

Schulmeister Müller war gestorben. Der Tod hatte ihn schnell und unerwartet erreicht, daß es kaum zu glauben war: Müller hatte niemals über größere Gebrechen ge­klagt, war aber mutlos, und gleichgültig zu allem gewor­den. Anna Maria Kanter meinte, das wäre vom zwecklo­sen Leben gekommen, das er unverheiratet verlebt hatte. Er sei wie eine taube Blüte, die unbefruchtet schnell ver­trocknen muß.

Die Freunde versammelten sich am Totenbett. Seb, Ka­trin, Hans Haal und Karoline, seine Frau, Peter von der Lauterbach, Regine und einige andere Kolonisten. In tie­fer Trauer umstanden sie den Toten und gaben ihrem Leid mit lautem Beten Ausdruck.

Auf der Kolonie sprachen die Leute viel von dem Tode des alten Schulmeisters. Am meisten zerbrach man sich den Kopf über den möglichen Erben. Müller war ununterbrochen, angefangen vom Tage der Gründung der Kolonie Schulmeister. Er besaß Haus, Hof, Vieh und auch Gerät­schaften, Verwandte hatte er keine. Manche Kolonisten nannten Müllers Hausmagd Susanna als Erbin, sie habe ihn bis zu seinem Tode gepflegt, und habe es darum ver­dient, Erbin zu sein. Die meisten aber sprachen sich dafür aus, daß der Besitz des Verstorbenen voll und ganz der Gemeinde zufallen müsse. Seb wollte darüber aber erst nach der Beerdigung entscheiden.

Einen solchen Leichenzug hatten die Kolonisten schon lange nicht gesehen. Der alte Pfarrer Johannes folgte in tiefer Trauer und mit gesenktem Haupte der schwarzen Bahre, auf der der Leichnam des Freundes lag, mit dem er so viele Erlebnisse in der Kolonie am Karaman geteilt hatte. Hinter dem Pfarrer schritt Müllers Hausmagd Su­sanna im schwarzen Trauerkleid. Die Kirchenglocke läu­tete. Es war ein stiller heißer Tag. Der Zug erreichte die Höhe am Friedhof. Dem Blick bot sich das tiefe und breite mit Wald bedeckte Karamantal. Der Fluß wand sich dar­in mit vielen großen Krümmungen. Pfarrer Johannes sprach:

„Von Erde bist du genommen, zu Erde sollst du wieder werden." Der Chor sang einige Psalmen. Einige Anwesen­de weinten. Langsam füllte sich das Grab mit Erde. Oben­drauf wurde ein Hügel angehäuft und ein Kreuz gesteckt.

Am selben Tage erschienen Seb, Philipp Schreiner und David Puhl im Hause des verstorbenen Müller und verla­sen Susanna das Testament. Es lautete: „Allen lebenden und toten Besitz hinterlasse ich der Erbin Susanna Götz, meiner Wirtin und treuen Freundin. Die Hälfte meines Bargeldes verweise ich zum Unterhalt verlassener Wai­sen und hilfloser Greise. Die Geige soll Seb Bauer dem talentiertesten jungen Geigenspieler der Kolonie über­geben."

Die Gemeinde hatte jetzt eine neue große Sorge. Einen Schulmeister für die Kolonie zu finden, war eine schwere Aufgabe. Die Kolonien in der Umgegend von Saratow hatten keine Schulen, die Schulmeister heranbilden konn­ten. Einen geschulten Mann aus Deutschland kommen zu lassen, war fast unmöglich: Die Lage in der alten Heimat hatte sich dank langen Jahren friedlichen Lebens bedeu­tend gebessert, und es hätten sich dort schwerlich Bereit­willige gefunden, um sich als Präzeptor an den Karaman zubegeben.

Nach langem Suchen und Wählen entschloß sich die Gemeinde für einen jungen Mann namens Konrad Kuhn, der bei Müller in der Gemeindeschule lesen und schreiben gelernt hatte und auch über ein gutes musikalisches Emp­finden verfügte. Nach Müller schien ja Kuhn in allem un­kundig, doch die Gemeinde hatte keinen anderen Ausweg.

Kuhn war eifrig und fleißig und bemühte sich, seine Amtspflicht zu erfüllen, was ihm bald Vertrauen und Ehre bei den Kolonisten einbrachte.

 

Auf den Feldern gedieh alles prächtig. Die Getreideäh­ren waren groß und prall, voll Körner. Wenn das Wetter sich auch bei der Ernte gut hielt, könnten die Kolonisten ihre Speicher randvoll mit Korn füllen und noch eine be­trächtliche Menge verkaufen. So ohne weiteres auf die Ern­te verzichten, wollten auch jene Kolonisten nicht, die sich anschickten an die Linie überzusiedeln. Heinrich Schulz hatte seine Plane vom Wagen abgebaut. Die Umsiedler glaubten ihm aber nicht. Das sei nur ein Manöver, mein­ten die Leute.

David Puhl konnte sich mit Frau und Tochter nicht einigen. Frau Pauline hielt zu ihrer Tochter, und diese wollte auf jeden Fall in der Kolonie bleiben. Sie liebte August Frank und hatte die Hoffnung auf ihn nicht aufge­geben.

Spät am Abend klopfte es leicht bei Puhls am Back­hausfenster, wo Anna schlief. Sie erkannte August sofort.

Er war sehr erregt, und seine Stimme bebte. Mühsam brachte er hervor:

„Ich muß mich von dir verabschieden. Ich kann dich nicht heiraten. Vater erlaubt es nicht."

Anna schmiegte sich an August.

„Das ist ja nichts Neues. Ich weiß es schon lange. Schon von dem Tage, als auf der Gemeindeversammlung die Wiesenfrage behandelt wurde."

„Und was soll ich machen?" fragte August hilflos.

„Nichts, nur warten. Mit Warten erreicht man oft mehr als mit Gewalt. Dein Vater besteht auf seinem Entschluß und wird jetzt nicht ablassen. Aber mit der Zeit wird er müde werden, gegen deinen Willen zu handeln, und er wird nachgeben. Du darfst nur nicht klein beigeben."

Viel Zeit, um miteinander das Zukünftige zu bereden, blieb den beiden nicht. Schon bald graute der Morgen.

 

Karl Frank hatte sich dem Viehhandel von Hans Haal angeschlossen. Er versprach sich von jedem angelegten Rubel den doppelten Gewinn. Er machte auch August mit dem Ankauf und dem Umtrieb des Viehs vertraut. Dabei sollte August die Anna aufgeben. August hatte die Absich­ten seines Vaters wohl durchschaut und nahm sich fest vor, Anna nicht zu verlassen.

David Puhl hatte für den Sonntag nach Pfingsten die Versteigerung seines Hofes angekündigt. Frau Pauline und Anna baten ihn inständig, davon abzulassen.

„Hier sind wir zu Hause. Jeder Weg, jeder Pfad, auch die Höhen und Täler, die Gräben und das Wasser im Ka­raman, alle sind uns Freunde", beschwor Pauline ihren Mann.

„Was du sprichst, ist weibisch", sagte er. „Ich bin der Mann und muß allein entscheiden. Wer nichts wagt, nichts gewinnt. Der Karaman ist mir nicht ans Herz gewachsen. Ich bin hier nicht geboren und habe hier nichts verloren."

„Aber unsere Anna, hast du kein Herz für sie? Sie ist voll Leid und Schmerz." Pauline seufzte schwer.

„Das vergeht auch wieder. Irgendeiner wird sie hei­raten. Am Ende ist es ganz gleich, wer, wenn er nur ge­sunde Glieder hat und kein Narr ist", schnitt ihr Puhl das Wort ab. „Was versteht so ein dummes Mädchen von sei­nem Glück?"

 

Von Müllers Tod erfuhr Damke in Pokrowsk erst nach der Beerdigung des Verstorbenen. Er war tief betrübt. Auch er fühlte sein Alter. Die Furcht vor dem Tode über­kam ihn öfters. Er wollte noch lange nicht sterben, da er glaubte, noch vieles auf der Welt verrichten zu müssen. Seine Kinder standen noch nicht fest auf eigenen Füßen. Und auch an seinen Enkeln wollte er sich noch erfreuen. Immer öfter bedauerte er, daß ihm so wenig Zeit zum Leben blieb.

Er kam mit seiner Tochter Hermine in die Kolonie. Gleich nach seiner Ankunft suchte er Müllers Grab auf. Lange stand er vor dem frischen Grabhügel mit dem weißen Kreuz. Langsam wich das schmerzliche Gefühl von ihm, er hatte den Eindruck, sein verstorbener Freund sei hier im Grabe gut geborgen und außer Gefahr. An das Kreuz band Damke ein langes schwarzumsäumtes weißes Band mit der Aufschrift: Ewige Ruhe und das Himmel­reich sei mit Dir. Auf das Grab legte er einen Blumen­strauß aus weißen Margeriten.

Zu Seb, bei dem Damke eingekehrt war, sagte er:

„Einer ist fort, und jetzt ist die Reihe an uns", und lächelte dabei. Damke sprach mit Seb auch über die Urn­siedlung an die Linie. Er sagte, daß ihn dieses traurig stimmt, und wenn er die Umsiedlung verhindern könnte, würde er es tun.

Damke ließ Hermine bei Seb zurück. Sie sollte auf der Kolonie deutsche Sitten und Tugenden lernen. Sie war sieb­zehn Jahre alt, hübsch und reizend, und die Weiber sagten, der Offizier, so nannte man Damke, habe eine Braut auf die Kolonie gebracht. Sie waren stolz darauf, daß Damke die Kolonisten so hoch schätzte und seine Tochter an einen Bauernsohn zu verheiraten gedachte.

 

Im Frühling ist die Steppe herrlich. In kurzer Zeit sind die weiten Ebenen mit Gras bedeckt. Das Vieh der Nomaden, das den Winter über obdachlos bei Frost und Kälte gehungert hat und äußerst abgemagert ist, frißt sich bis Anfang Juni fett. In dieser Zeit treiben die Hirten aus der Steppe am Unteren Ural große Herden auf die Märkte zum Verkauf. Das Angebot ist viel größer als die Nachfra­ge und das Vieh darum sehr billig.

Hans Haal, August Frank, Peter und Karl Weber und der alte Michael Dinkel rüsteten zur Reise an den Jaik. Die Vorbereitungen dauerten beinahe eine Woche. Ein zweispänniger Wagen mit Kleidung, Eßwaren und Koch­geschirr, scharfen Messern, Sensen, Beilen und zwei Flinten, fünf gesattelten Pferden, Haals Packan, ein gro­ßer schwarzer Hofhund — gehörten zur Ausrüstung. Für alle erdenkbaren Zwischenfälle war vorgesorgt. Die Landstraße Saratow — Orenburg war sehr unsicher. Während des Pugatschowaufstandes durchzogen ziemlich dicht Militärtruppen die Gegend, und auch jetzt noch stan­den an verschiedenen Orten Wachtruppen. Trotzdem hätte man die Räuberei in der Steppe nicht ausrotten kön­nen. Besonders gefährlich war es auf den Landstraßen, wo Räuber die Viehhändler überfielen, töteten und sich ihres Besitzes bemächtigten.

Die Nacht vor der Abfahrt verbrachten August und Anna beieinander. Ihnen blieben nur wenige Stunden.

Am frühen Morgen machten sich Hans Haal und die anderen zur Abfahrt bereit. Ihre Angehörigen hatten sich zum Abschied auf dem Hofe bei Hans Haal versammelt. Es war still und kühl am Karaman. über dem Sandberg schillerte das Morgenrot." Im ruhigen Wasser platschten laut Fische.

Als sich die Männer anschickten, den Wagen zu bestei­gen, betrat Anna den Hof. Jeder der Anwesenden wußte den Grund, doch niemand ließ es sich anmerken. Die Leute taten, als bemerkten sie Anna nicht. Karl Frank legte sei­nem Sohn die Hand auf die Schulter und sagte:

„Sei vorsichtig und tapfer. Du fährst in die Fremde und überall lauern Gefahren."

August nickte gehorsam. Ehe er auf den Wagen stieg, trat er entschlossen auf Anna zu, umfaßte und küßte sie. Karl Frank sah erregt zu. Alle warteten gespannt, was er tun würde. Der Wagen fuhr los und nahm die Richtung ins Karamantal nach dem Sandberg, wo die ersten Sonnenstrahlen leuchteten. Karl Frank sah ihm nach.

„Gott sei mit ihnen", sagte er laut und gottesfürchtig. Danach wandte er sich an Anna: „Wollen wir gehen", und die beiden verließen zusammen den Hof.

Die Leute auf der Kolonie sprachen über Annas Beneh­men. So erfuhren es auch ihre Eltern. Die Mutter lobte die Tochter, der Vater jedoch war entrüstet. Er hielt Annas Auftreten für entehrend.

 

David Puhl beeilte sich mit der übersiedlung an die" Linie. Er suchte alle seine Schicksalsgenossen auf, um auch sie zur Eile anzutreiben. Er warnte vor der Willkür der Regierung, die die Kolonisten wegen der Kronschul­den am Karaman festhalten konnte. Auch das Sudelwetter im Herbst könnte die ohnehin schwere Fahrt sogar un­durchführbar machen. Viele Umsiedler erklärten sich mit Puhl einverstanden, einige aber zögerten noch. Den einen hielt die Liebe zur Heimat fest, den anderen sein Besitz, den dritten die Furcht vor der Fremde.

Den weiten Weg nach Orenburg gedachten die Karamaner Viehhändler in zehn Tagen zurückzulegen. Das Wetter war trocken und der Weg gut befahrbar. Nur ein­mal begegneten sie einer herrschaftlichen Kutsche mit einer starken Eskorte.

Am Irgis trafen die Karamaner auf Viehhändler aus Wolsk. Diese betrieben ihr Geschäft schon jahrelang und hatten Erfahrung. Sie wollten mit den Karamanern zusammen weiterfahren, weil das nicht so gefährlich war. Die Karamaner Händler willigten ein.

Je näher sie der Stadt kamen, um so lebhafter wurde es in der Steppe. Von allen Seiten bis weit vom Horizont näherten sich Viehherden dem Marktplatz. Die Treiber, Kirgisen, saßen wie Mumien plump und steif in große Kaftane gehüllt und mit schweren Malachais auf den Köpfen, auf kleinen beweglichen Pferdchen, die nur Paß­gang liefen. Vor den Festungsschanzen der Stadt trieben sie ihr Vieh zum Verkauf an. Es war so viel, daß man die Herden kaum übersehen konnte. Wo Herden aneinander stießen, mischte sich das Vieh, was jedoch den Besitzern keine Sorgen bereitete. Sie teilten dann das Vieh aufs Geratewohl.

Gekauft und verkauft wurde herdenweise. Es war fast unmöglich, das Vieh zu zählen, ebenso auch einzelne Tiere anzusehen. Nur nach Augenmaß wurden die Herden abgeschätzt und als Einheit verkauft und gekauft.

Die Karamaner Viehhändler feilschten um eine Herde, die sie auf etwa hundert Stück Vieh abschätzten. Das Vieh war sehr verschieden: von Kälbern bis zu alten Kühen und Ochsen, die ihrem Ende schon nahe waren. Auch gehörten noch ein Dutzend Schafe und einige Pferde dazu. Der Ver­käufer wollte für die Herde 800 Rubel, gab sie aber für 650, Rubel ab. Die Kirgisen trieben die verkaufte Herde vom Marktplatz weg in die Steppe. Fern vom Markt tran­ken die Verkäufer mit den Käufern ein viertel Eimer Schnaps als Magarytsch aus und verabschiedeten sich da­nach zufrieden. Das Vieh lechzte nach Wasser. Die Kara­maner trieben ihre Herde an den Jaik zur Tränke. Hier wollten sie Rast machen, bis die Hitze ein wenig nachge­lassen hatte.

 

Am Abend der Abfahrt der Viehhändler vom Karaman nach Orenburg erschien Karl Frank bei David Puhl. Frank hatte sich herausgeputzt und war freundlich gestimmt. Er sagte, daß er schon lange mal Puhl besuchen wollte, aber es sei beständig etwas dazwischengekommen. Puhl nickte dazu und sagte:

„Unsereiner ist oft nicht Herr über sich. Wir müssen ein manches Mal tun, was das Geschäft von uns verlangt."

Frank sah sich suchend nach Anna um, und als er sie zu Gesicht bekam, nickte er ihr verlegen zu: Anna lächelte freundlich zur Antwort. Mit größtem Eifer bemühte sich Frank, Puhl zu beweisen, daß die übersiedlung an die Linie nicht von Vorteil wäre. Er führte alles an, was er nur erdenken konnte, um seine Behauptung zu begründen.

„An dem fremden Ort mußt du von vom anfangen. Die Verhältnisse erkunden, Freunde suchen, die Gesetze des Landes kennenlernen. Da gehen Jahre drauf, und Zeit ist das Teuerste." Er seufzte schwer und fuhr fort: „Wenn ich mich um zwanzig Jahre jünger machen könnte, würde ich viel dafür geben. Die Lebenserfahrung, die ich jetzt habe, und die Kraft und der Sinn, die ich vor zwanzig Jahren hatte, das wäre was Unübertreffliches."

Puhl gab Frank in allem recht, doch sein Einver­ständnis, in der Kolonie zu bleiben, gab er nicht.

„Ich", sagte er, „schaue weit in die Zukunft. Mag ich jetzt auch verspielen, dafür gewinnen meine Kinder und Enkel Sie kommen aus der trockenen Hitze und dem kal­ten Winter in ein feuchtes und warmes Land." Puhl schwärmte von der Schönheit der Natur an der Linie.

„Das kann schon sein", sagte Frank, „daß für Auge und Ohr an der Linie mehr ist als hier am Karaman. Aber für den Magen und den Geldsack, wie steht es damit? Satt gucken und satt hören kann man sich das Maul nicht. Und dann muß auch noch Geld für Kleidung, Bett, Haus­und Wirtschaftsgeräte da sein."

Noch lange sprachen die zwei Männer von der Linie, dem verführerischen Ort, und wurden sich doch nicht einig: sie hatten zu verschiedene Ziele.

 

Immer weiter entfernten sich die Karamaner Viehhänd­ler vom Jaik in die unbewohnte Steppe. Selten sahen sie Hirten mit ihren Herden nordwärts auf die Sommerweide ziehen. Tagsüber fühlten sich die Händler noch einiger­maßen sicher, aber die Nächte vergingen immer in Sorgen. Sie verstanden gut, daß es für sie in dieser menschenleeren Gegend keinen Schutz gab. Sie fühlten sich ganz auf sich selbst gestellt. Es verging ein Tag um den anderen, und nichts bedrohte sie. Sie glaubten sich schon außer Gefahr.

Nach einer Woche Reise, am Morgen, stürzte aus dem Schilf an einem Teich ein Trupp kirgisischer Reiter auf sie los. Die Karamaner versammelten sich sogleich beim Wagen. Zum Entkommen war es zu spät. Die Kirgisen wa­ren sehr nahe. Hans Haal befahl seinen Männern, sich im Schutz des Wagens zur Wehr bereit zu machen. Haal und Dinkel ergriffen die Flinten, die Jungen Sensen und Beile. Die Kirgisen kamen herangeritten. In den Händen hielten sie schußbereit Flinten. Es schien, als sei der Tod für die Viehhändler gewiß. Hans Haal rief seinen Leuten zu:

„Männer, tut alles, was ihr könnt. Wenn schon sterben, dann nicht umsonst."

Michael Dinkel zielte und schoß. Der vorderste Kirgise griff nach seiner Brust, lehnte sich langsam zur Seite und fiel aus dem Sattel. Die anderen kehrten plötzlich um und ergriffen die Flucht. An einem der Räuber hatte sich Packan, der Hund, im Sprunge am Arm festgebissen. Der Räuber wollte den Hund abschütteln, sein Pferd aber sprang zur Seite und warf den Reiter ab. Packan ließ los. Der Räuber lag gekrümmt, mit dem Gesicht zur Erde" gekehrt, und rührte sich nicht. Packan stand bei ihm und knurrte drohend. Die Kirgisen verschwanden wieder im Schilf.

Die Karamaner begaben sich zu dem vom Schuß getrof­fenen Räuber. Er war bewußtlos und lag im Sterben. Der Mann hatte das Gesicht eines Europäers. Die Karamaner schauten sich fragend an. Sie gingen zu dem zweiten Räuber, den Packan gefangenhielt. Auch dieser war kein Kirgise. Er trug sogar an einer Schnur ein Kreuz auf der Brust. Die Karamaner versuchten, mit ihm zu sprechen. Der Mann verstand sie aber nicht. Er schaute nur ängstlich und schüttelte auf alle Fragen den Kopf. Die Kolonisten verbanden seine Wunden und gaben ihm Wasser. Nach einer Weile begann der Bandit zu sprechen.

Er sagte, daß er ein Russe, der Gefallene ein Zigeuner sei. Die Entkommenen seien Russen, Zigeuner und "Kirgi­sen, und sie betrieben in dieser Gegend schon einige Jahre ihren Raub. Ihr Geschäft, sagte er, ginge aber schlecht, da die Reisenden meist in großer Anzahl und bewaffnet die Gegend durchzogen. Auf die Frage, warum die Räuber ihre Flinten nicht gebrauchten, antwortete er kurz: sie hätten schon lange kein Pulver mehr.

Der Räuber wollte mit den Karamaner Viehhändlern nach Saratow ziehen und dort bleiben. Die Männer hatten aber durchaus nicht den Wunsch, in Gesellschaft eines Räubers ihren Weg zurückzulegen, so daß er am Ende allein mit dem Toten zurückblieb.

Endlich war der den Karamanern schon bekannte Irgis erreicht. In der heißen Zeit war es eine Freude, sich hier aufzuhalten.

Irgis bedeutet auf kirgisisch schlanke Jungfrau. Das Wasser ist größtenteils Schmelzwasser und daher weich und kristallklar. Im Sommer liegt der Fluß still in seinen Ufern. Ein jeder Wanderer, der an ihm vorbeikommt, ba­det in ihm. So hielten es auch die Karamaner.

Am zweiten Rasttag am Irgis kamen auch die Wolsker Viehhändler mit ihrer Herde dort an. Die alten Bekanntenfreuten sich über ihre Begegnung. Für die Wolsker bedeutete der Irgis noch viel mehr als für die Karamaner. Der Fluß mündete in der Nähe ihrer Heimat in die Wolga, und sie brauchten somit den Fluß nicht mehr zu verlassen bis zur Mündung, dem Umschlagplatz für ihren Viehhandel, wo sie ihr Vieh an Zwischenhändler verkauften.

Die Männer beschlossen, zusammen ein Abendmahl vor­zubereiten. Ein fetter Hammel wurde geschlachtet. Zum Abendessen hatten sich alle festlich am „Tisch" versammelt. Den Tisch stellte ein auf der Erde nahe am Fluß­ufer ausgebreitetes Zelttuch dar. Der Hammelbraten und die Fleischbrühe schmeckten vortrefflich. Gesättigt, erzähl­ten die Männer in gemütlicher Runde von ihrer Reise.

Die Wolsker berichteten von einem Räuberüberfall an der Landstraße, nicht lange bevor sie den Weg passierten. Ein Beamter war von Räubern mit einem Schuß getötet worden. Sein Diener hatte sich retten können.

„Die Bestien beraubten ihr Opfer bis auf die Knochen. Sogar die Kleider nahmen sie den Unglücklichen und lie­ßen ihre Lumpen zurück. Der Leichnam des getöteten Beamten war in der Sonne schon fast verwest und unkennt­lich. Wir haben den Leichnam beerdigt."

„Und wo ist der am Leben gebliebene Diener?" fragte Hans Haal.

„Mischa ist bei uns. Er will den Vorfall in Saratow melden." Die Wolsker schauten sich suchend um, konnten aber Mischa nirgends entdecken. Einer der Wolsker rief: „Mischa, Mischa!" Keine Antwort.

Haal machte mit der Hand eine abwehrende Bewegung. . „Ihr werdet den Gauner nicht finden. Er weiß gut, was ihm droht, und sitzt jetzt gut geborgen im Schilf, bis wir alle fort sind, dann kriecht er hervor und wartet auf die nächste Herde, um dort dieselbe Mär, die er euch erzählt hat, aufzutischen."

Haal erzählte von dem überfall auf ihre Gesellschaft. Die Wolsker waren entrüstet. Einige sprangen auf und begannen sofort, den Betrüger und Räuber zu suchen, um ihm den Köpf abzuhauen. Aber alles Suchen blieb verge­bens. Mischa war nicht zu finden.

Einer der Wolsker Männer fragte nach dem Hund, der den Räuber vom Pferde gerissen hatte. Die Karamaner suchten auch ihn vergeblich. Haal ging ein Stück am Fluß entlang und rief immer wieder nach seinem Hund. Da hör­te er ihn weit im Schilf bellen. Die Männer liefen hin. Packan versuchte, in dem Schilf vorwärts zu kommen, doch umsonst: die Stengel standen dicht, und das Wasser war tief.

Haal zeigte mit der Hand nach vorne und rief:

„Dort ist der Bandit!"

Auch die anderen Männer hatten ihn inzwischen entdeckt.

„Gebt mir die Flinte her", forderte Haal laut, „gleich mach ich ihm den Garaus."

Im Wasser platschte es, und an einer Stelle bewegte sich das Schilfrohr.

„Ich komme schon", rief ängstlich Mischa aus dem Schilf, „haltet aber den Hund fest."

Die Viehhändler berieten lange, was sie mit dem ge­fangenen Räuber machen sollten. Verschiedene Strafen wurden vorgeschlagen, dabei auch die Todesstrafe. Haal als Anführer der Karamaner Gruppe war entschieden da­gegen.

„Wir haben kein Recht, einen Gefangenen zu bestrafen. Unsere Pflicht ist es, den Verbrecher dem gesetzlichen Gericht zu übergeben."

Die Wolsker Viehhändler wollten den Räuber dem Wolsker Gericht ausliefern. Von so einer gefahrvollen Rei­se heil heimkehren und dazu noch einen gefangenen Räuber mitbringen, das konnte hoch geschätzt werden.

Peter von der Lauterbach, der den Sommer über sein Vieh an der Metschet weidete, brachte der Kolonie die Nachricht, daß die Viehhändler mit einer Herde Vieh an der Metschet angekommen seien. Die Freude war groß. Karl Frank spannte seinen Hengst vor die Kutsche, nahm gutes Essen und auch Schnaps mit und fuhr den Händlern entgegen. Am Hause von David Puhl hielt er an und rief Anna zu sich.

„Was soll ich überbringen?" fragte er freundlich.

„Einen Gruß und einen Kuß", antwortete sie freudig.

„Gut, ich werde es ausrichten."

Am nächsten Tag schon trafen die Viehhändler mit ihrer Herde an der Tränke am Karaman ein. Mit sachkun­digen Blicken besahen sich die Männer das Vieh. Sie lob­ten die Händler und prophezeiten ihnen in Saratow bei­nahe den dreifachen Gewinn.

 

Kreiskommissar Goguell führte mit Seb eine lange und vertrauliche Unterredung. Er teilte ihm die Auffas­sung der Saratower Obrigkeit zur übersiedlung der Ko­lonisten nach dem Kaukasus mit.

„Seine Hoheit, der Wojewodenchef, warnt die über­siedler vor einem großen Fehler, den sie später sehr bereuen werden. An der Linie werden sie über viel weniger Land verfügen als an der Wolga." Seb hörte aufmerksam zu. Goguell fuhr fort: „Die Kolonisten dürfen sich nur mit Landwirtschaft beschäftigen, wozu sie berufen sind, Ge­werbe und Handel überlaßt den Städtern." Goguell for­derte von Seb die überredung der vom Umsiedeln ange­steckten Kolonisten. Gegebenenfalls sogar mit Gewaltmaß­nahmen.

„Von dem Stand der Kolonien hängt zum größten Teil das Aufblühen der Stadt Saratow und auch der ganzen Wojewodenschaft ab", schloß Goguell.

Um den Auftrag des Kreiskommissars Goguell zu er­füllen, nahm sich Seb David Puhl vor. Er war der aktivste und hartnäckigste Umsiedler. Seb mutmaßte, daß der Weizenpreis an der Saratower Börse von Jahr zu Jahr steigen würde. Weizen aus der Steppe an der Unteren Wolga sei überall gefragt. Saratow sende schon Weizen nach Petersburg und auch nach England.

„Erinnere dich", sagte Seb, „haben wir in Deutschland jemals soviel und so gute Kuchen gegessen wie hier am Karaman? Niemals."

„Da haben Sie recht, Herr Vorsteher. Aber ich glaube nicht, daß wir mehr Geld für unseren Weizen erhalten werden. Die Aufkäufer sind sich einig. Sie wissen sehr gut, daß wir unseren Weizen verkaufen müssen, und zwar für einen beliebigen Preis, weil wir unumgänglich Geld nötig haben", erklärte Puhl.

Seb sprach weiter:

„Die Hoffnung, daß die Kronschulden von den Umsied­lern nicht getilgt zu werden brauchen, ist nicht begründet. Warum soll die Regierung Geld verschenken?"

Puhl nickte zustimmend.

„Ich rate dir, zu Hause zu bleiben und dich nicht ins Unbekannte zu begeben", sagte Seb.

„Danke, Vorsteher, für Ihren Rat", erwiderte darauf Puhl. „Ich hatte schon vorher beschlossen, in der Kolonie zu bleiben. Heute morgen habe ich die Plane vom Wagen abgerissen und Geräte und Werkzeuge wieder auf ihren alten Platz gebracht."

Seb war erst erstaunt, dann lachte er zufrieden. Er wollte nicht fragen, warum Puhl so plötzlich und unerwartet seinen Entschluß geändert hatte. Er hatte die Ur­sache ohnedies sofort erraten.

Karl Frank besuchte Puhl beinahe jeden Tag, und die gestrigen Feinde waren jetzt Freunde geworden. Oft sagt man: Ein jeder schafft sich seine Freunde und Feinde selbst. Es ist aber nicht immer so. Auch andere können Freunde zu Feinden und umgekehrt Feinde zu Freunden machen. In allen Sachen ist der Mensch nicht allein auf der Welt.

 

Bei den Karamaner Viehhändlern ging alles glatt von­statten. Das Vieh hatten sie in Saratow abgesetzt und ei­nen guten Gewinn gemacht. Ihre Mühe und das Wagnis war ihnen reichlich vergolten worden. Die Leute glaubten, daß die Händler, gelockt von der ersten glücklichen Reise, sich sogleich auf die zweite begeben würden. Es kam aber nicht so. Die Kumpanei fiel auseinander. Hans Haal sagte sich von dem Geschäft im weiteren entschieden los. Die Ursache nannte er nicht. Einmal nur sagte er, daß er nicht gerne dort sei, wo Leben und Tod beieinander säßen.

Es bildete sieh eine neue Gruppe. Doch als sie bei Seb um Pässe bäten, lehnte Seb ab. Er verlangte, die Männer sollten erst ihre Feldarbeiten verrichten und dann sich mit Nebensachen beschäftigen. Solcherart Befugnisse waren dem Vorsteher laut Instruktion, bestätigt von der Peters­burger Vormundskanzlei im Jahre 1769, erteilt worden. Goguell verlangte, die alte Instruktion zu benützen, um dem Willen der Saratower Obrigkeit, die Kolonisten als nur Bauern zu erhalten, nachzukommen. Die Händler füg­ten sich den Anordnungen ihres Vorstehers. Es ging zwar wider ihren Willen, doch konnten sie sich nicht zum Wider­spruch entscheiden, weil in diesem Zwang ein Schein von Sorgen um sie stand. Das war ein alter und erprobter Schachzug der Regierung. Im Lichte der Sorgen um die Untertanen zwingt man diese im Interesse der Machtha­ber zu handeln.

 

Hans Haal verbreitete, daß er an die Linie umsiedeln werde. Damit rief er großes Aufsehen hervor. Die über­siedlungslust wurde von neuem angestachelt. Wieder kün­digten viele Kolonisten den Verkauf ihrer Wirtschaften an. Die Kolonie war in Aufruhr.

Seb sprach mit Haal, der jetzt Führer der Umsiedler war. Er hatte die. Hoffnung noch nicht aufgegeben, den übersiedlungsdrang einzudämmen.

„Die übersiedlung stürzt die Leute ins Unglück", mahnte Seb zum wiederholten Male.

„In Gemütsruhe wird schwerlich einer seinen Heimat­ort verlassen", versetzte Haal.

„Es kommt soweit, daß ich gewaltsam dem schädli­chen Treiben ein Ende setzen muß", sagte Seb betrübt.

 

„Darf ich gehen?" wollte darauf Haal wissen. Seb nickte.

Am Morgen fuhren mit weißen Planen versehene Wa­gen auf die Straße. Auch Hans Haal erschien mit seinem Fuhrwerk. Vor seinem Tore hielt er an und schaute schwe­ren Herzens zurück. Etwas stak ihm würgend in der Keh­le. Schnell bestieg er sein Gefährt und fuhr weit bis ans Ende der Straße, dort hielt er noch einmal, und erst nach einer Weile fühlte er sich freier. Er fragte sich: Ich fahre doch aus eigenem Willen fort, warum gräme ich mich?

Viele Kolonisten waren zur Verabschiedung der Um­siedler erschienen. An beiden Seiten der Straße standen sie, alt und jung, Freunde und auch Feinde. Der lange Zug der Wagen fuhr aus der Kolonie auf die Höhe am Kara­man in Richtung Saratow. Die Kolonie blieb tief im Tai zurück. Still saßen die Leute in ihren Wagen. Nur die Pferde hörte man ab und zu prusten. Hans Haal führte den Zug an. Ihm folgte Heinrich Schulz. Auf der Höhe hielten sie. Manche schauten mit gemischten Gefühlen zu­rück nach ihrem Heimatdorf.

Die Männer versammelten sich, um noch einmal einige Fragen der Reise zu besprechen. Heinrich Schulz rollten ein paar Tränen über die Wangen. Er schrie Haal böse an:

„Fahr weiter, ehe ich umdrehe!"

„Ja", sagte noch einer, „macht jetzt schnell, daß wir hier wegkommen."

Weit in der Ferne lag Saratow, die Stadt, auf die die Kolonisten so große und schöne Hoffnungen gesetzt hat­ten, die aber tief und schmerzlich verweht wurden. Nun verließen die Kolonisten ihren ersten Heimatort in Ruß­land in der Hoffnung, eine neue und bessere Heimat zu finden.

 

Fünftes Kapitel

IM HERBST DES LEBENS

Katharina II. war gestorben.

Seb ließ in der Kolonie schwarze Trauerfahnen setzen. Der alte Pfarrer Johannes betete in der Kirche für die Seele der verstorbenen Herrscherin." Die Kolonisten beteten demütig mit, dachten aber nicht daran, bei Gott um Gnade für die Zarin zu bitten, denn sie waren überzeugt, daß Gott im Himmel sich nicht unterstehen wird, der See­le der Zarin etwas zuleide zu tun.

Im Kolonieamt hatten sich Seb, Philipp Schreiner und Karl Frank versammelt. Ein jeder der Männer fragte sich, ob mit einem neuen Zaren auch eine änderung im Leben der Kolonisten eintritt.

„Ein Zar bleibt ein Zar, wie er auch heißen wird. Und für uns Kolonisten sorgt er ganz bestimmt nicht. Für den Zaren sind wir, was unsere Pferde für uns sind — Arbeits­tiere", erklärte Philipp Schreiner.

„Kronprinz Paul soll den Kolonisten wohlgesonnen sein", beschwichtigte ihn Seb. Lange unterhielten sich die Männer und kamen zu keiner einheitlichen Meinung.

Später, kurz vor der Krönung Pauls I., kam Seb in einem Gespräch mit Goguell noch einmal auf diese Frage zurück. Goguell lächelte erheitert dazu und sagte:

„Ihr habt beim Zaren bedeutend mehr Rechte als eure Pferde bei euch. Die Fische im Karaman und die Hasen im Felde haben aber mehr Freiheit als ihr."

Goguell fragte Seb nach Kolonisten, die einen nachläs­sigen Lebenswandel führen, was nach seiner Ansicht der Hauptgrund der Verarmung wäre. Seb suchte dem Kreis­kommissar zu beweisen, daß es in der Kolonie keine Mü­ßiggänger und keine Verschwender gäbe. Die Verarmung einiger Familien rühre von Krankheiten und anderen Un­glücksfällen her.

„Nicht alle Menschen sind zur Arbeit und Wirtschafts­führung gleichermaßen fähig. Die Schwächeren müssen da den Stärkeren unterliegen", erklärte Seb.

Von schwachen und starken Menschen wollte Goguell nichts hören. Nach seiner Meinung gab es nur ordentliche und strebsame Menschen und Verschwender und Müßigganger. Damit erklärte der Offizier auch die Unterschiede in den Besitzständen der Menschen.

Seb ließ sich aber durch Goguell nicht vom Nachden­ken abschrecken. Er ahnte eine Veränderung in der Lage der Kolonisten. Wenn auch kein großer Umschwung zu erwarten war, doch manches, glaubte er, wird in neue Bahnen geleitet werden. Ganz gleiche Menschen gibt es nicht. Auch keine ganz gleichen Zaren.

Goguell gefiel auch die heranwachsende Jugend nicht. Er sagte:

„Das junge Volk ist über alle Maßen ausgelassen, und von ihm ist nichts Gutes zu erhoffen. Von Enthaltsamkeit und friedlichem Zusammenleben hat es keine Ahnung. Dar­an tragen die älteren Kolonisten die Schuld, weil sie die jungen Leute zu wenig zu guten Sitten if*hd zur Arbeit an­halten,"

Auch Seb hatte schon so manches Mal über die heran­wachsende Generation nachgegrübelt und war nicht frei von Besorgnis. Er versuchte einzulenken:

„Wir waren in unserer Jugendzeit ebenso leichtsinnig und unerfahren, wie es unsere Kinder heute sind."

„Unsere Eltern haben uns fester im Zaum gehalten", widersprach Goguell. „In der Jugend zeigt sich der künf­tige Mann. Leicht biegt sich nur ein junges Holz, ein alter Stamm bricht." Der Kreiskommissar beschuldigte Seb, daß dieser sich nicht tief genug in das Familienleben der Kolo­nisten einmischt. „Wo sind Ehre und Gehorsam den Be­jahrten gegenüber geblieben?" fragte Goguell. „Die Alten", so Goguell, „sind unsere Gesetze, Ehre und Ergebenheit der Obrigkeit gegenüber, unsere Sitten und Gebräuche, die Sorge für das ewige Leben."

Seb nickte. Auch ihm gefiel manches an der Jugend nicht. Ihm war unverständlich, warum sich die Kinder weigerten, in den Spuren ihrer Eltern zu gehen. Ob sie dazu nicht fähig sind, oder die Lebensweise der Alten feh­lerhaft ist und die jungen Leute das sehen und nicht auch Fehler begehen wollen, konnte er nicht herausfinden. Seb fühlte seit langem diese Unklarheit, aber nur wenige woll­ten sich darüber Gedanken machen. Jeder Erwachsene pochte erst einmal auf seih Recht in der Familie. Die El­tern verlangten unbedingten Gehorsam und viel Arbeit — genau nach demselben Muster, wie der Staat aufgebaut war.

Goguell verabschiedete sich von Seb mit den Worten: „Der Staat wird dem Leben der Kolonisten nie freien Lauf lassen, das ist nur den Hasen im Feld und den Fischen im Karaman gestattet."

Seb geriet bei diesen Worten in Zorn, aber bald beschlichen ihn Zweifel: Vielleicht ist es richtiger, wenn strengste Ordnung statt freier Entfaltung im Leben waltet.

 

Bei Seb zu Hause war Hochzeit. Sein Sohn Philipp heiratete Hermine. Als Damke seine Tochter zu Seb in die Kolonie gebracht hatte, munkelten viele Kolonisten von einem solchen Ausgang. Darum wunderte sich jetzt niemand.

Gefreit hatte Philipp Hermine bei ihren Eltern in Pokrowsk. Seb hatte keinen Augenblick an Damkes und Margets Einwilligung gezweifelt. Auch Hermine hatte schon lange kein Hehl mehr daraus gemacht, daß sie sich mit Philipp fest verbunden fühlte.

Katrin, die seit mehr als dreißig Jahren nicht mehr in Pokrowsk gewesen war, halte sich über die großen Verän­derungen, die seitdem hier vor sich gegangen waren, ge­wundert. Die Stadt war um das Doppelte größer gewor­den. Die Siedlung der Auswärtigen war mit der Kosakenstadt verschmolzen. Viele Teiche und Gräben fehlten ein­fach. Es gab jetzt mehrere lange Straßen mit geraden Häuserreihen. Groß und lebhaft lag der Marktplatz am Ufer der Wolga. Mehrstöckige Häuser mit Läden waren in der Nähe entstanden. Auf dem Markt traf man nicht we­nige Kolonisten-Handwerker in ihren Werkstätten. Beson­ders zahlreich vertreten waren Schneider und Schuster. Es fehlte nicht an Sattlern, Gerbern, Schmieden und Tisch­lern.

Katrin fragte nach Marfa, Kobsars Tochter. Sie erfuhr, daß Marfa an Schwindsucht gestorben war.

Daniel und Marget Damke hatten Seb und Katrin, de­ren Sohn und den Heiratsvermittler Philipp Schreiner sehr gastfreundlich empfangen. Sie hatten sich gefreut, war es doch ihr Wunsch, Hermine an Philipp zu verheiraten.

In der geräumigen und mit Zierat geschmückten Woh­nung Damkes fühlten sich die Bauers gut aufgenommen. Nachdem das gegenseitige Fragen und Antworten aufge­hört hatte, hatte Philipp Schreiner begonnen, seinen Auftrag vorzubringen. Er sagte, daß die Eheleute Bauer einen tüchtigen Sohn großgezogen hätten. Schreiner zählte viele gute Eigenschaften des jungen Mannes auf. Besonders lobte er den Freier für dessen Fleiß, Enthaltsamkeit und den Gehorsam seinen Eltern gegenüber. Damke und Mar­get hatten aufmerksam zugehört, als Schreiner sagte:

„Philipp hat beschlossen, seine eigene Familie zu grün­den. Die Frau, die er sich erwählt hat, ist ebenso tüchtig wie er." Damke nickte. Schreiner fuhr fort: „Ihre Tochter Hermine könnte Philipp und auch seinen Eltern gefallen." Stolz schauten die Damkes auf Hermine. Schreiner bemerkte ihren Blick und fuhr fort: „Nun Ihr Wort, werte Freunde und Eltern der Braut."

Damke hatte verneinend den Kopf geschüttelt.

„Eine Tochter verheiraten ist nicht leicht. Ein solcher Schritt muß tief bedacht werden."

„Wir kennen uns ja schon lange und gut", wandte Mar­get ein.

Seb und Katrin nickten bejahend zu Margets Wor­ten.

„Vielleicht nicht gut genug, um so einer ernsten Prü­fung wie die Verheiratung unseres Kindes standzuhalten", begann wieder Damke.

Marget versuchte erneut, die harten Worte ihres Man­nes abzuschwächen.

„Alles von einem Menschen zu erfahren, ist noch nie­mandem gelungen. Es reicht, wenn man seinen Charakter kennt. Ein jeder weiß, daß Vorsteher Bauer und auch Frau Katrin gute Leute sind."

Noch eine Weile hatte sich das Gespräch zwischen den Werbern und den Eltern der Braut, das, wie es Philipp und Hermine schien, völlig unnötig war, hingezogen. Endlich war Hermine nach ihrem Wunsch gefragt worden, den sie mit einem freudigen „Ja" kundtat.

Am reichlich gedeckten Tisch hatte man noch lange gesessen und alles Notwendige besprochen.

 

Auf der Hochzeit ging es lustig zu. Es wurde gezecht, getanzt und gesungen. Die Musikanten ließen es an Spiel nicht fehlen: Geige, Flöte, Zither und auch das Horn, alles war im Gange. Von Zeit zu Zeit griff auch Seb zur Geige, und es wurde besonders schön.

Seb und Damke saßen in der kleinen Stube am Tisch beim Wein. Ein Kolonist von der Bergseite hatte ihn gekeltert. Er stand gutem Rheinwein nicht nach. Seb schaute Damke eine kurze Weile forschend an. Damke war alt ge­worden: Unzählige Falten im Gesicht, das Haar grau und dünn und die Augen blaß. Damke saß still am Tisch und war in Nachdenken versunken.

„Es vergehen noch einige Jahre, und wir Alten stehen ganz im Hintergrund, dürfen nur noch zusehen, wie das junge Volk schaltet und waltet", sagte Seb. „Ach, wie schnell ist das Leben vorbeigeflogen! Die Jahre waren kurz wie Tage und viel zu kurz war die Zeit zum Wirken."

Auch Damke war traurig. Er tröstete sich aber damit, daß die Jahre, die er noch leben konnte, ihm ausreichen würden, alles zu vollbringen, was ihm noch bevorstand, und ihm auch noch Zeit zur gemütlichen Altersruhe blei­ben würde.

Nach dem Hochzeitsfest führte Seb Schwiegervater Damke in die Werkstube seines Sohnes. Der baute gerade einen zweispännigen Wagen. Philipp hatte sich eine Ecke für Sattler-, für Tischler- und auch eine für Schlosserar­beiten eingerichtet. Die Räder des Wagens waren schon fertig, und Damke mußte sich über die saubere Arbeit wundern.

„Die jungen Burschen hier am Karaman", bemerkte er, „bringen es einmal weiter als wir. Sie haben uns jetzt schon einiges voraus."

„Ja", bestätigte Seb, „wir können auf unsere Kinder stolz sein. Unser Werk kommt in zuverlässige Hände."

„Das ist tröstend für uns, und wir können leichter den Tod erwarten", ergänzte Damke. „Schade nur, daß gerade jetzt, wo das Leben auf der Welt immer schöner und bes­ser wird, wir schon alt und schwach sind."

Um Seb zu verwundern, sagte er noch:

„Es gibt jetzt schon Schiffe, die mit Dampf getrieben werden, bald werden solche auch auf der Wolga fahren."

 

Kurz vor Weihnachten erhielt Katrin einen Brief von ihrer Mutter aus Koblenz. Der Brief war vor einem Jahr und zwei Monaten geschrieben worden. Katrin weinte vor Freude. Ihre liebe Mutter lebte noch. Sie hat ihre Tochter nicht vergessen und wartet auf sie. In ihrem langen Brief, den sie unter Tränen abgefaßt hatte, erzählte Marget Linneberger von den großen Veränderungen, die während Katrins Abwesenheit vorgegangen waren. In Koblenz stünden jetzt Manufakturen, wo hablose Menschen ihr Brot verdienen. Auch seien in der Stadt viele Häuser ge­baut worden, und es wäre jetzt leichter, eine Wohnung zu mieten. Veronika, Katrins Schwester, habe sich verheiratet und sei mit ihrem Mann, einem Hutmacher, nach Mainz gezogen. Ihr Geschäft dort gehe gut. Katrins Bruder Ste­phan habe sich eine tüchtige Frau genommen. Er wirke in der Werkstatt des Vaters und habe sich ein neues Haus gebaut. Das Vaterhaus sei für Katrin bestimmt, wenn sie aus Rußland zurückkehre, schrieb Katrins Mutter.

„Die Bürger von Koblenz leiden jetzt keine so große Not mehr, als in der Zeit, wo Du uns verlassen hast. Das einzige, was uns stark bedroht, ist der Krieg mit den Fran­zosen."

Katrin weinte. Sie konnte den Brief nicht in einem weg lesen. Es verging fast ein ganzer Tag, bis sie am Ende an­gelangt war. Am zweiten Tag las sie ihn noch einmal durch. Am dritten Tag sagt« sie zu Seb:

„Mein Wunsch wäre, mich in die Heimat zu begeben. Ich sehne mich nach einer ruhigen trauten Stätte. Das Al­ter wünscht Ruhe, wo weder Kälte noch Hitze quälen."

Seb schwieg eine Weile. Auch ihn hatte der Brief ge­rührt. Er dachte an das Neckartal und die milde Witte­rung in Langenreuth. Wenn er dort seine alten Tage ver-brigen könnte...

Seb fragte Katrin:

„Aber unsere Kinder, werden sie uns folgen?"

Katrin seufzte schwer.

„Wir werden sie überzeugen, daß es für sie in Deutsch­land besser ist als am Karaman."

„Ist es das wirklich?" fragte Seb. „Ich glaube nur schwerlich daran. Unsere Kinder sind am Karaman geboren, und die Kolonie ist ihre Heimat."

Von dem Brief aus Koblenz erfuhr die ganze Kolonie. In allen Familien wurde darüber gesprochen. Die Alten erinnerten sich noch gut an Deutschland, das Land ihrer Kindheit. Die Erstansiedler waren aber jetzt in der Minderheit. Eine neue Generation lebte am Karaman. Für sie war Deutschland ein fernes unbekanntes Land, mit fremden Leuten und anderem Leben. Die alten Kolonisten erin­nerten sich auch an die großen Nöte, die sie in Deutschland durchlebt hatten, und sie glaubten nicht alles, was Marget Linneberger aus Koblenz berichtete. Sie waren durch ihre Lebenserfahrungen gut belehrt worden und zweifelten an allen Nachrichten, wenn es auch die reinste Wahrheit war.

Einige Familien beschlossen, in die alte Heimat zu­rückzukehren. An ihrer Spitze stand Philipp Schreiner. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend sprach er von nichts anderem als seinem Thüringer Land. Seb hatte sich noch nicht zur Rückwanderung geäußert.

Bei Gelegenheit sprach er mit seinem Sohn Philipp.

„Wie ist deine Meinung zur Rückwanderung nach Deutschland?"

Philipp war verlegen und überrascht, mit welchen Ge­danken sich sein Vater trug. Zur Zeit der übersiedlungswelle an die Linie war Seb sehr dagegen, daß die Kolo­nisten den Karaman verließen. Hatte er sich früher auch nach Deutschland gesehnt?

„Ist das Leben in Deutschland wie hier bei uns, besser oder schlechter?" wollte Philipp wissen.

„Ganz anders als am Karaman", antwortete Seb. „Und warum wollen wir da von hier fortziehen, Freun­de und Bekannte verlassen?"

Seb schwieg. Er selbst hatte ja nicht die Absicht zu­rückzugehen, doch Katrin ließ ihm keine Ruhe, deshalb wollte er erfahren, was Philipp darüber dachte. Jetzt lebte auch Hermine bei ihnen, und diese hing sehr an ihren Eltern und Geschwistern in Pokrowsk. Was das Trennen von Angehörigen anging, hatte Seb seine festen Grundsätze: die Kinder dürfen die Eltern verlassen, doch die Eltern die Kinder nicht. Seb hatte dafür seine Beweise: die Kinder stehen am Anfang, die Eltern am Ende ihres Lebens; erstere können eine neue Lebensbahn betreten, die Eltern aber müssen nach alter Weise ihr Leben zu Ende führen. Die Rückwanderer nach Deutschland hatten sich bei Philipp Schreiner versammelt. Es wurde viel und ernst von Deutschland gesprochen, von Landmangel, der Will­kür der adligen Gutsherren, ihrem Vorrecht in der Land­nutznießung, dem Flurrecht. Philipp Schreiner sagte:

„Soweit ich weiß, sind diese üblen Zustände in Deutschland alle abgeschafft worden und entscheidend für uns ist; daß wir uns am Karaman Fertigkeiten im selbständi­gen Wirtschaftsführen angeeignet haben. Auch Mut haben wir, um mit den verknöcherten Gutsherren fertig zu wer­den."

Salomon Klein redete immer wieder vom Weggehen:

„Wir sind hier auf einer kleinen Insel in einem großen fremden Meer, und wenn es auf diesem Meer Sturm gibt und die Wellen hoch schlagen, werden sie unsere Insel überschwemmen und wir ertrinken."

„So schlimm ist es nicht", entgegnete Karl Frank. „So gefährlich ist das Meer nicht, das uns umgibt. Wir werden immer unser Recht suchen können und uns zu verteidigen verstehen."

Die Buben sangen abends ein Lied auf den Straßen.

Der Philipp aus dem Thüringer Wald,

der lockt nach Deutschland mit Gewalt.

Alle Karamaner Bauern

sollen dort hungern und versauern.


Darum folgt ihm nicht.

dem alten Bösewicht.

Und bleibt am Karaman wohnen,

anstatt in Deutschland fronen.


Kreiskommissar Goguell brachte Seb die Nachricht, daß in Saratow das Kontor der Verwaltung für Ausländer neu eröffnet wurde. Für Seb war das eine überraschende, aber nicht unangenehme Nachricht.

Goguell maß dem Geschehen auch große Bedeutung bei. Er konnte es nicht unterlassen, seine Ansicht darüber auszusprechen.

„Zar Paul I. hat hiermit den Kolonisten einen harten Fußtritt versetzt."

Seb konnte Goguell nicht verstehen.

„Wieso?" fragte er.

„Die Gründung einer Sonderverwaltung für die Kolonisten gefällt den Russen nicht. Die Kolonisten werden da­mit von dem russischen Volk abgetrennt, was für ihr Ge­deihen von Schaden sein wird."

Seb widersprach aus dem Verstehen, daß es besser sein müsse, wenn die Behörden in einer den Kolonisten ver­ständlichen Sprache verwalten. Die Kolonisten kämen da­durch der Regierung näher und könnten sich leichter an­passen. Doch Goguell erklärte, daß man in Saratow diese Sache ganz anders betrachte. Iwan Ryschow, ein Beamter des Kameralhofes, hatte foigende Auffassung:

„Es ist unerhört, daß Untertanen des Russischen Rei­ches mit Hilfe der Sprache eines fremden Landes regiert werden sollen. Solch ein Umstand lockert das Reich, an­statt es zu festigen."

„Daraus folgt", schloß Seb, „daß man in Rußland nur russisch sprechen darf?"

„Ganz richtig. Fremde Sprachen bedeuten fremde Men­schen, und fremde Menschen sind innere Feinde des Reiches. So urteilt man in höheren Kreisen."

„Das sind falsche Schlüsse. Wenn Zar Paul I. auch dieser Meinung wäre, hätte er das Tutelkontor nicht re­stauriert."

„Was von Zar Paul I. in Zukunft zu erwarten ist, wagt niemand vorherzusagen. Iwan Ryschow hält den Zaren für einen Deutschfreund wie seinen Vater Peter III. und befürchtet, daß Paul I. dem Russischen Reich großen Schaden bringt."

Goguell bat SebT über ihre Unterhaltung Stillschwei­gen zu bewahren.

„Meinungsäußerungen über die Regierung können bei uns sehr gefährlich werden. Es wird hier als schweres Verbrechen geahndet."

Goguell und Seb sprachen auch über das Rückwan­derungsstreben, das zahlreiche Kolonisten ergriffen hatte. Der Kreiskommissar hielt es für äußerst einfältig zu glau­ben, daß die Regierung die Auswanderung erlaubt. Um­gekehrt, Rußland wird die Einwanderung aus Westeuropa auch weiterhin fördern, um seine Grenzgebiete zu festigen.

Die vom Heimkehrdrang erfaßten Kolonisten glaubten Goguells Worten nicht. Sie beriefen sich auf das Manifest der Zarin Katharina II., das ihnen die Rückkehr nach Deutschland erlaubte. Um ihr Recht zu beweisen, entsand­ten sie Philipp Schreiner und Karl Frank in das deutsche Kontor zum Oberrichter. Diese sollten von dort die Bestä­tigung bringen, daß den Kolonisten das Recht zustehe, Rußland zu verlassen.

Es war bereits Herbst geworden. Im zeitigen Frühjahr wollten die Heimkehrer aufbrechen und bis zum nächster! Herbst die deutsche Grenze erreichen. Die Reise nach Deutschland gedachten sie auf ihren Fuhrwerken zu ma­chen.

 

Seb fuhr mit Philipp auf einem leichten Wagen ins Feld. Der braune Hengst trabte seines Weges. Seb besah sich das Roggenfeld, das Philipp eingesät hatte. Die Saat stand gleichmäßig, üppig und saftig grün. Kein Saatfehler oder Pflugrutscher — alles war gut gemacht. Seb mußte sich eingestehen, daß er die Arbeit nicht besser fertigge­bracht hätte.

Am Abend sagte Seb zu Katrin:

„Es ist Zeit, daß wir uns zurückziehen, sonst werden wir unseren Kindern im Leben hinderlich."

„Glaubst du, wir sollten verschiedene Wege gehen?"

„Nicht unbedingt, aber die Kinder sind soweit, daß sie jetzt besser als wir vorangehen können. Das Leben ist nun mal so: die Alten müssen den Jungen den Platz räumen."

„Fühlst du dich schwach?" wollte Katrin wissen.

„Nein, nicht schwach, aber Philipp ist stärker als ich, und wenn wir das nicht zur rechten Zeit verstehen, machen wir einen großen Fehler, der uns und auch den Kindern schaden kann."

 

Der Winter stand vor der Tür. über die Steppe wehte kalter Wind. Die Blätter waren von den Bäumen gefallen, der Wald stand kahl. Nur kurze Zeit am Tage weidete das Vieh auf den abgeernteten Feldern; das übrige Futter er­hielt es im Stall. Die Pferde waren kräftig, und Seb sah sie mit Wohlgefallen. Wenn er ans Auswandern dachte, konnte er sich nicht vorstellen, daß er sich von ihnen trennen sollte. Seb liebte die Tiere, oft ging er in den Stall, sah zu, wie sie fraßen, sich ausruhten. Im Verlaufe von vie­len Jahren hatte er sie gut verstehen gelernt. Sie hatten sehr verschiedene Charaktere: ruhige verträgliche Natu­ren, und auch hitzige und zänkische waren unter ihnen.

Der Gedanke an Rückwanderung setzte sich bei Seb nicht fest, viel zu stark fühlte er sein Leben an den Kara­man gebunden. Hier stand das Werk der besten Zeiten seines Lebens.

 

Philipp Schreiner und Karl Frank waren in Pokrowsk bei Damke eingekehrt. Damkes Gasthaus war kurz zuvor umgebaut worden und konnte sich wirklich sehen lassen. Die Zimmer blitzten vor Reinheit. Hölzerne Bettgestelle versprachen eine angenehme Nacht.

Daniel Damke hatte sich aus Altersschwäche vom Ge­schäft fast völlig zurückgezogen. Nur hie und da, gab er Anweisungen oder half bei leichten Arbeiten. An seiner Statt wirtschafteten sein Sohn Karl und Marget, die ja viel jünger als ihr Mann war und noch keine Schwäche spürte.

Als die Gesandten vom Karaman Damke von ihrem Vor­haben, nach Deutschland zurückzugehen, erzählten, wiegte Damke bedenklich den Kopf. Er wollte sich nicht dazu äußern, denn aus Erfahrung wußte er, daß alte Leute nicht gern Rat annehmen. Doch in Gedanken sagte er sich, daß Schreiner und auch die anderen Alten, die heimkehren wollten, viel zu alt waren für ein neues Leben in Deutsch­land.

Frau Marget hörte dem Gespräch von der Heimkehr mit Tränen in den Augen zu, aber ein Fortziehen lehnte sie entschieden ab. Ihr Sohn Karl lächelte dazu. Für ihn war das Gerede von der Rückwanderung nur eine harm­lose Unterhaltung der Alten.

Philipp Schreiner sagte betrübt:

„Unsere Kinder verstehen uns nicht. Sie haben nie das Land gesehen, wo unsere Wiege stand, und können es darum nicht lieben und schätzen. Wir müssen hier, wenn es nicht anders geht, unser Vaterrecht gebrauchen. Es gibt Fälle, wo man den Menschen mit Gewalt zu ihrem Glück verhelfen muß."

Damke schüttelte den Kopf.

„Mit Gewalt machst du niemand glücklich, weil Ge­waltverspüren ein großes Unglück ist, das das größte Glück nicht ausgleichen kann."

Damke erzählte, wie Unholde ihn in seiner Jugend zum Offizier gemacht und ihn zu Gewalttaten verleitet hatten.

„Die Jugendverführer müßten von Rechts wegen ge­setzlich verfolgt werden. Aber anstatt dessen werden sie gelobt und dürfen ungehindert viele Tausende junge Menschen aus Eigennutz ins Unglück stürzen."

Die Fahrt über die Wolga war gefahrvoll. Reißender, kalter Wind wühlte das Wasser des Flusses auf. Das Boot wirbelte auf dem tobenden Wasser und drohte jeden Au­genblick umzukippen. Nach einigen Stunden müheyoHen Ringens erreichten sie das Saratower Ufer. Schreiner und Frank wurden sofort im Saratower Kontor der Vormundschaft vorstellig. Man teilte ihnen mit, daß sie erst nach einigen Tagen vorgeladen würden. Die Karamaner Bittsteller hatten somit Zeit genug, bekannte deutsche Bür­ger in Saratow aufzusuchen.

Bei Schneidermeister Johann Beyer führten sie eine lange Unterhaltung. Hauptsächlich ging es um die Aus­wanderung nach Deutschland. Beyer und seine Familien­angehörigen und einige seiner Freunde, die zugegen waren, lauschten gerührt der Erzählung von der alten Heimat. Sie fragten die Karamaner nach vielen Einzelhei­ten von Deutschland, doch zur Auswanderung verhielten sie sich gleichgültig. Das betrübte Schreiner und Frank, die gehofft hatten, bei den Deutschen in Saratow großen An­hang zu finden.

Am vierten Tag nach der Ankunft durften die Bevoll­mächtigten der Karamaner Auswanderer bei Oberrichter Jeremejew vortreten. Streng maß der seine Besucher erst eine Weile von Kopf bis Fuß. Danach teilte er ihnen in har­ten eintönigen Worten die Neueröffnung des Kontors der Vormundschaft für Ausländer und dessen Aufgaben mit. Er machte eine Pause, um seinen Worten den richtigen Nachdruck zu verleihen, und fuhr fort:

„Ihnen wird zusätzlich genügend Land zugemessen werden. Die Kolonisten sollen mit nichts belastet werden. Die Saratower Gouvernementsverwaltung hat den Kolonisten ausreichend Bauholz zuzustellen, damit sie Häuser und andere Gebäude errichten können. Sittlichkeit und Fleiß bei der Arbeit sollen noch stärker gepflegt werden."

Jeremejew brach abrupt ab und nickte verabschiedend mit dem Kopf.

Philipp Schreiner erkühnte sich und brachte ihr An­liegen vor. Das Gesicht des Oberrichters verfinsterte sich. Er schaute Schreiner eine Weile schweigend an. Dann sagte er:

„Mit Ihrer Angelegenheit müssen Sie bei Ihrem Vorste­her vorstellig werden. Dieser kann die Frage der Gemein­deversammlung zur Behandlung vortragen. Wenn die Gemeindeversammlung Ihrem Anliegen zustimmt, dann ist der Gemeindebeschluß dem Obervorsteher zur Bestätigung vorzulegen. Wird der Beschluß bestätigt, sind Bevollmäch­tigte mit dem Beschluß an uns zu beordern. Wir werden das Schreiben an den Senat weiterleiten."

Somit mußten Schreiner und Frank unverrichteter Dinge Saratow verlassen. Als sie das Pokrowsker Ufer er­reicht hatten, klagte Schreiner über Schwäche in den Beinen und Schwindelgefühl. Auch im Gasthaus bei Damke wurde ihm nicht besser. Frau Marget kümmerte sich rüh­rend um ihn, sie meinte, er sei stark erkältet.

Frank erzählte von dem Empfang bei Oberrichter Jere-mejew. Damke nickte schweigend dazu und sagte dann: „Sei nicht betrübt. Wer weiß, was da gut und was schlecht ist. Die Russen sagen, es scheint immer dort bes­ser zu sein, wo man nicht ist..."

Um Schreiners Gesundheit war es auch am Morgen nicht besser bestellt. Frank und Damke legten den fast bewußtlosen Kranken auf den Wagen, und die Pferde zogen in Richtung Karaman. Der Himmel war trübe, rauher kalter Wind blies heftig. Zeitweise regnete oder schneite es. Frank trieb die Pferde an. Er mußte Schreiner so schnell wie möglich in die Kolonie bringen. Gegen Abend erreichte das Gefährt die Karamanhöhe. Bis zur Kolonie war es nicht mehr weit. Frank sah besorgt auf Schreiner. Dessen Gesicht war völlig entstellt. Erschrocken rief Frank: „Philipp! Philipp!", dann rüttelte er ihn. Schreiner war tot.

Ein kalter Schauer überlief Frank. Anstatt einer frohen Nachricht bringt er einen Toten nach Hause. Er saß wie gelähmt in der Droschke. Langsam fuhr er der Kolonie zu. Die Dunkelheit ließ sich auf die grauen Häuser herab.

Freunde und Bekannte erschienen in Schreiners Haus, ihr Beileid auszudrücken. Peter von der Lauterbach wollte von Frank wissen, was sie in Saratow ausgerichtet hatten. Frank antwortete nicht darauf. Er winkte nur verzweifelt ab. Von der Lauterbach sah ihm voll ins Gesicht und sagte: „Das war vorauszusehen. So verschwenderisch ist die Regierung nicht."

Philipp Bauer und August Frank standen auf dem Hofe und sprachen miteinander.

„Die Erstkolonisten werden immer weniger", sagte Philipp.

„Von der Lauterbach ist auch vom Alter nicht unter­zukriegen. Ehe er nicht alle Hasen im Feld gejagt hat, stirbt dieser alte Draufgänger nicht", witzelte August.

Die Leute kamen und gingen. Anna Maria Kanter trat auf die jungen Leute im Hofe zu und schimpfte:

„Was steht ihr da fröhlich beisammen? Geht ans Toten­bett und klagt und betet, denn auch an euch kommt einmal die Reihe zu sterben."

Das junge Volk kehrte sich wenig darum, für sie wa­ren solche Worte bedeutungsloses Geschwätz.

 

Die Tage des Winters vergingen gerade so wie in jedem Jahr. Die Kolonisten betreuten ihr Vieh, misteten die Ställe aus, fegten Höfe und Gassen und besserten Ge­räte und Werkzeuge aus. Die Weiber verrichteten die Haus­arbeiten: kochten das Essen für die Familien, strickten und flickten Kleider. Der Winter war rauh und kalt. Die helle Sonne am Himmel wärmte nur wenig, bei der grim­migen Kälte fiel das Atmen schwer. Der Schnee knirschte unter den Füßen. In dieser unfreundlichen Zeit verließen die Kolonisten selten ihre Häuser. Am warmen Herd war­teten sie auf das Ende des kalten Winters.

Im selben Winter fanden Vorsteherwahlen statt. Seb fühlte sich vom Alter schwach und wollte nicht mehr kan­didieren. Karl Frank, David Puhl und noch andere seiner Freunde versuchten Seb zu überreden, da es keinen ande­ren Mann in der Kolonie gab, der so gut wie Seb das Amt führen konnte.

Seb lehnte ab, obwohl er derselben Meinung war. Das aber nur, wenn er sich gesund und wohl fühlte. Wenn ihn aber die Schwäche befiel» war ihm alles gleich, da rührte und reizte ihn nichts mehr. Was ihm sonst am Herzen lag, entrückte ihm. Seb wollte jetzt in Ruhe zusehen, wie sich das Leben der Kolonie weiter gestaltet.

Vorsteher wurde Peter Junker, ein ruhiger, gemessener und würdiger Mann, der der Kolonie versprach, den Wie­senstreit mit den Pokrowsker Kosaken zu Gunsten der Ko­lonie zu lösen. Die Kolonisten glaubten wenig daran, daß sie der Wiese wieder habhaft werden könnten. Schon viele Jahre hatte sich Seb darum vergeblich bemüht. Die Kosa­ken blieben im Recht und behielten die Wiese für sich.

Nach der mißlungenen Mission Schreiner-Frank in Saratow war es mit der Auswanderungslust so gut wie aus. Nur Peter von der Lauterbach war entrüstet und ent­faltete rege Tätigkeit zur Rückwanderung. Wankelmütige stachelte er auf. Selbst machte von der Lauterbach keiner­lei Vorbereitung zur Auswanderung, und Regine gestand offen, daß sie nicht auswandern werden und daß Peter nur den Hilflosen beisteht. Peter von der Lauterbach besuchte Zusammenkünfte von Heimkehrern und sprach ihnen Trost und Mut zu.

Von der Lauterbach fuhr nach Katharinenstadt. Dort traf er mit Meister Albach zusammen.

„Die Regierung hat recht, wenn sie das Wandern ein­schränkt", sagte der alte Albach. „Sie hält damit die Leu­te von ihrem Unglück ab." Derselben Meinung war auch Peter von der Lauterbach. Doch die Lust zum Streiten ließ ihn anders handeln. Lauterbach fragte den Meister nach alten Katharmenstädter Bekannten. Die meisten von ih­nen waren gestorben. Albach erzählte:

„Schmied Johann Faller lebt noch. Er schmiedet aber schon viele Jahre nicht mehr. Sein Sohn Friedrich führt die Werkstatt. Er hat Lehrjungen und ist ein feiner Mei­ster. An Kunden fehlt es ihm nicht, und er gedenkt, eine neue größere Schmiede zu bauen. Haupthindernis ist der Mangel an Metall. In der Stadt geht die Mär um, daß Kaufleute vom Ural uns Metall bringen wollen. Wenn die­ses geschehen sollte, würde Faller seinen Kopf durchset­zen können. Erzeugnisse aus Metall sind heute sehr ge­fragt Das junge Volk will alles besser machen als wir zu unserer Zeit. Es ist sehr anspruchsvoll geworden."

„Daß die jungen Meister besser arbeiten als die alten, scheint mir unglaublich", widersprach von der Lauterbach.

„Wenn meine Worte dir zu wenig sind, dann geh in die Schmiede und überzeuge dich mit eigenen Augen. Fallers Friedrich macht Wunderdinge, von denen wir früher nichts wußten."

„Das ist mehr Einbildung bei den jungen Leuten als Können. Die grünen Burschen wollen in allem besser sein als wir. Es fehlt ihnen aber an Erfahrung, Geschick und tiefsinniger überlegung." Von der Lauterbach begleitete seine Worte mit energischen Gesten. Die zwei alten Män­ner unterhielten sich noch lange und brachten immer neue Beweise für den höheren Wert der Alten. „Den jungen Männern fehlt es an Waghalsigkeit."

„Was wird aus denen erst werden, wenn sie mal älter sind. Sie suchen jetzt schon immer nach Schutz und wol­len sich nicht wehren, wenn ihnen Gefahr droht. Wenn heut­zutage eine Horde Kirgisen sie überfiele, stürben sie al­le vor Angst, und die Kirgisen müßten ohne Sklaven heimkehren."

Albach lächelte zustimmend.

Der Winter ging seinem Ende zu. Des öfteren gab es warme milde Tage. Dann aber schneite es wieder große weiche Flocken. Sie fielen so dicht, daß es am hellen Tag dunkel war. Nach einem solchen Schneefall lag der Schnee hoch, und alle mußten lange schaufeln, um die Wege frei­zulegen. Gegen Abend stiegen hinter dem Sandberg schwarze Wolken auf, und reißender kalter Wind setzte ein. Ein starker Schneesturm tobte. Der Wind heulte durch Fensterläden und Hausdächer. Baumkronen bogen sich unter der Gewalt des Sturmes.

Bei Vorsteher Peter Junker erschien Karl Frank und meldete, daß sein Sohn August und Peter von der Lauter­bach sich auf dem Heimweg von Katharinenstadt befänden. Frank bat den Vorsteher um Hilfe für die beiden, da diese bei dem Sturmwetter in großer Gefahr waren.

Junker ließ sofort die Glocken läuten. Tüchtige junge Männer wurden auf Reitpferden den Reisenden entgegen­geschickt.

Die Nacht brach an, es wurde stockdunkel und das Ge­heul des Windes noch stärker als am Tage. Von der Lau­terbach und August Frank waren noch immer nicht heim­gekehrt.

Die Glocken läuteten ohne Unterlaß. Reiter, die abge­löst wurde, meldeten, daß sie das Glockengeläut weit von der Kolonie vernahmen. Je weiter die Nacht vorrückte, desto größer wurde die Sorge um die Fuhrleute. Vorsteher Junker und sein Beisitzer Hans Beyer sandten immer wieder Reiter aus, die die Umgebung der Kolonie absuch­ten. Karl Frank brachte eine Fuhre Stroh auf die Karamanhöhe und zündete das Stroh an. Der wütende Schnee­sturm riß es sofort auseinander.

Regine, die sich niemals um das Leben ihres Gatten geängstigt hatte, sagte ahnungsvoll:

„Ja, wenn Vater noch jung wäre, so käme er sicher heim, und wenn er drei Tage umherirren müßte."

Schulmeister Kuhn betete im Hause bei Frank und von der Lauterbach, um den Unglücklichen Gottes Hilfe zu er­bitten.

Gegen Morgen stießen Reiter auf dem Wege nicht weit von der Kolonie auf August Frank. Seine völlig entkräfte­ten Pferde zogen mit Mühe den Schlitten. August war steif vor Kälte und gab zu verstehen, daß er immer mit dem Schlaf kämpfen mußte. Als man August nach Peter von der Lauterbach fragte, sagte er:

„Vorne. Er hat mich wahrscheinlich im Stich gelas­sen."

Am Morgen war die ganze Kolonie in Aufregung. Wie­der waren die Männer zu Pferd und auf Schlitten bei to­bendem Sturmwetter in die Steppe ausgezogen. Sie such­ten Peter von der Lauterbach. Nirgends war eine Spur von ihm zu finden. Erst in der zweiten Tageshälfte stießen einige hinter der Karamanhöhe seitwärts von der Kolonie in einer Senke auf das Gefährt. Die Pferde waren steif und halb vom Schnee zugeweht. Von der Lauterbach lag im Schlitten, fest in seinen Kaftan gehüllt und auch zuge­schneit. Er war tot. Der Leichnam war hart gefroren.

Die Männer brachten von der Lauterbach in die Kolo­nie. Die Nachricht verbreitete sich schnell. Jung und alt wollte den Verstorbenen sehen. Hof und Haus war bei von der Lauterbach voll von Menschen. Am Totenbett klagte, die Schwiegermutter Anna Maria Kanter.

Einer sagte:

„So wie er gelebt hat, ist er auch gestorben. Jeder Mensch sucht sich seinen Tod selbst, und zwar so, wie sein Gemüt ist."

Der Sturm hatte sich gelegt, und der Tag versprach helles kaltes Wetter. Der Leichenzug war groß. Ein jeder wollte dem Unglücklichen das letzte Geleit geben. Auf dem schlichten Kreuz für den Verstorbenen stand geschrieben: Graf und Ritter Peter von der Lauterbach. So hatte es Re­gine verlangt. Es soll der Wunsch ihres Gatten gewesen sein.

 

Der Frühling begann früh und unverhofft. Unfreundli­ches rauhes Wetter wechselte in der Nacht mit warmer nebliger Stille. Der Schnee schmolz vor den Augen. Stra­ßen und Höfe füllten sich mit tiefem Schneeschlamm. Was­ser sammelte sich in Pfützen. Auch in der Nacht kühlte sich die Luft nicht ab. Die dichte Wolkendecke hing tief, kein Sonnenstrahl drang durch sie hindurch. Die Leute schaufelten Abflußrinnen für das Schmelzwasser. Gegen Abend rauschte das Wasser in Strömen durch die Gräben in den noch mit Eis bedeckten Karaman.

Der Fluß schwoll schnell an. Die Eisdecke Jaraeh, und der Eisgang begann. Schon lange war das Hochwasser im Karaman nicht so stark wie diesmal. Das war erfreulich. Ein wasserreicher Frühling läßt auf eine gute Ernte hof­fen, glaubten die Kolonisten.

Nachdem der Schnee gewichen war, stellte sich war­mes Wetter mit Sonnenschein ein. Die Steppe bedeckte sich mit Gras und bunten Blumen. Warme Landregen tränkten die Erde und ließen die jungen Pflanzen noch üppiger und saftiger wachsen. Die Bäume im Karamantal schmückten sich mit Laub und Blüten. In ihren Zweigen hüpften und trillerten lustig Vögelein. Auch der Kuckuck ließ seinen Ruf weit im Wald erschallen. Die Kolonisten reinigten und putzten ihre Häuser und Stallungen, fegten ihre Höfe und die Straßen. Am Abend spielte die Jugend auf der Karamanhöhe ihre lustigen Spiele. Der Frühling hielt vollen Einzug.

An einem solchen schönen Frühlingstag näherte sich der Kolonie eine zierliche Kutsche mit stolzem Pferdege­spann. Eine Reitereskorte begleitete das Gefährt. Niemand ahnte, wer der Insasse der Kutsche war.

Der Herr in der Kutsche war Paul Runitsch, derselbe Mann, der gegen Pugatschow gekämpft hatte. Das war vor beinahe dreißig Jahren. Vieles hatte sich seit jener Zeit in Rußland und auch in der Kolonie geändert. Damals stand der junge Offizier Runitsch im Dienste der Zarin Katharina II. Jetzt befolgte er den Willen eines anderen Herrn, des Zaren Paul I.

Runitsch kehrte nach alter Gewohnheit bei Pfarrer Johannes ein. Der General liebte leidenschaftlich das Philo­sophieren, und die Geistlichen waren ihm dafür die erwünschten Partner. Sein Lieblingsthema war Harmonie und Verträglichkeit unter den Menschen und ihre Beziehungen zur Göttlichkeit. Als Regel widersprachen ihm,die Geist­lichen, da ein Zustand, behaupteten sie, ohne Widersprü­che und leitende Gewali ztim Untergang der Menschheit führen müsse. Runitsch leugnete die Unterschiedlichkeit der Menschen nicht, aber er wollte Gerechtigkeit dabei walten sehen.

Pfarrer Johannes hatte Runitsch sogleich erkannt, und seine erste Frage war:

„Gibt es etwa wieder Krieg?"

„Gott behüte", sagte Runitsch. „Krieg ist nicht mein Element. Ich stifte viel lieber Frieden als das Gegenteil."

„Sie sind General und ohne Krieg sind Sie wie ein Bauer ohne Land", bemerkte Pfarrer Johannes.

„Ich trage nur die Uniform eines Generals. Herz und Seele sind die eines ganz gewöhnlichen Philisters", sagte Runitsch mit heiterer Miene.

„Sie untertreiben, Herr General", sagte Pfarrer Johan­nes.

„Die Uniform zeigt nichts von dem, was in ihr steckt. Heutzutage tragen viele diesen teuren Rock..." erklärte Runitsch.

Pfarrer Johannes wurde die Unterhaltung schon zu weltlich, und er wollte seine Befugnisse nicht übertreten. Und schon gar nicht durch Kritik an hohen Persönlichkei­ten. Er schwieg daher.

Runitsch ließ Vorsteher Peter Junker und Seb kom­men. Er stellte sich vor und sagte, daß er im Auftrage sei­ner Majestät des Zaren Paul I. handle. In seinem Namen spreche er allen Personen, die Pugatschow, Peter III., Hilfe erwiesen haben, Dank aus.

Die Anwesenden waren aufs äußerste erstaunt. Solch einen Widerspruch konnte niemand auch nur annähernd verstehen.

Runitsch schien nicht überrascht. Er hätte am liebsten selbst laut aufgelacht, aber sein Amt und der Auftrag des Zaren zwangen ihn zu ernstem Verhalten und 'Gebaren. Runitsch verlas die Namen aller Personen, die der Huldi­gung würdig erkannt ware.n. Erst nannte er Willem und die Leute seines Trupps, dann Seb und auch Peter von der Lauterbach. Seb fühlte sich so verlegen, daß Runitsch es nicht unterlassen konnte, eine kurze Erklärung abzugeben.

„Erinnern Sie sich, Vorsteher der Kolonie, als ich Sie zu jener Zeit bat, uns gegen Pugatschow — Peter III. — beizustehen? Sie sagten mir kurzweg ab, da Sie Ihre deut­sche Kolonie nicht in den Krieg verwickeln wollten. Ich habe Sie aber verstanden: Sie wollten nicht gegen den deutschen, wie Sie glaubten, Peter III. gehen."

Seb staunte noch mehr. Er wußte nicht, was er dazu sagen oder denken sollte.

Runitsch sprach weiter:

„Peter von der Lauterbach hat einen Trupp Freischärler an der Metschet bestraft. Damit hat er Pugatschow — Peter III. — vor Schändungen geschützt."

Die Anwesenden schauten beklommen einander an. Sie wußten nicht, sollten sie Runitschs Mitteilung als unbe­greifliche Wahrheit oder als Hohn aufnehmen.

Runitsch beauftragte Vorsteher Peter Junker, die Nach­richt von seinem Auftrag allen genannten Personen, die noch am Leben waren, mitzuteilen und auch den Angehörigen derer, die schon gestorben waren.

Noch lange Zeit nach diesem Vorfall sprach man in der Kolonie von dem seltsamen Beschluß des Zaren. Er war allen unverständlich. Soviel sich die Kolonisten auch be­mühten, einen vernünftigen Sinn konnten sie darin nicht finden.

 

Am Totentag besuchten Seb und Katrin den Friedhof. Seb hatte ihn noch zu seiner Zeil als Vorsteher neu um­zäunen und ein prächtiges Tor am Haupteingang errichten lassen. Langsam, in tiefer Demut vor dem Tod, der so vie­le schon aus den Reihen der Erstansiedler fortgenommen hatte, schritten sie zwischen den Gräberreihen entlang. Viele, die da begraben lagen, hatten sie gekannt, sahen sie wie einst lebend vor ihren Augen. An Schulmeister Mül­lers Grab blieben sie stehen. Katrin legte einen Strauß wei­ßer Blüten darauf. Das Grab war gepflegt und mit Hagebuttensträuchern und Blumen bepflanzt.

„Das macht die Susanna, seine Erbin, sie hat ihre Pflicht nicht vergessen und sorgt für das Grab ihres Wohl­täters", sagte Seb.

„Den Wohltäter hat Susanna schon längst vergessen. Die halten sich nicht lange in Erinnerung bei den Men­schen. Doch den Geliebten, den hat sie noch nicht verges­sen, und wird ihn auch noch lange in ihrem Herzen tra­gen", erwiderte Katrin.

„Er hat sich immer gewehrt vor der Liebe, da er ihre Fesseln fürchtete. Und doch hat er es bis ans Ende nicht ausgehalten", bemerkte Seb.

„Was du sprichst, ist nicht wahr. Die Fesseln der Lie­be fürchtet niemand. Aber viele Menschen finden die Lie­be lange oder gar nicht. So war es bei Schulmeister Mül­ler. Die Furcht vor der Liebe ist rein erdacht, und keiner glaubt daran."

Nicht weit von dem äußersten Grab stand eine alte Er­le. Ihre breite und hohe Krone beschattete mehrere Gräber in ihrer Nähe. Seb stellte sich unter die äste des Baumes und lauschte dem leisen Rauschen in den ästen. Sanft blies der Wind in die Blätter und Zweige des Baumes. Seb umriß mit der Hand eine Stelle unter dem Baum und sag­te in ruhigem Ernst:

„Hier möchte ich begraben sein. In dem Schatten die­ses Baumes werde ich meine Ruhe finden."

Katrin schaute Seb erschrocken an.

„Sprich nicht so. Mir wird davon bange", wehrte sie ab.

 

Am Sonntag nachmittag versammelten sich die Män­ner an der Kegelbahn bei Karl Frank im Hinterhof. Das schöne Wetter und das vergnügliche Spiel führten auch Seb nach alter Gewohnheit dorthin. Er freute sich überaus der geschickten Kegler unter den jungen Männern. Seb war früher in der Kolonie ein berühmter Kegler, war sogar einigemal Meister des Jahres, aber so gut abzuräumen wie sein Sohn Philipp, hatte er nicht verstanden.

Wieder einmal sollte der Kegelmeister des Jahres er­mittelt werden. Schiedsrichter sahen auf die Einhaltung der Regeln beim Spiel und zählten auch die Punkte eines jeden Teilnehmers. Wer im Verlaufe der Woche bei glei­chen Spielen die meisten Punkte erreichte, wurde Meister des Jahres. Es war der letzte Tag der Kegelwoche. Philipp Bauer und Franz Braun standen punktgleich. Keiner der anderen Teilnehmer konnte Philipp und Franz noch ge­fährlich werden.

Seb war erregt: sein Sohn War jetzt an der Reihe.

Die erste Kugel rollte und traf nur einen Kegel. Das war schlecht. Seb gab seine Hoffnung schon halb auf. Ge­wiß hatte sich der Junge aufgeregt. Wie bei jedem Spiel ist Gefaßtheit auch beim Kegeln wichtig. Wer sich nicht unter Kontrolle hat, hat verspielt.

Die nächste Kugel traf besser. Philipp hatte sich fest zusammengenommen und sein Ziel ins Auge gefaßt. Seb wurde es leichter ums Herz, seine verlorene Hoffnung kehrte wieder. Laute Jubelrufe erschallten: Philipp hatte seinen Gegner überholt! Er war Kegelmeister des Jahres! Seine Freunde umringten ihn. Darauf trugen sie ihn, in Begleitung der Teilnehmer und Zuschauer des Wettstreits, hoch auf einem Stuhle durch die Straße, zu seinem Haus, wo das Fest der Meisterweihe stattfinden sollte.

Alle waren froh und lustig. Die Männer sangen, spaß­ten und erzählten lustige Geschichten. Der Kegelmeister wurde beschenkt, ein jeder gab, was ihm gut dünkte — eine Tabakpfeife, ein Werkzeug, einen Strohhut. August Frank brachte einen bunten stolzen Hahn. Das alles er­heiterte die Gesellschaft. Bei der übergabe der Geschenke wurden lustige Worte oder Reime vorgetragen.

Seb lachte von ganzem Herzen.

„Siehst du, wieviel Freude noch auf der Welt ist, und du suchst schon einen Platz für dein Grab aus", zürnte ihm Katrin.

Seb antwortete ernst:

„Das hindert mich nicht, noch lange zu leben. Es ist nur eine Vorsorge zur rechten Zeit."

Die Festlichkeit dauerte bis in die Nacht. Der Himmel war trübe, und die Kolonie lag ganz in schwarzer Dun­kelheit. überall im Tale war es still, nur leise lispelte der Wind in den Blättern der Bäume am Ufer des Flusses.

 

Von Marget aus Pokrowsk kam ein Brief, sie klagte über die Gesundheit ihres Mannes Daniel Damke. Von Tag zu Tag, schrieb sie, ginge es ihm schlechter. Marget bat um Heilkräuter. Schafgarbe, Spitzwegerich und Blüten von Kamille und Beifuß zusammen mit Wurzeln von Blutwurz gebrüht, sollten ein heilsames Mittel geben. Seb ver­stand, daß Damke ernst erkrankt war. Er machte sich so­fort daran, die Kräuter zu sammeln, obwohl er wenig an einen Heilerfolg glaubte. Er übersandte alles nach Pokrowsk. Nach einigen Wochen kam jedoch die Nachricht, daß Damke gestorben war...

 

Der Sommer brachte den Kolonisten viel Arbeit und Mühe. Um mit allem fertig zu werden, mußte man eifrig arbeiten. Halb schlummernd fuhren die Männer auf ihren mit ähren beladenen Wagen vom Feld zur Tenne. Der Weg war weit und die Zeit knapp, und da nahmen die Koloni­sten in der Erntezeit die Nacht noch zum Tag hinzu. Nur ein, zwei Stunden Schlaf gönnten sie sich.

Kaum hatten sie das Getreide eingefahren, mußten sie mit der Herbstaussaat beginnen und auch das Gemüse und die Gartenfrüchte einbringen. Die Nächte wurden zusehends kühler. über den Karaman zogen in großer Höhe Wildgänse und Kraniche dem Süden zu. Der Hase näherte sich den Obstgärten und Tennen. Der Fuchs verkroch sich im Wald oder Graben. Raben und Elstern such­ten in Baumkronen Schutz. Auf den Feldern wurde es leer und still.

Seb schreinerte in der Werkstube. Er bearbeitete ein Brett. An einer Stelle war ein harter Knorren im Holz. Seb holte kräftig mit dem Beil aus, und ein stechender Schmerz durchzuckte ihn. Ihm wurde schwindlig. Er wartete einige Minuten vergeblich auf Besserung. Dann schleppte er sich ins Haus und legte sich aufs Bett.

Katrin brachte ihm Pfefferminztee, den er so mochte, wenn er sich schwach fühlte. Entsetzt sah Katrin zu, wie Seb langsam entschlief. Niemand, außer ihr, war in der Nähe...

Die Nachricht vom Tode des alten Vorstehers verbrei­tete sich schnell in der Kolonie. Er war einer der letzten Gründer der Kolonie gewesen. Unaufhörlich strömten die Kolonisten an Sebs Totenbett, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Vorsteher Peter Junker ließ für Seb ein Grab unter der großen Erle ausheben. Am Tage der Bestattung war in der ganzen Kolonie Trauer. Der Leichenzug zog sich von Sebs Haus bis an die Karamanhöhe. Der alte Pfarrer Johannes war trotz Altersschwäche auch ge­kommen.

Das geschah an einem Herbsttag, wo die Erde über Nacht gefroren und weiß gereift war, und am Tag die Sonne warm ins Tal schien.


I. Teil


Heimatliche Weiten. – М., 1982, № 1, S. 5-128.