Geschichte der Wolgadeutschen

DAS DEUTSCHE WOLGAGEBIET ist ein historisches Gebiet, das in Russland an der Unteren Wolga auf den Territorien der heutigen Saratower und Wolgograder Gebiete existierte. Es entstand im Resultat der Erschließung der Territorien um Saratow zu beiden Seiten der Wolgaufer von ausländischen Kolonisten aus verschiedenen deutschen Teilstaaten, sowie auch aus Österreich, Holland, Frankreich und einigen anderen europäischen Staaten, die in den Jahren 1764-73 infolge der Manifeste Katharina II.vom 4. Dezember 1762 und vom 22. Juli 1763 nach Russland ausgewandert waren. Es wurde vom Sowjetstaat künstlich im August-September 1941 entsprechend des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 „Über die Umsiedlung der Deutschen, die in den Rayons des Wolgagebiets leben“ durch die Deportation der gesamten deutschen Bevölkerung nach Sibirien und Kasachstan liquidiert.

Eine Masseneinwanderung der Deutschen in das Wolgagebiet geschah in der zweiten Hälfte des 18. Jh., als die Regierung Katherina II. begann, hier ausländische Kolonien zu gründen, und bemüht war, dadurch eine Einwanderung der Bevölkerung in das wenig besiedelte Wolgagebiet hervorzurufen, da ein natürlicher Prozess der inneren Migration durch die Leibeigenschaft der Volksmassen gehemmt wurde. Im Prozess der Erschließung der „bisher nutzlos liegenden“ Ländereien besiedelten die deutschen Kolonisten die beiden Wolgaufer stromauf- und stromabwärts von Saratow, sowie auch an den Flüssen Medwedjiza, Karamysch, Ilowlja, am Großen und Kleinen Karaman, Jeruslan, Torgun und an deren Nebenflüsschen. Als die Kolonisten (23,2 Tausend an der Zahl) im Laufe der Jahre 1764-73 an die Wolga kamen, gründeten sie 105 Kolonien. Zum Ende des 19. Jh. vermehrten sie sich laut der Volkszählung von 1897 bis auf 407,5 Tausend Mann. Zu dieser Zeit hatten die deutschen Kolonisten auf den ihnen zugewiesenen (staatlichen) Ländereien 190 Mutter- und Tochterkolonien gegründet. Außerdem gründeten sie auf angekauften und gepachteten Ländereien eine Vielzahl Chutors (Weiler) und kleinerer Dörfer, wodurch sich das Territorium des deutschen Wolgagebiets vergrößerte und eine Fläche, die der Fläche des heutigen Belgiens gleichkam – ca. 30 Tausend km² betrug.

Obwohl die deutschen Kolonisten in einer Umgebung von anderen Völkern lebten, erhielten sie sich ihre Sprache, Traditionen, Religion, ihre Formen der wirtschaftlichen Tätigkeit und des Alltagslebens, die sie aus ihren Herkunftsorten mitgebracht hatten. Früher sagte man: „Hinter Wolsk herrscht der Deutsche.“ Die deutsche Eigenart konnte hier tiefe Wurzeln schlagen, wovon die Tatsache spricht, dass sich in dem deutschen Wolgagebiet eine eigene Toponomastik gebildet hatte, die ihren Widerhall nicht nur in den Benennungen der Ortschaften gefunden hatte, sondern auch in den Benennungen der Besonderheiten des Reliefs – der Gräben, Tieflandsgebieten, Anhöhen, Feldern und Wiesen, Flüsschen, Teichen u. a. Und die bis in unsere Zeit in den Wolgasteppen erhaltenen wenigen Kirchen zeugen von den Maßstäben und der Vielseitigkeit solch einer Erscheinung wie die deutsche Architektur im Wolgagebiet.

In territorialer Hinsicht war der Formierungsprozess des Gebiets schon in der Anfangsetappe der Kolonialisierung durch die Festigung der Gründung der so genannten Kolonialbezirke gefestigt, auf deren Grundlage nach 1871 die deutschen Amtsbezirke gebildet wurden. Nach dem Machtantritt der Bolschewiki im Oktober 1917 wurde aus den ehemaligen deutschen Amtsbezirken im Jahre 1918 die Arbeitskommune (autonomes Gebiet) der Wolgadeutschen gebildet, die 1924 in die ASSRdWD umgebildet wurde. Hierbei muss man die Begriffe „Wolgadeutsches Gebiet“ und „Deutsche Republik“ unterscheiden, da diese zwei Termini verschiedenen Sinngehalt in sich tragen. Das Wolgadeutsche Gebiet ist ein natürlich entstandenes historisches Gebiet, und die Deutsche Republik - ist eine nach politischen Motiven gebildete administrativ-territoriale Einheit des Sowjetstaates. Das Territorium des deutschen Wolgagebiets hatte keine schroff hervortretenden Grenzen. Sein Formierungsprozess erfolgte noch in den 1920er Jahren, als nach der Erschließung des Neulands bald hier, bald dort neue Chutors entstanden. Doch die administrativen Grenzen der Wolgadeutschen Republik waren exakt bedingt, durch Staatsakte gefestigt und in administrativ-wirtschaftlichen Landkarten verzeichnet. Als administrativ-territoriale Einheit breitete sich die ASSRdWD in den 23 Jahren ihrer Existenz niemals ganz aus. Das historische Gebiet der Wolgadeutschen – seine ziemlich großen Territorien, blieben wie auch früher in den Gebieten Saratow und Stalingrad, z. B. die Jagodno-Poljaner „Anklave“ im Gebiet Saratow, die sogar ungeachtet der Gemengelage von Grundstücken, die kurze Zeit (1932-35) zur ASSRdWD gehörte. Gleichzeitig waren manche Territorien, die an die ASSRdWD grenzten, entweder nicht in das Territorium der ASSRdWD eingegangen, oder wurden später unbegründet aus ihr ausgeschlossen. So wurden im Jahre 1927 aus der ASSRdWD das Dorf Neufrank und das Chutor Neu-Walter ausgeschlossen, die sich unweit von den Dörfern Frank und Walter (Kanton Frank) befanden. In das Territorium der ASSRdWD gingen nicht ein die Grenzgebiete im Nordosten der Republik, obwohl hier hauptsächlich Deutsche lebten. Anfang der 1920er Jahre wurde der Versuch unternommen, auf diesem Territorium den Rayon Alexanderfeld zu gründen und ihn in das Wolgadeutsche Gebiet einzuschließen. Mehr noch, in manchen offiziellen Presseausgaben (siehe z. B.: Vorläufige Ergebnisse der Allrussischen demographisch-proffessionellen Volkszählung im Gebiet der Wolgadeutschen vom 28. August 1920. Marxstadt, 1921) wurde dieser Rayon schon als Territorium des Wolgadeutschen Gebiets bezeichnet, doch im Endresultat ging er nicht ein. Das Territorium des nicht gegründeten Rayons Alexanderfeld ging in den Rayon Jerschow Gebiet Saratow ein. So wurden auch noch viele deutsche Chutors in den Rayons Nikolajewskij, Frolowskij, Olchowskij u. a. des Gebiets Stalingrad nicht an das Territorium des Wolgadeutschen Gebiets angeschlossen.

Das historische Zentrum des deutschen Wolgagebiets war traditionell die deutsche Kolonie Katharinenstadt (heute – Marx), die einige Zeit mit Recht die Hauptstadt der deutschen Autonomie war. Doch im Jahre 1922 wurde die Hauptstadt der ASSRdWD nach Engels verlegt, was den Unterschied zwischen dem historischen Gebiet und der Autonomen Republik vergrößerte.

Mit dem Beginn des Krieges zwischen Deutschland und der Sowjetunion am 22. Juni 1941, fasste die Partei- und Staatsführung der UdSSR am 26. August 1941 den Beschluss über die Übersiedlung der Deutschen aus der Republik der Wolgadeutschen, so wie auch aus den Gebieten Saratow und Stalingrad. Die darauf folgende Deportation der deutschen Bevölkerung war der Anfang der Tragödie, die zum Untergang des deutschen Wolgagebiets als einer einzigartigen und eigenartigen Kultur führte. Es ist bis jetzt noch nicht endgültig erforscht, warum der Sowjetstaat sich weigerte, nach dem Zweiten Weltkrieg die deutsche Bevölkerung in ihre traditionellen Wohngebiete zurückkehren zu lassen. Indem man dem wolgadeutschen Gebiet die Träger der deutschen Kultur entrissen hat, kam das Gebiet in einen kläglichen Zustand: die Orts- und Flurnamen sind in Vergessenheit geraten, die kulturellen Herde sind zerstört, die für diese Gegend traditionelle Glaubenskonfessionen – das Luthertum und der Katholizismus – sind der Vergessenheit preisgegeben, die meisten kleinen Siedlungen (die Chutors) existieren nicht mehr; auch viele größere deutsche Kolonien sind verrottet oder sogar gänzlich verschwunden. Heutzutage sind nur noch wenige Zeitzeugen, die an das einst blühende deutsche Wolgagebiet erinnern – das sind hauptsächlich alte deutsche Wohnhäuser, einige Betriebsbauten und nicht mehr als zwei Dutzend Kultusgebäude. Und trotzdem bezeichnen sich in der ganzen Welt viele Deutschen als Nachkommen der Wolgadeutschen.

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Leider findet der Terminus „deutsches Wolgagebiet“, „wolgadeutsch“ auch bis jetzt noch keine gebührende Behandlung in der Fachliteratur und in der wissenschaftlich-populären Literatur, die der Geschichte der Wolgadeutschen gewidmet ist. Doch der von den Wolgadeutschen zurückgelegte historische Weg gibt uns allen Grund, diesen Terminus in Bezug der oben beschriebenen Region als historisches Gebiet zu gebrauchen.

Alexander Spack (Srednjaja Achtuba)
April 2008

Die Übersetzung von Johannes Herber.