Geschichte der Wolgadeutschen
WOLGADEUTSCHE MONATSHEFTE
Monatsschrift für Kultur und Wirtschaft der Wolgadeutschen
1925 Nr. 1

Sitten und Gebräuche in den Wolgakolonien.

Ledig.

Ledig sind auf dem Lande alle Knaben und Mädchen von dem Tage an, an welchem sie „aus der Schule sind“. Mit diesem Ausdruck bezeichnet der Bauer jedoch nicht den Tag, an dem das Kind die Schule verlässt, sondern den Konfirmationstag. Für Konfirmation sagt der Bauer noch manchmal: „Zum Nachtmahl gehn“. Nachdem die Kinder zum Abendmahl gegangen, sind sie keine Kinder mehr, sondern „Ledige“.

Wer will mir Aufschluss darüber geben, warum die Jünglinge und Jungfrauen „ledig“ genannt werden? Sollte es vielleicht soviel bedeuten, als „aller Zucht ledig sein“?



Erzogen werden ja unsere Bauernkinder nur ausnahmsweise, sie werden bloß „großgezogen“ und gezüchtigt. Im Hause besorgen das die Eltern und später in der Schule die Lehrer. Die Eltern züchtigen also ihre Kinder bis zum 7. Lebensjahr und, wenn dies nicht hilft, drohen sie mit dem Erscheinen des Pastors, oder ganz besonders des Schulmeisters: „Warte nur, wenn du mal in die Schule kommst, der Schulmeister...“. Solche und ähnliche Sprüche hat so ziemlich jedes Kind zu hören bekommen und infolgedessen den ersten Gang in die Schule mit Zittern und Bangen angetreten. Und die Schulmeister, namentlich in älterer Zeit, konnten sich auch infolge der unverhältnismäßig großen Anzahl von Schülern oftmals nur dadurch helfen, dass sie den Stock recht häufig auf den Rücken der Schüler herumspazieren ließen. Je strenger ein Schulmeister war, desto beliebter ist er gewesen. Alte Leute erzählen manchmal noch mit Hochgenuss, wie sie tüchtig Schläge bekommen hätten, und rühmen über die Maßen ihre alten Schulmeister, die im Gebrauch des Lineals oder des Stockes gewandter gewesen sind, als im Umgang mit weichen, bildungsfähigen Kinderseelen. Und wenn ein Vater es recht gut meint mit seinen Kindern, so unterlässt er es heutzutage, trotz des Verbotes der Körperstrafe, immer noch nicht, den Lehrern ans Herz zu legen, nur ja sein Kind tüchtig in Zucht zu nehmen und nicht darauf zu achten, dass er „der und der“ sei.

Unter solchen Umständen ist es nicht zu verwundern, dass das „aus der Schule kommen“, manchmal so viel bedeutet, wie „aus dem Zuchthaus kommen“. Und das Wort „ledig“ so zu ergänzen sein wird, wie oben geschehen, nämlich „aller Zucht ledig sein“. Denn so ist es tatsächlich. Sobald ein Kind die Schule verlassen hat, hört alle Zucht für dasselbe auf, es ist ganz und gar selbstständig und selbstverantwortlich und trachtete danach, sobald als möglich und soweit als möglich, sich von den Schulkindern zu unterscheiden. Zu dem Zweck wird alles, was in der Schule getrieben wurde, leider auch das Lesen, verhöhnt, was an die Schule erinnert, wird abgetan, denn, was in die Schule und für die Schulkinder „sich gehört“, das „schickt sich nicht“ mehr für den nun erwachsenen Jüngling und die „großgezogene“ Jungfrau. Der „Borsch“ nimmt die Manieren, Anschauungen und Redeweisen des Vaters an, während das Mädchen dem Vorbilde der Mutter folgt. Alle Hoffnungen, welche vielleicht der Lehrer auf den oder jenen begabten Jungen gesetzt hatte, sind dahin, denn „wie die Alten sungen, so zwitschern auch die Jungen“. Daraus erklärt sich jenes Sichgleichbleiben der Bauern von Generation zu Generation, welches wir in den Kolonien beobachten. Außerdem gibt es in anderen Dörfern solche Leute, welche noch nicht einmal im Nachbarsdorfe gewesen sind – von einer Stadt, wie Saratow oder Kamyschin ganz zu schweigen – die also gar keinen Anstoß zur Veränderung ihrer Lebensweisen empfangen. Freilich gibt es schon in letzter Zeit viele, die sich auch längere Zeit in Städten aufgehalten und wieder im Dorfe niedergelassen haben, z. B. die Reservisten. Aber mit derselben Geschwindigkeit, wie das entlassene Schulkind alles ablegt, was mit der Schule zusammenhängt, streift auch der in sein Heimatsdorf zurückgekehrte Soldat allen Schliff ab, den er auswärts angenommen hatte, und sein Heimatsdorf bildet von nun an ein für alle mal seine ganze Welt, ebenso wie bei denen, die nie aus dem Dorfe herausgekommen waren.

Wie gestaltet sich aber das Leben der jungen Leute in dieser ihrer Welt?

Die ungefähr gleichaltrigen Mädchen haben ihre meist schon in der Schule gegründete und höchstens aus einem halben Dutzend Freundinnen bestehende Kameradschaft oder Gesellschaft. Während der harten Arbeitszeit kommen die Mädchen selten zusammen, nur vielleicht am Sonntagsnachmittag und abends; dagegen im Winter, in der in manchen Gemeinden vollständig beschäftigungslosen Zeit, treffen sie sich fast an allen Abenden, jedes Mal bei einer anderen der Reihe nach. Daher heißt auch diese Einrichtung: „ Reihehalten“ oder „Ledige Reihe“.

Zu solch einer Gesellschaft eben konfirmierter Mädchen gehören auch oft schon Burschen, welche jedoch noch keine ernstlichen Absichten zu haben brauchen. Das geht so einige Jahre hindurch. Allmählich aber scheiden die Jungen, welche keine ernstliche Absichten bekunden, aus und es kommen nur solche Burschen, die mit dem einen oder anderen Mädchen „gehen“ oder „laufen“, weil sie es gern haben und daran denken und auch denken lassen, dass sie es heiraten werden. Wird es Ernst, das heißt, haben sich zwei gefunden und miteinander ausgemacht, dass sie sich „nehmen“ werden, so zieht sich das Mädchen meist von ihrer Kameradschaft zurück, um sich einzig und allein mit ihrem „Borsch“ oder „Schatz“ abzugeben, während der letztere von nun an nur noch mit seinem „Mensch“ oder „Blech“ geht oder „läuft“. (Das Mensch und das Blech sind die lieblichen Bezeichnungen der Braut.)

Solche Kameradschaften haben meines Wissens die Jünglinge von vornherein nicht, sondern sie suchen für´s erste die Gesellschaft der Mädchen auf und bilden dann erst einen Kreis, der zusammenhält. Die Burschenkameradschaften beschäftigen sich gewöhnlich am Tage mit Ball-, Geld – oder anderen Spielen, am Abend ziehen sie singend durch die Strassen, horchen an der Fenstern, necken vorübergehende Mädchen, erschrecken und verfolgen sie, in der Nacht plündern sie die Obstgärten und treiben allerlei Schabernack. Bei ihren Mädchen führen sie gewöhnlich gleichgültige und scherzhafte Gespräche. Spielen wohl auch unter sich Karten aus lauter Langeweile, während die Mädchen singen, arbeiten oder nicken. Von Zeit zu Zeit freilich holen die Buben berauschende Getränke, betrinken sich selbst und zwingen wohl manchmal auch ein Mädchen dazu und dann geht es nicht schön her... Von Verheirateten ist bei der „Ledigen Reihe“ niemand dabei, auch Vater und Mutter ziehen sich gewöhnlich zurück. Sie rechnen mit voller Gewissheit darauf, dass ihre Kinder nicht weiter gehen werden, als es ihnen der Verstand erlaubt, dass sie nichts Unkluges tun werden.

An dieser „Ledigen Reihe“ beteiligen sich also auch ganz junge Knaben und Mädchen, „laufen“ nicht selten jahrelang miteinander, sehen sich als für einander bestimmt an und begleiten sich wohl auch auf dem Heimweg, damit sind aber die beiden noch lange nicht verlobt, es hat auch noch keines das andere nach seiner Einwilligung gefragt, und gar manchmal gehen die zwei wieder auseinander. Das gibt dann natürlich immer Veranlassung zu einem Dorfklatsch, wird namentlich im „Backhaus“ unter den Weibern viel besprochen und ausgelegt, aber für ein Unrecht wird es im allgemeinem nicht angesehen, und nur einzeln bricht einmal ein Herz darüber, so dass der Bursche oder das Mädchen ledig bleibt. Ich fragte einmal einen älteren unverheirateten Mann, warum er nicht geheiratet habe und erhielt die Antwort: „ die wo ich wollt, kroag ich nett, und a andre wollt ich nett“.

Aber das muss zur Ehre unseres Bauernstandes gesagt werden, dass ein „Sitzenlassen“ eines verführten Mädchens bis jetzt im allgemeinen noch als eine Schlechtigkeit gebrandmarkt, das „Nehmenmüssen“ dagegen als Gewissens- und Ehrensache angesehen wird. Ebenso versteht es sich von selbst, dass die Eltern eines solchen Mädchens, wenn sie auch unter anderen Umständen nie ihre Einwilligung zu einer unpraktischen Ehe gegeben hätten, ohne weiteres die Erlaubnis zur Verheiratung ihrer Tochter geben. (In Fällen, wo die Eltern – insbesondere des Mädchens - die Einwilligung zur Heirat hartnäckig verweigerten, sahen sich die jungen Leute manchmal genötigt, auf diese Weise das Einverständnis zu erzwingen. Jedoch liefen sie dabei oft Gefahr, dass der Braut die Mitgift entzogen wurde. Die Schriftleitung.)

Wie äußert sich nun sichtbar die Liebe der jungen Leute zueinander? – Man wird da herzlich wenig bemerken, denn die bäuerlichen Braut- und Eheleute pflegen selbst die vorhandene gegenseitige Liebe nicht zu verraten. Das erklärt sich daraus, dass der Landmann unter Liebe entweder etwas Göttliches, sehr Hohes und Erhabenes versteht, z.B. die christliche Freundlichkeit, Barmherzigkeit, Wohltätigkeit und Selbsthingabe oder aber etwas in seinen Augen eigentlich Ungeziemendes, Albernes, die Gefühlsduselei und Liebelei. Weil nun der Bauer das erste von seinem bräutlichen oder ehelichen Verhältnis nicht behaupten kann, und das zweite nicht gelten lassen will, so stoßen wir auf die merkwürdige Tatsache, dass kein Bräutigam und noch weniger eine Braut zugeben werden, das der andere Teil ihm gefalle, oder dass er ihn sogar liebe. Nach dem Grund der Wahl gefragt, wird der Bräutigam gewöhnlich antworten: „ Es steht ja geschrieben, es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“, oder „die Mutter ist nicht mehr viel wert“, d.h. sie kann in der Wirtschaft nicht mehr viel leisten und das Haus muss doch in Ordnung gehalten werden. Die Braut dagegen meint: „Immer kann man ja so nicht bleiben“, oder „das ist ja so der Lebenslauf“ oder auch „eine muss ihn ja doch nehmen“ usw. Nur auf kräftiges Drängen wird manchmal verschämt eingeräumt, dass man sich ganz gut leiden könne und wohl zueinander passe.

Das auch ritterlicher Sinn im Burschen vorhanden ist, beweist die Sitte des Maibaumpflanzens. „Übers Jahr zur Zeit der Pfingsten pflanz ich Maien dir vor´s Haus“ – so heißt es in einem Burschenlied. Ein ordentlicher Dorfkavalier hält es für seine Ehrenpflicht, dem liebgewonnenen Mädchen auf die Pfingsttage einen Maibaum vors Haus zu stellen, um ihm eine Freude zu bereiten. Der Maibaum besteht gewöhnlich aus einem auf einer langen Stange oben befestigten Birkenast, der mit allerlei roten und weißen Fähnchen, Taschentüchern und Sächelchen verziert ist, welches die Braut als Pfingstgabe ihres Burschen behält und aufbewahrt.

Wehe aber einem Mädchen, das einem Jungen einen Korb gegeben oder ihn sonst wie beleidigt hat. Solch ein Mädchen bekommt gewiss einen „Butzemann“, d. h. einen Strohwisch, eine Vogelscheuche aufs Dach. Während man aber die Maibäume die Pfingstfeiertage hindurch vor dem Hause prangen sieht, bekommt man einen „Butzemann“ fast gar nicht zu Gesicht. Läuft nämlich das Mädchen schon mit einem andern Burschen, so ist derselbe in der verhängnisvollen Nacht an Ort und Stelle auf der Wacht. Da kommt es dann natürlich zu einer regelrechten Rauferei, die auch sonst die Würze des Dorflebens unserer männlichen ledigen Jugend ist. Hat das Mädchen noch nicht mit einem andern Burschen „angebunden“ , so sorgen die Brüder oder sonstige Verwandte und Freunde desselben unter viel heimlichem und lautem Fluchen und Schimpfen dafür, dass der „Butzemann“ morgens rechtzeitig entfernt und die Schmach der Jungfrau nicht ruchbar wird.

Die Sitte des Maibaumsetzens verschwindet leider allmählich, weil die Burschen sich ein Vergnügen daraus machen, die einem Mädchen gepflanzten Maibäume zu entwenden. Das führt natürlich wieder zu Schlägereien und anderen Unannehmlichkeiten. Aus diesem Grunde werden die Maibäume tief eingegraben und hie und da an Ketten gelegt, was vielen die Sache zu umständlich erscheinen lässt. Außerdem ist das Einschreiten der Dorfpolizei bei mancher Ruhestörung zwar selten, aber doch manchmal zu erwarten, was den jungen Leuten schon gar nicht in den Kram passt. Nimmt man noch hinzu, dass es bei der Rauferei zu Zeiten auch blutige Köpfe gibt, und dass durch den Lärm vor dem Hause der Liebsten, welcher durch das Hundebellen, das sich schließlich über das ganze Dorf verbreitet, noch erhöht wird, der Maibaum keine Überraschung mehr für den „Schatz“ bildet, so versteht man es, dass von Jahr zu Jahr immer weniger Maibäume zu sehen sind. Schade ist es aber dennoch: sind doch die Maibäume ein Zeichen von vorhandener Zärtlichkeit und ritterlichem Schwung. Man könnte ja sonst zu der Meinung gedrängt werden, dass beim Bauern einzig und allein praktische, wirtschaftliche Interessen den Ausschlag geben bei der Wahl einer Lebensgefährten.

Freilich kommt die Schönheit nur in Ausnahmefällen in Betracht. Zwar wirft sich der Bauer in die Brust, wenn seine hübsche Tochter viele Freier hat und verbreitet es auch selbstgefällig: „Mein Mädchen hats G´riß“ , d. h. man reißt sich um ein Mädchen. Aber der Stolz und Selbstgefälligkeit vergehen gar bald, denn gewöhnlich gibt man der hübscheren Person nur unter sonst gleichen Verhältnissen der Vorzug. Ein bisschen mehr an Besitz und Ansehen fällt gewichtig in die Wagschale gegen die Schönheit.

Gewöhnlich finden sich junge Leute eines Dorfes zusammen. Doch kommt es auch öfter vor, das man im eigenen Dorfe kein passende Gelegenheit findet oder selbst keine bildet, dann „schickt sich´s eben nicht“ und man sucht auf andern Dörfern. Gute Leute gibt´s ja überall, welche einem eine „verraten“, man wird durch freundliche Vermittler schnell bekannt, besucht sich gegenseitig und wenn man sich gefällt und auch die Wirtschaft der Heiratskandidaten nicht schlecht ist, „dann wird´s etwas“. Den Besuch der Braut im Dorfe und Hause des zukünftigen Bräutigams nennt man „Brautschau“. Nicht weil der Bräutigam die Braut bei dieser Gelegenheit näher kennen zu lernen versucht, sondern weil die zukünftige Frau das Haus, die Küche, die Ställe, den Viehstand und dgl. genau in Augenschein nimmt, um sich eine kleine Vorstellung, wenigstens im Äußeren, von ihrer zukünftigen Lage zu machen.

An das Alter des oder der zu Erwählenden stellt der Landmann ähnliche Anforderungen wie der Städter. Als Norm gilt die Gleichaltrigkeit der Ehegatten. Der Bursch heiratet gewöhnlich das Mädchen aus seinem „Jahrgang“. Aber je ärmer unsere Kolonisten werden, desto mehr tritt auch hierin eine Veränderung ein. Je mehr Arbeitskräfte der Bauer hat, desto besser sind seine Aussichten auf einen grünen Zweig zu kommen. Für Lohn kann er sich aber gewöhnlich keine Arbeiter und Arbeiterinnen halten; darum trachtet er einerseits seinen Sohn so schnell wie möglich zu verheiraten, weil frische Arbeitskraft der Wirtschaft zuführt. Deshalb stehen jetzt die meisten jungen Heiratskandidaten im Alter von 18 – 20 Jahren, während die angehenden Frauen ein Alter von 22 – 27 Jahren bereits erreicht haben.

Sind die Burschen über das genannte Alter hinaus, so werden sie manchmal scheu und wählerisch, werden von den Jüngeren als alte Kerle gehänselt und laufen Gefahr, ledig zu bleiben, wenn sie nicht noch zuguterletzt in den Hafen der Ehe durch Verheiratung mit einer jungen Witwe einlaufen. In diese Lage kommen öfter aus dem Dienst zurückgekehrte Soldaten, wenn sie sich nicht vor dem Militärdienst eine Braut gesichert hatten. Ihr „Jargang“ ist dann gewöhnlich längst unter der Haube und die Jüngeren wollen einen so „alten Kerl“ nicht, und so bleibt ihm nur der eben angeführte Ausweg übrig.

Sollte ein 18 jähriger Junge noch keinen Schatz haben zur Zeit, wo seine Eltern plötzlich eine Magd nötig haben, so sorgen die letzteren öfter sehr liebevoll für eine solche, indem sie dem Sohn eröffnen: „ Die und die sollst du heiraten“, was manchmal nicht gut endet; aber gewöhnlich lassen sich die Burschen durch die Eltern und andere Verwandte „verplaudern“ und geben nach. Haben sie doch keine Ahnung von dem Ernst des Schrittes, den sie tun.

Ist nun die Angelegenheit soweit gediehen und in Ordnung gebracht, so geht es an die Verlobung.....

Edelmund Sammler

Wolgadeutsche Monatshefte, 1925, Nr. 1, S. 6-11.