Geschichte der Wolgadeutschen
Приложение к статье: Шлейнинг Иоганнес

Gedanken und Eindrücke

Die Saratower Kongreßtage vom 25. bis 27. April 1917 wird kein Teilnehmer ver­gessen. Sie bedeuten eine Bereicherung und Erweiterung seines persönlichen Le­bens. Er wird lange aus den Eindrücken, die er in diesen Tagen empfangen, Kraft und Mut zur Arbeit an seinem Volke schöpfen. Er wird denen, die ihn als ihren Vertrau­ensmann nach Saratow schickten, aus einem reichen Schatz von Eindrücken und Anregungen immer wieder Altes und Neues erzählen müssen. Ich sehe sie im Geiste vor mir — alle diese großen Gemeindeversammlungen in den deutschen Kolonien auf Berg- und Wiesenseite der Wolga, wie diese wetterharten deutschen Bauern den Erzählungen und Darstellungen ihres Deputierten lauschen, wie sie ihn mit Fragen umdrängen, und wie sie sich freuen, daß ihnen so gute Resultate vorgelegt werden. Und ich sehe weiter, wie sich noch tage- und wochenlang nach dieser ersten Gemein­deversammlung überall, wo der Deputierte erscheint, sei es im „Ober- oder Unterdorfe", sofort eine Gruppe von Männern und Frauen um ihn schart, die ihn mit Fra­gen bestürmen und sich immer noch einmal Einzelheiten dieser Tage erzählen las­sen. Und er tut es gern. Er freut sich, belehren, raten, mitteilen zu können. So wird die Frucht der Kongreßarbeit hinausgetragen zu Hunderttausenden deutscher Män­ner und Frauen und wird zu weiterer Tätigkeit im Sinne und Geiste jener Arbeit anregen. Aber der Kongreß bedeutet mehr als eine Bereicherung des persönlichen Lebens der Teilnehmer und der durch sie vertretenen Gemeinden.

Der Kongreß bedeutet einen Wendepunkt in der ganzen Geschichte unserer Kolonien. Die ganze Geschichte der Vergangenheit ist eine Geschichte systematischen Betrugs und rücksichtslosester Bevormundung. Dies System führt dazu, daß der deutsche Kolonist fast jedes Interesse am Gemein­wesen verliert. Er lernt dulden und verzichten. Er beschränkt sein ganzes Tun und Trachten auf seinen Acker, da laßt man ihn wenigstens noch gewähren. Sein Ge­meinde- und Schulwesen verfällt. Überall tritt ja seinen Wünschen und Bedürfnis­sen der rücksichtslose Regierungsbeamte entgegen und macht ihm einen Strich durch seine Rechnung. Da verliert er allen Mut und wird mißtrauisch gegen jedes neue Unternehmen.

Als der Krieg ausbrach, kam zur Bevormundung die gewissen­loseste Verfolgung, Verleumdung und Verhetzung. Ja von Haus und Hof sollte er auf die Landstraße hinausgetrieben werden, wie seine wolhynischen Brüder im Westen. Das war die Geburtsstunde einer neuen Zeit. Jetzt erst fühlt er die ganze Tragik, das Furchtbare seiner bisherigen Lage ... Und als die Revolution kam und ihn von dem furchtbaren „Gesetz", das je Tyrannenmacht ersinnen konnte, befreite, da war er sich klar darüber, daß er nun in den alten Schlaf nicht mehr zurücksinken dürfe. Nun gilt's, entweder der vollberechtigte Bürger eines Rechtsstaats zu werden — oder freiwillig zum Wanderstab zu greifen, um sich eine neue Heimat zu suchen. Ein Mittelding, jenes Zerrbild eines Staatsbürgers der Vergangenheit darf es nicht mehr geben ...

Der Kongreß zeigt nun zum ersten Mal in überwältigender Anschaulichkeit, daß der deutsche Kolonist gewillt ist, für seine wirklichen Bürgerrechte alles anzusetzen, jeden Kampf zu tragen und jedes Opfer zu bringen. Gern wollen wir die uns liebge­wordene Scholle weiter bearbeiten, gern wollen wir unserem russischen Heimatlande mit unseren besten Kräften dienen, wie wir das bis heute getan, aber — wir wollen nicht mehr als Stiefkinder angesehen werden, wir wollen frei und stolz neben jede andere Nation treten können mit unserer eigenen Kultur, unsrer eigenen Organisation — das war die Grundstimmung der Ver­sammlung, und in dieser Richtung liegt ihre ganze Arbeit. Und darin liegt das Neue, liegt der Wendepunkt unsrer Geschichte.

Der deutsche Kolonist von heute ist ein anderer als der vor dem Kriege, er ist ein stärkerer, ein mutigerer, er ist ein wollender und opferbereiter.

Von der ersten bis zur letzten Sitzung kam das immer und immer wieder zum Aus­druck. Schon rein äußerlich machte der Kongreß einen wirkungsvollen Eindruck. Wunderbar die Lage des Lokals, das das Saratower Komitee in guter Voraussicht gewählt hatte — die Bühnenhalle des „Priwolshski Woksal" am Wolgaufer. Ein ge­waltiges und immer wieder fesselndes Bild bietet von den Anlagen aus die Wolga, deren reiche Frühlingswasser alle Inseln bedecken und weit über das östliche Ufer hinaustretend, sich einem Meere gleich vor dem Beschauer ausdehnen. Dazu kam das herrliche Frühlingswetter, das für die Sitzungen in einem halboffenen Lokal so nötig war. Auch das trug zur Erhöhung der Stimmung bei. Der große Saal war bre­chend voll Deputierter — 359 Mann, die Vertreter von allen Koloniekreisen, einer Bevölkerungszahl von etwa 800.000 Menschen. Unter den gewählten Vertretern waren protestantische und katholische Geistliche, Lehrer, Schreiber, Kreisschreiber, Vor­steher (Schulzen) und Obervorsteher, Bauern, Großgrundbesitzer und Kaufleute. Die Seitenlogen waren gefüllt mit etwa 400 Gästen, die auch nur gegen Eintrittskarten hereingelassen wurden. Überall ein Bild strengster Ordnung. Nach der Wahl des Vorstandes, in den die Vertrauensmänner der Versammlung mit Herrn Friedrich Schmidt an der Spitze gewählt wurden, wurde die Versammlung durch den Herrn Gouvernementskommissar, den Vertreter der Regierung, mit herzlichen Worten er­öffnet. Diese Eröffnung gehört mit zu den Höhepunkten des Kongresses. War es nicht wie ein Traum? Vor zwei Monaten sollten wir von Haus und Hof vertrieben werden, wurden wir gehaßt, von Mißtrauen verfolgt, beschmäht, und die Regierung war uns nichts anders als der Henker, der nur auf den geeigneten Augenblick wartete, um unserem Leben ein Ende zu machen.

Und heute? Es ist eine neue Zeit, unsre Henker sitzen selbst im Gefängnis. Vor uns steht der Vertreter der neuen Regierung, ein Mann des Volks. Er ist ein bejahrter, intelligenter Mann — Rechtsanwalt Tokarski. Was er spricht, scheint aus tiefer Seele zu kommen. Er ist selbst tief bewegt, als er daran erinnert, daß all diese ehrlichen, aufrechten Männer, die vor ihm sitzen, vor kurzem noch dem Unter­gange geweiht waren. Darum wird seine Aufforderung, Hand in Hand mit der neu­en Regierung für eine neue Rechtsordnung, für wirkliche Freiheit zu kämpfen, mit so jubelndem Beifall begrüßt. Sie erheben sich von ihren Sitzen und bedecken die Worte des Redners mit stürmischem Applaus. Das war keine Rache. Das kam nicht auf Befehl. Das war innerste Herzensfreude und tiefstes Gemütsbedürfnis. In man­chem Auge glänzte eine Träne ...

Der Präsident, Herr F. Schmidt, hält nun in deutscher Sprache seine tiefdurchdachte Begrüßungsrede. Er spricht von dem, was jedem Deutschen jetzt das Herz bewegt. Er erinnert an die bitterschwere Vergangenheit. In markanten Worten charakterisiert er die wichtigsten Momente dieser Verfolgungswut. Auch manchen Mann aus unse­rer Mitte hat diese unsinnige Wut getroffen, und mancher leidet noch heute. Kurz wird die Umwälzung durch die Revolutionstage geschildert, um bei den riesigen Aufgaben der Gegenwart stehnzubleiben. Dann wird der Versammlung ein Arbeits­programm für die nächsten Tage vorgelegt. Um Zeit und Kraft nicht unnütz zu ver­zetteln, sollen die einzelnen großen Fragen, zu denen wir Stellung nehmen müssen, in Sektionen beraten und durchgearbeitet werden. Es werden daher vier Sektionen gebildet: eine politische Sektion und je eine Schul-, Zeitungs- und Organisationssektion. Jedem Kongreßteilnehmer stand frei, sich an der Sektion zu beteiligen, die ihn am meisten interessierte. Das katholische geistliche Seminar stellt dem Kongreß in liebenswürdiger Weise seine Räume für die Sektionssitzungen zur Verfügung. Dort entfaltet sich nun vom Abend des 25-ten an ein buntes, reges, impulsives Leben. Alle Sektionen arbeiten unter regster Beteiligung. Alle suchen im heißen Bemühen das Beste für ihre Brüder. Aber am lebhaftesten geht es begreiflicherweise doch in der politischen Sektion zu. Hier ist auch die größte Beteiligung. Die Aula des Semi­nars ist immer überfüllt. Hier schlagen die Pulse der Gegenwart am stärksten. Hier wird heftig debattiert, hier gibt's heiße Auseinandersetzungen. Hier wird wohl auch manchmal von einem jugendlichen Heißsporn eine so radikale Anschauung laut, daß die Versammlung ihre Mißbilligung nicht unterdrücken kann. Aber auch hier kommt's schließlich, wie in den ändern Sektionen, zu großen, klaren Richtlinien. Und als es am 27-ten endlich zur Generalversammlung und Schlußsitzung kam, konnte jede Sektion ein durchdachtes und planmäßig durchgearbeitetes Programm vorlegen, das in allen wesentlichen Punkten einstimmig angenommen wurde. So ist in den meisten Fragen nicht nur Einigkeit, sondern sogar Einheit erzielt worden. Es ist eine selbständige deutsche republikanische Partei gebildet worden, die sich vielleicht am besten zwischen die Kadetten und Sozialdemokraten einstellen läßt. Sie denkt in vielen Punkten sozialdemokratisch, tritt aber ein für die Unantastbarkeit des Privateigentums und alles wohlerworbenen Grundbesitzes. In den nationalen Fragen wird sie Hand in Hand gehen mit allen Nationen, die für ihr Selbstbestimmungsrecht und die freie Entwicklung ihrer Ei­genart eintreten. Ein großes Programm legte die Schulsektion vor. Sehr anregend hatten dort die großangelegten Vorträge von Pastor J. Erbes und Lehrer AI. Wulf gewirkt, die später veröffentlicht werden sollen. Der Grundton aller Thesen war auch hier wie in Moskau: Wir wollen deutsche Schulen haben, in denen unsre Kin­der neben der Landessprache die Muttersprache gründlich erlernen — daher die Notwendigkeit der Gründung eines ganzen Netzes deutscher Volks- und Mittel­schulen, die durch eine Hochschule abgeschlossen werden. Wir brauchen dazu vor allem tüchtige deutsche Lehrer, die selbst ihre Muttersprache vollkommen beherr­schen — daher muß unverzüglich an die Gründung von Lehrer- und Lehrerinnen­seminaren geschritten werden. Gewaltige Aufgaben werden uns hier gestellt. Schwe­re Arbeit wird verlangt. Aber es ist eine Arbeit, die der Mühe und des Schweißes der Besten unsres Volkes wert ist. Am brennendsten trat das Verlangen nach einer deutschen Zeitung zutage. Keine Mühe soll zu ihrer sofortigen Gründung gescheut werden, kein Geld gespart. Viele Kolonien haben schon größere, freiwillige Sum­men zu diesem Zweck gestiftet, Hunderte, Tausende von Rubeln. Durch eine Be­steuerung alles Kolonistenlandes soll ein Grundkapital für die Zeitung geschaffen werden, das ihr ungestörtes Erscheinen garantiert.

Zur praktischen Durchführung aller brennenden, von dem Kongreß erörterten Fra­gen ist eine straffe Organisation in die Wege geleitet worden. Alle gemeinsamen Angelegenheiten sollen durch ein Zentral-Komitee, mit dem Sitz in Saratow, gere­gelt werden. Dies Komitee besteht aus zwölf Herren, die ständig in Saratow wohnen, und aus je einem Vertreter eines Koloniekreises und aller Städte der Mittleren und Niederen Wolga.

Wie schon diese flüchtigen Andeutungen zeigen, handelte es sich auf dem Kongreß nicht um fromme Wünsche und schöne Träume, deren Erfüllung in nebelhafte Ferne gerückt werden soll. Nein, es sind reale Forderungen, deren Verwirklichung sofort in die Wege geleitet wird.

Und das ist die große Umwandlung, die sich unsrem deutschen Kolonisten vollzogen hat, eine Umwandlung, die man vor Jahresfrist noch nicht hätte ahnen können. Er knausert nicht mehr mit seinem Geld, wo es eine große gemeinsame Sache gilt — er gibt mit vollen Händen. Als die Zeitungssektion ihr Projekt der Landbesteuerung vorlegte, da wurde nur gefragt: ob die von der Sektion verlangte Summe nicht zu niedrig sei! Man hätte gern auch das Doppelte bewilligt! Wo mit einer solchen Gesinnung und einer solchen Bereitwilligkeit ans Werk gegangen wird, da kann viel, da kann alles geleistet werden ...

Ich darf hier schließen mit einem Satz, den ich in einem Schlußwort auf dem Kon­greß aussprach: Wenn wir uns die vollzogene Wandlung recht ansehn, können wir der alten Regierung nur von Herzen dankbar sein für ihre Behandlung. Nichts in der Welt hätte uns so einen, so aufrütteln, so von Grund aus umwandeln können als die Ungerechtigkeit, als die Verfolgung und die Schmach, die uns die Regierung angetan hat. Allerdings: sie hatte anders gerechnet. Aber was sie gedachte „böse zu machen", das hat ein anderer „gedacht gut zu machen". Und Er hat's gut gemacht. Frohen Herzens gehn wir von diesem Kongreß an unsre Arbeit. Was auch Trübes und Schweres kommen möge, wie hart das Ringen auch noch sein mag, mit dem wir unser Recht zu verteidigen haben werden — wir besitzen nun ein kostbares Gut, das uns nichts entreißen soll: Wir haben uns selbst wiedergefunden, und haben uns zusammengeschlossen zu einem Volk von Brüdern. Die tapferen Worte, die Schiller dem einst so hart bedrängten Schweizervolk in den Mund legt, dürfen wir uns von nun an zur Losung machen:

Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern,
Vor keiner Not uns fürchten und Gefahr.

Johannes Schleuning

EFGASO, f. R-1348, op. 2, d. 56, l. 54-55 (Sechstes Flugblatt für die Wolgakolonien vom 6. Mai 1917, S. 1-3).


Публикуется по:
Victor Herdt (Hrsg.): Zwischen Revolution und Autonomie. Dokumente zur Geschichte der Wolgadeutschen aus den Jahren 1917 und 1918. Köln 2000, S. 121-125.