Geschichte der Wolgadeutschen

LEXIKON

ZUR GESCHICHTE UND KULTUR DER RUSSLANDDEUTSCHEN


Lexikon der Rußlanddeutschen. Teil I: Zur Geschichte und Kultur. / Autoren: Christian Böttger, Idmar Biereigel, Günter Dittrich, Wolfgang Förster, Achim Hilzheimer. – Berlin: Bildungsverein für Volkskunde in Deutschland DIE LINDE e. V., 2000. – 399 S.


Vorwort

Einst waren sie Bayern, Hessen, Pfälzer oder Rheinländer. Im 18. Jahrhundert wander­ten sie nach Rußland aus. Doch aus ihrer eigentlichen Wahlheimat an der Wolga und im Gebiet am Schwarzen Meer wurden sie 1941 nach Kasachstan, Sibirien und Mittel­asien vertrieben. Ein Gemeinschaftsleben, wie vordem in relativ kompakten Siedlungs­räumen, sowie die Pflege der deutschen Sprache und Kultur waren nun kaum noch möglich. Heute nennt man diese Menschen und ihre Nachfahren, die in Staaten der ehemaligen Sowjetunion geboren wurden, "Rußlanddeutsche".

Der Nutzer dieses Lexikons, in dem viele wissenswerte Details aus Geschichte und Kultur der Rußlanddeutschen dargestellt sind, wird sich gewiß im Klaren darüber sein, daß hinter diesen Sachinformationen Millionen von Menschenschicksalen stehen. Aber auch mit diesem ersten derartigen Nachschlagewerk, gedacht für einen möglichst brei­ten Kreis interessierter Leser und Nutzer in Deutschland, ist das Mosaik der Lebens­welten der Rußlanddeutschen noch keineswegs vollständig zusammengesetzt.

Der Bildungsverein für Volkskunde in Deutschland DIE LINDE e. V., der sich das Ziel gesetzt hat, gerade in einer Zeit der schwindenden Raumbezüge und der Globali­sierung bei Jung und Alt das Wissen über die vielfältigen Kultur- und Lebensformen zu fördern, hat sich entschlossen, bisherige Ergebnisse einer intensiven Projektarbeit zur Geschichte und Kultur der Rußlanddeutschen in dieser Form aufzubereiten und zu pu­blizieren. Etwa 1,7 Millionen Menschen deutscher Herkunft, die seit 1990 als Spätaus­siedler aus Rußland und anderen Teilen der ehemaligen Sowjetunion in die Bundesre­publik Deutschland kamen, sind dafür Grund genug.

Die Integration der Rußlanddeutschen in die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland ist eine große Aufgabe. Unkenntnis vieler historischer und kultureller Zu­sammenhänge, mangelnde Akzeptanz und Stigmatisierung auf der einen Seite, wieder­holte kulturelle Entwurzelung, weitgehender Identitätsverlust und vielfältige Probleme in der neuen Lebenswelt auf der anderen Seite, erschweren die Lösung dieser Aufgabe beträchtlich.

Das Lexikon soll allen, die helfen wollen, Ausgrenzung und Selbstisolation zu über­winden, Türen zu öffnen, Brücken des Kennenlernens und gegenseitigen Verständnis­ses zu bauen, Informationsquelle und Impulsgeber sein. Mit weiteren Projekten und Publikationen wird unser Bildungsverein diese wichtigen Anliegen auch künftig unter­stützen.

Berlin, Juli 2000

Prof. Dr. Winfried Morgenstern
Vorsitzender
des Bildungsvereins für Volkskunde
in Deutschland DIE LINDE e. V.


Einführung

Das vorliegende Lexikon ist ein erster Versuch, einer interessierten Öffentlichkeit ein umfassendes Nachschlagewerk zur Geschichte und Kultur der Deutschen aus Rußland vorzustellen. Es verdankt seine Entstehung dem Projekt „Geschichte der deutschen Aus­wanderungen", das zwischen 1998 und 2000 von unserem Bildungsverein für Volkskun­de wissenschaftlich betreut und mit Hilfe des Arbeitsförderungsgesetzes finanziell reali­siert wurde. Der relativ kurze Zeitraum, in dem dieses Werk entstand, mag sicherlich eine wesentliche Ursache dafür sein, daß es keinesfalls einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann. Den Experten, der etwas für ihn Wesentliches vermißt, bitten wir deshalb um Verständnis. Wir haben uns redlich bemüht, die wichtigsten Informationen zu diesem Wissensgebiet in die vorliegende Publikation einfließen zu lassen, doch der Aufwand mußte in einem dem vorgegebenen zeitlichen Rahmen angepaßten Verhältnis gehalten werden.

Mit seinen 973 Stichworten und 820 Erläuterungen liefert das Lexikon wesentliche Informationen zur Geschichte und Kultur der Deutschen aus Rußland unter den jeweils verschiedenen, sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen bis hinein in die Gegenwart. Dabei wurde streng darauf geachtet, daß - gemäß dem Anliegen unseres Vereins - die volkskundlich relevante Seite, die Volkskultur und Lebensweise der Ruß­landdeutschen, so weit wie möglich Berücksichtigung findet.

Die jetzt hier vorliegende Publikation erweist sich als hilfreich für all jene, die sich als Laien oder auch als Fachleute mit den Angehörigen dieser Volksgruppe beschäfti­gen oder die in den Amtsstuben und Schulen mit ihnen in Kontakt kommen. Wunsch der Autoren und Mitarbeiter des Lexikons ist es, damit einen Beitrag zu leisten, um die Akzeptanz dieser jetzt verstärkt zu uns kommenden Menschen bei der einheimischen Bevölkerung zu fördern und gleichzeitig ihr Selbstwertgefühl, das durch die stalinisti­sche Nationalitätenpolitik und die Ereignisse während des Zweiten Weltkrieges schwer gelitten hat, zu stärken. Sofern der Benutzer dieser Publikation selbst ein Rußlanddeut­scher ist, wird ihn das Studium des Lexikons vielleicht ein wenig mit Stolz erfüllen und ihn ermutigen, sich offen zu seiner rußlanddeutschen Herkunft zu bekennen.

Wer die grundsätzlich aus dem Werk herausgelassenen Beschreibungen von deut­schen Siedlungen in Rußland vermißt, der sei auf das nachfolgend (Teil II) erscheinen­de Ortslexikon der Deutschen in Rußland verwiesen, dessen Herausgabe unser Bil­dungsverein in enger Zusammenarbeit mit der Landsmannschaft der Deutschen aus Rußland übernehmen wird. Es soll die Namen von etwa 3.500 deutschen Kolonien enthalten und mit entsprechenden Erläuterungen versehen sein.

Ergänzend sei noch darauf hingewiesen, daß zwei Gruppen von Deutschen, die ebenfalls im Zarenreich lebten, in diesem Lexikon keine Berücksichtigung finden - die Deutschen des Baltikums und die Deutschen in Russisch-Polen. Die Deutschbalten wanderten bereits im Mittelalter in den Ostseeraum (Estland, Kurland, Livland und Ingermanland) ein und kamen im 18. Jahrhundert unter russische Herrschaft. Sie sind als eine gesonderte Gruppe der Deutschen in Rußland zu betrachten, da sie nicht wie später die anderen Rußlanddeutschen durch die russischen Herrscher in das Land geru­fen worden waren, sondern bereits infolge einer „mittelalterlichen Familienwanderung" nach Osten als spezifische Bevölkerungsgruppe im Baltikum entstanden sind und auch später unter russischer Oberhoheit eine Sonderstellung einnahmen. Die Deutschpolen in „Kongreßpolen", das nach dem Wiener Kongreß in Form eines Königreiches konsti­tuiert wurde und von da an in Personalunion mit dem Zarenreich stand, kamen somit 1815 endgültig unter russische Herrschaft. Sie machten 1897 mehr als 25% der deut­schen Bevölkerung in Rußland aus. Auch die Deutschpolen nahmen analog zu den Deutschbalten innerhalb der Rußlanddeutschen eine Sonderstellung ein, da sie über­wiegend schon vor den polnischen Teilungen (1772,1793 und 1795) in den polnischen Gebieten gelebt hatten. Da die Entstehungsbedingungen und die Geschichte dieser bei­den Gruppen sowie ihre rechtliche Stellung sich von den übrigen Rußlanddeutschen grundsätzlich unterscheiden, wird man zu ihnen in unserem Lexikon auch nur wenige Aussagen finden.

Hinsichtlich des Inhaltes der erfaßten und bearbeiteten Stichworte gilt es grund­sätzlich darauf hinzuweisen, daß sich durch die in letzter Zeit in den Archiven der Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion neu erschlossenen Dokumente zahlrei­che Ergänzungen und Präzisierungen erforderlich machen werden. Die Arbeit an ei­nem solchen Lexikon ist schon aus diesem Grunde niemals endgültig abgeschlossen und sollte deshalb auch weitergeführt werden. In diesem Zusammenhang sind die Au­toren für Kritiken, Anregungen und Hinweise sehr dankbar.

Möge dieses Lexikon für jeden, der sich mit der Geschichte und Kultur der Deut­schen in und aus Rußland verbunden fühlt oder für die Angehörigen dieser Bevölke­rungsgruppe politische, religiöse oder kulturelle Verantwortung trägt, ein unentbehrli­cher Begleiter und Ratgeber sein.

Dr. Christian Böttger


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