Geschichte der Wolgadeutschen

GERHARD BONWETSCH

GESCHICHTE DER DEUTSCHEN KOLONIEN
AN DER WOLGA


Bonwetsch, G.: Geschichte der deutschen Kolonien an der Wolga. / Schriften des Deutschen Auslands-Instituts Stuttgart. Hrsg. von Prof. Dr. Walter Goetz in Leipzig und Prof. Dr. Julius Ziehen in Frankfurt a. M., Bd. 2. – Stuttgart: Verlag von J. Engelhorns Nachf., 1919. – 132 S.


Meinem Vater
G. Nathanael Bonwetsch
geboren am 17. Februar 1848 zu
Norka auf der Bergseite der Wolga
zum siebzigsten Geburtstage


Vorwort

Die deutschen Siedlungen im Gebiete des russischen Reiches sind von Verdeutschen geschichtlichen Forschung bisher kaum der Beachtung gewürdigt worden. Zwar haben sich deutsche Gelehrte seit dem Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts zu verschiedenen Zeiten mit Eifer der Geschichte des russischen Reiches und Volkes gewidmet. Aber die innerhalb der russischen Grenzen ansässigen Deutschen wurden höchstens einer beiläufigen Erwähnung gewürdigt, sofern nicht einzelne unter ihnen, meist baltischer Herkunft, in die Geschichte ihres Adaptivvaterlandes entscheidend eingegriffen haben. So gibt es eine wirkliche wissenschaftliche Literatur nur zur Geschichte der Balten, die sich selbst mit vorbildlicher Gründlichkeit um die Erforschung ihrer Vergangenheit bemüht haben.

Für die ausgedehnten, zusammenhängenden Bauernsiedelungen im Süden und Südosten des russischen Reiches dagegen fehlen geschichtliche Darstellungen bis jetzt völlig. Sie selbst haben Männer der Wissenschaft kaum, auf historischem Gebiete überhaupt nicht, hervorgebracht. Erst der Weltkrieg hat die öffentliche Aufmerksamkeit auf diese Splitter des deutschen Volkstums gelenkt. Vom Untergang bedroht, haben sie Zum erstenmal die verdiente Beachtung in der alten Heimat gefunden. Es ist ein Verdienst zahlreicher halb oder ganz populär gehaltener Kriegsschriften und Aufsätze, auf die Leiden jener deutschen Volksgenossen, die länger als ein Jahrhundert ihr Deutschtum rein bewahrt haben, hingewiesen zu haben. Aber gerade die Widersprüche und Unklarheiten, die sich in diesen aus dein Drang der Zeit schnell entstandenen Schilderungen finden, beweisen deutlich die Notwendigkeit, die Vergangenheit der deutschen Kolonien in Rußland durch geschichtliche Forschung aufzuhellen, soweit das in der gegenwärtigen Zeit überhaupt möglich ist[1].

Denn man kann freilich die Frage aufwerfen, ob gerade jetzt der richtige Augenblick zu einem derartigen Unternehmen ist. Der brutale Vernichtungswille der zarischen Regierung, der an den Grenzen des deutschen Reiches vor Hindenburgs Schlägen kehrt machen mußte, hatte sich um so rücksichtsloser gegen die wehrlosen Deutschen im Innern Rußlands gekehrt. Ein großer Teil des blühenden deutschen Lebens — wieviel, läßt sich heute noch nicht völlig überschauen — ist druck) das Enteignungsgesetz dem Verderben anheimgefallen. Den großen südrussischen Kolonien ist ja durch die Bildung des selbständigen ukrainischen Staates und den Friedensschluß mit ihm die Rettung vor unmittelbarer Vernichtung gebracht worden. Freilich wird auch ihr Dasein, wenn es auf die Dauer Bestand haben soll, auf eine neue Grundlage gestellt werden müssen. Die deutschen Bauern an der Wolga aber sind nach kurzem Aufatmen in den Strudel der Revolution gerissen. Erschütternde Kunde von ihren physischen und seelischen Leiden ist zu uns gedrungen. Der Friede von Brest-Litowsk, der ihnen das Recht der Auswanderung gewährleistet, hat Hoffnungen in ihnen erweckt, deren Erfüllung vorläufig unmöglich ist. Statt küssen ist ihr Land zum Kriegsschauplatz geworden. Beide Parteien aber wetteifern in Deutschenfeindschaft. Das jedenfalls steht heute schon fest: das Sonderdasein der Wolgakolonien ist unwiederbringlich vorüber. Auch die Erforschung ihrer Geschichte sieht sich dadurch vor gänzlich veränderte Verhältnisse gestellt. Es ist klar, daß durch die Auflösung der Siedlungsgemeinden die wichtigsten Quellen für ihre Geschichte, die Kirchen- und Gemeindearchive, der Vernichtung preisgegeben sind. Wieviel davon in den Unruhen dieser Zeit überhaupt noch erhalten bleibt, muß die Zukunft lehren. Biel wird es keinesfalls sein, und das Quellenmaterial war schon stets dürftig genug. Aber gerade darin, daß wir mit örtlichen Quellen kaum noch zu rechnen haben, liegt die Rechtfertigung für den Versuch, schon heute, wo doch jede Möglichkeit einer direkten Beziehung ausgeschlossen ist, auf Grund der erreichbaren Quellen und Literatur ein Bild der geschichtlichen Entwicklung dieser Kolonien zu entwerfen.

Noch eines weiteren Mangels ist sich der Verfasser wohl bewußt: seine Kenntnis der russischen Sprache reichte zur selbständigen Durchforschung des russischen Materials, soweit es in deutschen Bibliotheken erreichbar ist, nicht aus. Ein wesentlicher Nachteil wird, so hoffe ich, daraus nicht erwachsen sein. Wo die Heranziehung russischer Texte unvermeidlich schien, durfte ich mich außerdem der Unterstützung von Frau Vizekonsul Ehrt, geb. Bonwetsch, aus Saratow, zurzeit in Charlottenburg, erfreuen. Ich danke ihr auch an dieser Stelle herzlich für ihre unermüdliche Hilfsbereitschaft.

Der zweifelhafte Wert mündlicher Überlieferung ist im Verlauf dieser Arbeit besonders häufig zutage getreten. Um so mehr muß ich hier hervorheben, daß ich für die Geschichte der Kolonien seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts das Wertvollste den mündlichen Mitteilungen dessen verdanke, dem dies Büchlein dargebracht ist. Möge es ihm an der Schwelle des Greisenalters eine Freude bereiten, an die Stätte der frühen Jugend und ersten Wirksamkeit zurückversetzt zu werden! Das sei mein Dank für seine Hilfe.

Berlin-Dahlem, den 1. Oktober 1918

Gerhard Bonwetsch


1 Ein vortreffliches Beispiel für die Unkenntnis der Geschichte der Wolgakolonien bei Leuten, die über sie schreiben wollen, gibt Zottmann, der auf Seite 99 „etwa eine halbe Million Deutsche“ unter Katharina an die Wolga ziehen läßt.


Inhaltsübersicht

Vorwort
5
Inhaltsübersicht 7
Einleitung 9

1. Abschnitt:
Die Gründung der Wolgakolonien (1762 — 1796)
Erstes Kapitel: Die Vorbereitungen zur Kolonisation 11
Zweites Kapitel: Die Gewinnung der Ansiedler 18
Drittes Kapitel: Das Ansiedlungswerk 29
Viertes Kapitel: Die Jahre der Not 34
Fünftes Kapitel: Die Anfänge Sareptas 43

2. Abschnitt:
Die Blütezeit der Kolonien (1797 — 1845)
Erstes Kapitel: Die Reform der Verwaltung und der Wirtschaft 48
Zweites Kapitel: Die sittliche Erneuerung unter geistlichem Einfluß 53
Drittes Kapitel: Sareptas Blüte und Niedergang 57
Viertes Kapitel: Das Wirtschaftsleben der Kolonien 59
Fünftes Kapitel: Kirche und Schule 68
Sechstes Kapitel: Volksleben 84

3. Abschnitt:
Die Zeit der großen Aussiedlung (1846 — 1870)
Erstes Kapitel: Die Gründung von Neukolonien in der Steppe 88
Zweites Kapitel: Wirtschaftliche Reformversuche 93
Drittes Kapitel: Kirche und Schule 98

4. Abschnitt:
Der Niedergang der Wolgakolonien (1871 — 1917)
Erstes Kapitel: Der Raub der Privilegien 104
Zweites Kapitel: Die wirtschaftliche Katastrophe 110
Drittes Kapitel: Die Auswanderungsbewegung 114
Viertes Kapitel: Der Zustand der Wolgakolonien vor dem Weltkriege 117

Anhang
Tabellen 127
Literaturübersicht 130

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