Viktor Krieger, Heidelberg
Vortrag zur
Podiumsdiskussion beim Bundestreffen in Wiesbaden, 26.05.2007
Bundesbürger rußlanddeutscher Herkunft:
Die identitätsstiftende Funktion geschichtlicher
Erfahrungen
Im Zarenreich
Unter
Rußlanddeutschen verstehen wir hauptsächlich Nachkommen der
handwerklich-bäuerlichen Einwanderer aus Westeuropa, in erster Linie aus
den deutschen Kleinstaaten, die im 18. und 19. Jahrhundert zur Urbarmachung im
unteren Wolga- und im Schwarzmeergebiet angesiedelt wurden. Zu diesen wichtigsten
Ansiedlungsgebieten zählten noch weitere zerstreut angelegte Siedlungen in
Wolhynien, im Transkaukasus oder in der Umgebung von St. Petersburg sowie auch
vereinzelte Handwerkerkolonien in den Städten.
Sie kamen in ein Land, daß im
Laufe der territorialen Expansion seit dem 15. Jahrhundert sein Staatsgebiet um
das 52fache vergrößerte und letztendlich ein Sechstel der
Landfläche der Erde umfaßte. Im Zuge von zahlreichen Eroberungs- und
Annexionskriegen, aber auch durch friedliche Eingliederungen mehrerer
Grenzgebiete wurden in das Russische Reich zahlreiche Hochkulturen und
„primitive“ Völker einverleibt. In den meisten Fällen blieb jedoch
ihre Sozialstruktur, Sprache, Wirtschafts- und Lebensweise unangetastet. Das
Ziel war dabei nicht die Assimilation an die staatsbildenden Russen; als
oberstes Gebot für die Unterworfenen galten der Reichspatriotismus und die
Loyalität dem herrschenden Haus gegenüber.

Karte der territorialen Expansion Rußlands zwischen 1462-1914.
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Eine weitere Besonderheit der
russischen Geschichte ist als Folge dieser Entwicklung anzusehen: die
Binnenkolonisation. Etwas überspitzt sagte der berühmte Historiker
Wassili Kljutschewski: „Die Geschichte Rußlands ist die Geschichte eines
der Kolonisation unterliegenden Landes.“ Die Besiedlung der eroberten und zum
Teil fast vollständig unbewohnten Territorien durch Russen und in
geringerem Maße auch durch Ukrainer mit dem Ziel einer festen Anbindung
an das Reich dauerte jahrhundertelang an und konnte noch Mitte des 20.
Jahrhunderts (Neuland-Aktion in Kasachstan) beobachtet werden.
In diese Tradition der Urbarmachung
und der Besiedlung des eroberten Landes mit zuverlässigen Bevölkerungselementen
reiht sich auch die Anwerbung von ausländischen Kolonisten ein. Die
kaiserlichen Beamten bestimmten für sie menschenleere Gebiete zur
Ansiedlung und legten geschlossene Dorfgruppen und ganze Bezirke an. Von Anfang
an wurde die im Einladungsmanifest aus dem Jahre 1763 versprochene freie
Ortswahl unterlaufen, vor allem das Seßhaftwerden in den Städten
verhindert. Zahlreiche Handwerker und Freiberufler sahen sich dadurch zum
Ackerbau gezwungen, was vor allem die Siedler an der Wolga betraf. Durch einen
neu geschaffenen „Kolonisten-Stand“ wurden sie von der übrigen
Bauernbevölkerung abgegrenzt und einer Vormundschaftskanzlei in St.
Petersburg mit (Fürsorge)Kontoren in Saratow und Odessa unterstellt. Die
Einführung des Deutschen als Amtssprache hemmte jahrzehntelang das
Erlernen der russischen Sprache – um in erster Linie den befürchteten
Einfluß des Protestantismus und Katholizismus auf orthodoxe Bauern zu
vermeiden. Überhaupt spielten ständische Schranken und konfessionelle
Unterschiede im Zarenreich eine stark trennende Rolle. Konfessionsverschiedene
Ehen waren eine Ausnahme; Kinder aus Mischehen mit Russen mußten orthodox getauft und erzogen werden.
Unter solchen im Vergleich zur alten
Heimat Deutschland völlig anderen politischen, sozialen, geographischen und
klimatischen Bedingungen begann sich ein neues ethnisches
Selbstverständnis herauszubilden: man sah sich als stolzer russischer
Kolonist und wurde auch so von den Nachbarvölkern wahrgenommen. Das
kennzeichnete vor allem die in einem kompakten Siedlungsgebiet lebenden
Wolgadeutschen mit ihrem starken Zusammengehörigkeitsgefühl, die sich
unübersehbar zu einer neuen Ethnie des Übersiedlungstyps –
ähnlich den Frankokanadiern – entwickelten.

Karte der deutschen Siedlungsgebiete im Russischen Reich vor 1917.
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Die Aufhebung der staatlichen
Sonderverwaltung für die ausländischen Kolonisten im Jahre 1871 und
ihre Eingliederung in die allgemeine Verwaltung - eine logische Konsequenz der
Großen Reformen der 1860er Jahre (darunter die Abschaffung der
Leibeigenschaft und die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht) - hat an
diesen Gegebenheiten wenig geändert. Historisch gewachsene Landkreise mit
mehreren Siedlungen besaßen nach wie vor einen hohen Grad an lokaler
Selbstverwaltung, der Unterricht in der Grundschule verlief – trotz einiger
Änderungen – weiterhin auf Deutsch und konfessionelle Schranken wirkten
auch künftig trennend. Durch all diese Umstände erklären sich
die im wesentlichen erhalten gebliebenen sprachlichen und kulturellen Merkmale
der Ansiedler bis zum Ende der Monarchie.
Die deutschen Bauern nahmen an der
rasanten wirtschaftlichen Entwicklung des Russischen Reiches regen Anteil: bis
zum Vorabend des Ersten Weltkrieges vervierfachte sich ihr Landbesitz und
betrug um die 8 Mil. Ha. Fast die Hälfte der landwirtschaftlichen
Maschinen und Geräte im Schwarzmeergebiet – dem Hauptstandort dieses
industriellen Zweiges in Rußland – wurde von Betrieben in den ehemaligen
Kolonien oder derjenigen mit rußlanddeutschen Inhabern hergestellt. In
ihren Händen lagen auch an der Wolga wichtige Industriezweige wie die
Mühlen- oder Textilindustrie (Sarpinkaproduktion). In der Wein- und
Kognakproduktion spielten die schwäbischen Kolonien im Transkaukasus eine
bedeutende Rolle.
Die Russischkenntnisse nahmen
allmählich u.a. durch den Armeedienst zu und waren nach der
Volkszählung von 1897 höher als die der meisten anderen
nichtrussischen Ethnien des Imperiums. Immer mehr drängte die Jugend in
die Städte, besuchte russische Realschulen und Gymnasien, ließ sich
in die höheren Schulen und Universitäten des Landes immatrikulieren.
Nach der Einberufung des ersten russischen Parlaments, der Reichsduma im Jahre
1906, vertraten dort Abgeordnete wie Ludwig Lutz oder Jakob Dietz die
Interessen der Schwarzmeer- bzw. der Wolgadeutschen. Vor allem die
naheliegenden Großstädte Odessa und Saratow waren für die
intellektuelle und geistige Entwicklung der deutschen Minderheit von eminenter
Bedeutung.

Der erste Professor wolgadeutscher Herkunft an der Universität Saratow,
der Sprachwissenschaftler Georg Dinges (1891-1932).
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Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts
zählte man allein in den Gouvernements Saratow und Samara ungefähr
600.000 russische Bürger - ehemalige Kolonisten, die einen Raum vergleichbar
der Größe nach mit Rheinland-Pfalz (ca. 20. Tsd. km²) ober- und
unterhalb der Regionalmetropole Saratow bevölkerten.
Die intellektuelle Schicht der Wolgadeutschen nutzte im Jahre 1914 das
hundertfünfzigjährige Jubiläum der Gründung der ersten
Kolonien für eine eindrucksvolle Demonstration des gewachsenen
Selbstbehauptungswillens in verschiedenen publizistischen Auftritten,
Festschriften und historischen Darstellungen. Leider vereitelte der
ausgebrochene Krieg den Großteil dieser Vorhaben. Auch die kurz vorher
begangenen Festivitäten im Schwarzmeergebiet zum 100. Jahrestag der
Gründung einzelner Siedlungsbezirke legten ein beredtes Zeugnis eindeutiger
Verbundenheit der Mehrheit der Deutschen mit ihrem russischen Vaterland ab.
Allerdings hatte sich im Zarenreich noch kein übergreifendes nationales
Bewußtsein herausgebildet; man nannte sich nach den geographischen
Siedlungsräumen Wolgadeutsche, Schwarzmeerdeutsche (oder südrussische
Kolonisten), auch Krimdeutsche, südrussische Mennoniten, Kaukasusdeutsche,
Wolhyniendeutsche usw.

Kufeld D. Das Lied vom Küster Deis. 1914.
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Überbevölkerung und
Landknappheit trieben in den zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den
räumlichen und sozialen Wandel voran: der landlose Bauer sah sich
gezwungen, entweder in Handwerker- oder industrielle Berufe zu wechseln oder
auswärts zusätzliches Land zu erwerben. Durch beträchtliche
Wegzüge aus den alten Siedlungen (sog. Mutterkolonien) entstanden zahlreiche
Tochtersiedlungen – vorerst in der Umgebung, später dann im Nordkaukasus
und im Ural, in der kasachischen Steppe und in Sibirien. Neben wirtschaftlichen
und demographischen Faktoren führten die gesetzlichen Restriktionen beim
Kauf von Land dazu, daß ein nicht geringer Teil der ehemaligen Kolonisten
auswanderte, bezeichnenderweise nicht in die „Urheimat“ Deutschland, sondern in
die Vereinigten Staaten, nach Kanada und in lateinamerikanische Staaten.
Insgesamt zeichneten sich die
Rußlanddeutschen im Zarenreich durch ausgeprägte Kaisertreue und
Loyalität zu der vorherrschenden sozialen und politischen Ordnung aus und
wurden von der Führungsschicht des Staates als systemstabilisierend
betrachtet. Doch ihre rasante wirtschaftliche Entwicklung, vor allem im
Schwarzmeergebiet, der expandierende Landbesitz sowie die schnelle Verbreitung
des protestantischen Glaubens (Stundismus) – der in den Kolonien entstanden ist
– unter der russischen und ukrainischen Landbevölkerung, gekoppelt mit der
Angst vor militärischer und wirtschaftlicher Potenz des gerade
gegründeten Deutschen Reiches, provozierte erbitterte Pressekampagnen
gegen russische Staatsbürger deutscher Herkunft, verleitete zu hastigen
Russifizierungsmaßnahmen und anderen einschränkenden Bestimmungen.
Ungeachtet dieser deutschfeindlichen Stimmung führte das sich
herausgebildete nationale Selbstbewußtsein der ehemaligen Kolonisten neben
ihrer traditionellen Gesetzestreue und Pflichterfüllung zu einer
eindeutigen Parteinahme zugunsten des Russischen Reiches im Ersten Weltkrieg:
Zehntausende Schwarzmeer- und Wolgadeutsche kämpften als russische
Soldaten an der Front gegen Deutschland und seine Verbündeten.

Erster Welkrieg und die Rußlanddeutschen.
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Im Verlaufe des Krieges nahmen
jedoch die diskriminierenden Maßnahmen, zunehmends von Behörden und
Militärverwaltung ausgehend, existenzbedrohliche Ausmaße an. Es
folgten Zwangsaussiedlungen von etwa 200.000 Wolhynien- und anderen Gruppen der
Deutschen aus den frontnahen Gebieten, schwere antideutsche Pogrome im Mai 1915
und gesetzliche Regelungen zu Enteignung ihres Landbesitzes, eine sog.
Liquidationsgesetzgebung. Aber die Zivilgesellschaft war in Rußland noch
weitgehend intakt, und so regte sich der politische und gesellschaftliche
Widerstand und Protest von Seiten der linken Duma-Abgeordneten, der lokalen Verwaltung
in Ortschaften mit deutscher Bevölkerung und auch seitens einiger
Kulturgrößen, die sich nicht in den Dienst antideutscher Propaganda
stellen ließen. Zu diesen Menschen gehörte der berühmte
russische Schriftsteller Wladimir Korolenko, auch Rußlands Gewissen
genannt. In einem Aufsatz „Über den Kapitän Kühnen“ für die
liberale Zeitung „Russkie Wedomosti“ im November 1916 zeigte er teilnahmsvoll
und mitfühlend, was in jener Zeit einem Rußlanddeutschen widerfahren
konnte:
„… Er ist kein Untertan Deutschlands, sondern einfach ein
russischer Deutscher, ein urwüchsiger Untertan des russischen Staates, der
sein Leben lang am großen russischen Strom ehrlich gearbeitet hat. Nun
ist er, vielleicht zusammen mit seiner Familie, von diesem Strom getrennt worden
und muß neben Marktweibern mit Wassermelonen handeln… Auf diese Weise
bekundet unsere liebe Wolga ihren Patriotismus. Nieder mit den Deutschen!
Gemeint sind aber nicht die Deutschen, die unsere Gefechtsstellungen bei Dwinsk
bestürmen oder an unsere südliche Tür über Rumänien
hinweg klopfen. Gemeint ist unser Kapitän Kühnen, d.h. der Mann, der
sich keiner Schuld bewußt ist... Dies ist eine, wie die breite Wolgaer
Frühlingsflut, unnötige Ungerechtigkeit, derentwegen das
gutmütige Rußland wohl Mitleid und Scham empfinden wird, wenn diese
trübe Welle abgeflaut ist.“
Von der Machtergreifung der Bolschewiki bis zum
deutsch-sowjetischen Krieg
Aufgrund ihrer historisch bedingten
wirtschaftlich-sozialen und geistig-religiösen Entwicklung waren die
Nachkommen der deutschen Einwanderer als überwiegend ländliche und
fast vollständig schriftkundige Bevölkerung, mit einer breiten
Schicht wohlhabender Bauern für sozialistische Utopien schwer zu gewinnen.
Den politischen und gesellschaftlichen Zielen der an die Macht gekommenen Bolschewiki
stand die Mehrheit der Siedler skeptisch bis ablehnend gegenüber, was sich
u.a. in zahlreichen Bauernaufständen der Jahre 1918-1921 und in
anhaltender Protesthaltung der darauffolgenden Jahre äußerte. Die
radikalen gesellschaftlichen Maßnahmen trafen vor allem die
marktorientierten, größere Ländereien besitzenden
Schwarzmeerdeutschen. Die administrativ-territoriale Reform von 1921-23 in der
Ukraine ignorierte die Interessen der deutschen Bauern: geschichtlich und
wirtschaftlich verwachsene nationale Landkreise und Kolonien wurden
auseinandergerissen und an Dorfräte anderer Nationalitäten
angegliedert, ungeachtet all den daraus resultierenden sozialen und
wirtschaftlichen Nachteilen und erheblichen Verständigungsproblemen. Im
Zuge der durch das „Dekret über das Land“ verordneten Enteignungen
mußte der Großteil des deutschen Grundbesitzes an ukrainische
Bauern abgetreten werden. Diese Benachteiligungen, zusammen mit der
religiösen Unterdrückung, führten noch in den 1920er Jahren zu
einer stark ansteigenden Emigration nach Kanada, vornehmlich der gut
organisierten Mennoniten.
Andererseits profitierten die
Wolgadeutschen von der Nationalitätenpolitik der neuen Machthaber. Sie
wurden ausdrücklich als ein selbständiges Volk anerkannt,
ähnlich wie andere zahlreiche russische Ethnien, so etwa die Tataren,
Tschuwaschen oder die Anfang des 17. Jahrhunderts an die Untere Wolga eingewanderten
Kalmücken. Die Ausrufung der Arbeitskommune (autonomes Gebiet) im Oktober
1918, die sechs Jahre später zu der Autonomen Republik der Wolgadeutschen
(ASSRdWD) aufgewertet wurde, vollzog sich auf der Grundlage eines formal
zugestandenen Selbstbestimmungsrechtes der Völker Rußlands. Obwohl im
Rahmen des zentralistisch ausgerichteten Sowjetstaates die nationalen
Republiken in Wirklichkeit jeglicher Selbständigkeit beraubt waren, wäre
es doch ein großer Fehler gewesen eine territoriale Autonomie
sowjetischer Prägung als reine Fiktion zu betrachten. In diesem
Zusammenhang gilt festzustellen, daß in der UdSSR politische,
sprachlich-kulturelle und sozioökonomische Entwicklungsmöglichkeiten
einzelner Nationalitäten an das Vorhandensein einer territorialen
Autonomie gebunden waren. Es handelte sich hier z.B. um einen ungehinderten
Zugang zu höheren Bildungsanstalten, berufliche Aufstiegsmöglichkeiten,
muttersprachlichen Schulunterricht, Erforschung und Pflege – wenn auch im
sowjetischen Sinne – der nationalen Geschichte und Kultur (Eröffnung und
Finanzierung von höheren Lehranstalten, wissenschaftlichen
Forschungsinstituten, Theatern, Bibliotheken, Verlagen usw.). Bei Vertretern vor
allem der jüngeren Generation, die von den neu geschaffenen Bildungs- und
Aufstiegschancen profitieren konnten, stieß deshalb die sozialistische
Gesellschaftsordnung auf gewisse Unterstützung.

Literaturlesebuch für deutschsprachige allgemeinbildende
Schulen in der Wolgadeutschen Republik.
Deutscher Staasverlag, Engels, 1938.
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Bereits Ende der 1920er Jahre schlug
die sowjetische Führung mit Stalin an der Spitze den Kurs einer radikalen
Umgestaltung der sowjetischen Gesellschaft ein. Diese Wende zwischen 1928 und
1932 markierte den Übergang von einer Gesellschaft, geprägt von
gewissen Zugeständnissen an die Privatwirtschaft, begrenzter politischer
Meinungsfreiheit und kultureller Offenheit zu einer Mobilisierungsdiktatur
unter Stalins Alleinherrschaft. Das Ergebnis dieser Politik war eine
entscheidende Transformation der Sozialstruktur der ländlichen
Bevölkerung: im Zuge der Kollektivierung verwandelte sich der
selbständige Bauer in einen besitzlosen Lohnarbeiter, der vollständig
vom Staat abhängig war, sei es durch die Mitgliedschaft in einer Sowchose
(Sowjetwirtschaft) oder solch einer pseudogenossenschaftlichen Organisation wie
die Kolchose (Kollektivwirtschaft). In den Städten verschwand ebenfalls
jegliche Spur einer selbständigen Tätigkeit: Kleinunternehmer,
Freiberufler, private Verleger u.ä.m. waren nicht mehr vorzufinden.
Bei der deutschen Minderheit entlud
sich der Protest gegen die Enteignungen und religiösen Verfolgungen Ende
1929 u.a. in einer massenhaften Auswanderungsbewegung. Zu dieser Zeit
versammelten sich in Moskau um 14.000 Bauern und forderten eine freie Ausreise
aus dem Land. Sie kamen in Kontakt mit der deutschen Botschaft und
ausländischen Journalisten. Die sogenannte „Kolonistenaffäre“
bedeutete für die Sowjetunion einen enormen Prestigeverlust und
führte zu einer merklichen Verschlechterung der deutsch-sowjetischen
Beziehungen. Die bereits vorhandene Tendenz zur Unterbindung jeglicher, nicht
direkt von Moskau genehmigter Beziehungen mit dem Ausland, verstärkte sich
um so mehr, als sich erschütternde Zeugnisse und Hilferufe der
bedrängten Bauern in den Meldungen der reichsdeutschen und
ausländischen Presseorgane niederschlugen.

Mitteilung des Botschafters Herbert von Dirksen
aus Moskau über die Verfolgung der Gläubigen
unter der deutschen Minderheit, Mai 1929.
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Während der schrecklichen
Hungersnot der Jahre 1932-33 wandten sich viele in ihrer lebensbedrohlichen
Lage an die Landsleute in Europa und Amerika, an die kirchlichen und
gesellschaftlichen Organisationen in Deutschland, der Schweiz und anderen
europäischen Ländern. Der Reichsausschuß „Brüder in Not“
(er wurde schon 1921 für die humanitäre Unterstützung der
notleidenden deutschstämmigen Einwohner in Rußland konstituiert)
organisierte mit viel propagandistischem Aufwand Hilfe für die hungernden
Wolga- und Schwarzmeerdeutschen. Diese Hilferufe und sämtliche Kontakte
mit Ausländern wertete die sowjetische Führung – anders als
während der Hungerkatastrophe Anfang der zwanziger Jahre – fortan als
eindeutige Verletzung der Treue zur „sozialistischen Heimat“. Eine Welle der
Verfolgung löste ein Telegramm des ZK der Kommunistischen Partei vom 5. November 1934 aus, das die regionalen und lokalen Partei- und Regierungsorgane zum
Kampf „gegen die Faschisten und ihre Helfershelfer“ aufforderte.
Der Politik der
Berücksichtigung und Unterstützung zahlreicher nichtrussischer
Völker folgte etwa ab Mitte der dreißiger Jahre ein massives
Zurückdrängen ihrer berechtigten Anliegen und eine weitgehende
Aushöhlung der verbrieften Autonomierechte. Als eine der Konsequenzen
dieses Politikumschwungs ist die Erklärung einiger Minderheiten zu
„Feindnationalitäten“ zu nennen. Dem offenen und unterschwelligen Vorwurf
der potentiellen Schädlings- und Spionagetätigkeit waren in erster Linie
solche „westliche“ Minderheiten wie Polen, Finnen und Ingermanländer,
Esten, Letten, Griechen und andere Diasporagruppen ausgesetzt; sie fielen dem
„Großen Terror“ von 1937-38 überdurchschnittlich hoch zum Opfer:
Vom 1. Januar 1936
bis zum 1. Juli 1938
in der UdSSR verhaftete
Personen, nach Nationalitäten gelistet
Nationalität
|
Zahl der Verhafteten,
absolut
|
Anteil an der Gesamtzahl der Verhafteten, in %
|
Anteil der Nationalität an der
Gesamtbevölkerung der UdSSR, in %
|
|
|
|
|
Russen
|
657 799
|
43,6
|
58,4
|
Ukrainer
|
189 410
|
13,3
|
16,5
|
Polen
|
105 485
|
7,4
|
0,4
|
Deutsche
|
75 331
|
5,3
|
0,8
|
Weißrussen
|
58 702
|
4,1
|
3,1
|
Juden
|
30 542
|
2,1
|
1,8
|
Letten
|
21 392
|
1,5
|
0,1
|
Finnen
|
10 678
|
0,7
|
0,1
|
...
|
…
|
…
|
…
|
Insgesamt
|
1 420 711
|
100
|
100
|
Als
eine der ersten sowjetischen Minderheit mußten die Deutschen massenhafte
Verschickungen aufgrund ihrer nationalen Zugehörigkeit erleiden. Am 28. April 1936 faßte der Rat der Volkskommissare der UdSSR den Beschluß
Nr. 776-120 ss „Über die Aussiedlung von 15.000 polnischen und deutschen
Haushalten aus der Ukrainischen Sowjetrepublik und ihre wirtschaftliche
Einrichtung im Gebiet Karaganda der Kasachischen SSR“, davon waren offiziellen
Angaben zufolge 69.283 Personen aus den Grenzgebieten der Ukraine betroffen.
Allein in der Ukraine kam es im Zuge
der „deutschen Operation“ des Volkskommissariats (Ministeriums) für Innere
Angelegenheiten (NKWD) in den Jahren des „Großen Terrors“ 1937-38 zur
Verurteilung von 21.229 Personen, davon wurden allein 18.005 erschossen. Obwohl
der Anteil der Deutschen an der Republikbevölkerung nur 1,4% betrug,
gehörten sie mit 14,7% (!) der Liquidierten zu den am meisten verfolgten
nationalen Gruppen. Eine grausame Statistik ergibt sich ferner aus der
Tatsache, daß im Alter von 20 bis 59 Jahren fast ein fünftel (18%)
und im Alter von 30 bis 49 fast ein Viertel (22%) der deutschen Männer
erschossen wurde! Diese Verfolgungswelle erzeugte in großen Teilen der
deutschen Minderheit panische Angst, apokalyptische Vorstellungen,
Demoralisierung, innere Ablösung vom Sowjetstaat, aber auch Haß und
Rachegefühle. Ohne Berücksichtigung der jahrzehntelangen
Unterdrückungs- und Terrormaßnahmen des Sowjetsystems bzw. seiner
Träger kann das Verhalten der Schwarzmeerdeutschen unter rumänischer
und reichsdeutscher Besatzung nicht angemessen beurteilt werden.
Die
Zahl der im Zuge der „Deutschen Operation“ des NKWD der Jahre
1937-1938 verurteilten und erschossenen Personen
Territorium
|
Verurteilungen
|
Anteil der Erschossenen, in %
|
insgesamt
|
darunter zur Todesstrafe
|
|
|
|
|
Ukrainische SSR
|
21 229
|
18 005
|
84,8
|
Region Krasnodar
|
2 895
|
2 784
|
96,2
|
Gebiet Nowosibirsk
|
2 645
|
2 548
|
96,2
|
Gebiet Leningrad
|
2 919
|
2 536
|
90,0
|
Region Altaj
|
3 171
|
2 412
|
76,0
|
Gebiet Swerdlowsk
|
4 379
|
1 464
|
33,3
|
Gebiet Tscheljabinsk
|
1 626
|
1 434
|
87,7
|
ASSR der Krim
|
1 625
|
1 391
|
85,3
|
...
|
…
|
…
|
…
|
Gesamt
UdSSR
|
55 005
|
41 898
|
76,2
|
Die Nachkommen der einstigen
Kolonisten galten im sozialistischen Staat stalinistischer Prägung also
zunehmend als Belastungsfaktor: durch ihren Widerstand, der sich u.a. in einer
Emigrationsbewegen ausdrückte, durch vielfältige verwandtschaftliche,
landsmannschaftliche und kirchliche Kontakte mit dem Ausland, durch
verzweifelte Hilferufe an reichsdeutsche Personen und Organisationen erfuhr die
Weltöffentlichkeit von dem wahren Ausmaß der Hungerskatastrophe
1932-33, der ausnahmslosen Enteignung, strafrechtlichen Verfolgung und
religiösen Unterdrückung in der Sowjetunion. Noch lange vor dem
Krieg, im Klima der Klassenfeind-, Sabotage-, Schädlings- und
Spionagehysterie, galten die Nachfahren der Kolonisten aufgrund ihrer
sprachlichen Verwandtschaft mit dem „kapitalistischen“ und später auch
„faschistischen“ Deutschland zunehmend als verdächtig. Zahlreiche
Strafprozesse in der Wolgadeutschen Republik, in der Ukraine, in Sibirien,
Leningrad oder Moskau gegen die „Agentur des Klassenfeindes“,
„reaktionäre“ katholische und evangelische Geistliche oder
„bürgerlich-nationalistische Gruppen“, gegen „Mitglieder der
faschistischen antisowjetischen Organisationen“ bzw. „Gestapo-Agenten“, (nicht
selten mit deutschen oder österreichischen Emigranten „vermengt“),
lieferten seit Ende der 1920er Jahre einen Vorgeschmack darauf, worauf sich die
deutschstämmigen Sowjetbürger im Falle eines Krieges wohl einstellen
mußten, unabhängig von ihren politischen Ansichten oder ihrer Klassenzugehörigkeit.
Der 1941 ausgebrochene Krieg bot schließlich den willkommenen
Anlaß, sich über deren Rechte gänzlich hinwegzusetzen.
Der Krieg und seine Folgen
Der ausgebrochene deutsch-sowjetische Krieg führte zweifelsohne zu
einer Radikalisierung der sowjetischen Vorgehensweise in Bezug auf ethnische
Fragen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Sowjetunion wagte die sowjetische
Führung die gewaltsame Auflösung eines etablierten und von der
Verfassung geschützten nationalen Territoriums - eine qualitative
Steigerung in der Praxis des bolschewistischen Terrors. Wie sich zeigen sollte,
diente die Vorgehensweise den Rußlanddeutschen gegenüber als Vorlage
zu späteren ethnischen Säuberungen im In- und Ausland.
Die Liquidation der
ASSR der Wolgadeutschen im August 1941 und die totale Verbannung aus dem
europäischen Teil der Sowjetunion markierten den Übergang zu einer
breitangelegten Verfolgung und Diskriminierung der gesamten Minderheit. Ob der
in seinem dörflichen Milieu tief verwurzelte Kolchosbauer oder
rücksichtslose stalinistische Funktionär, ob weitgehend russifizierte
Stadtintellektuelle oder alter Bolschewik, Mitglied der Gottlosenbewegung oder tiefgläubiger
Katholik, kommunistischer Vorzeigearbeiter oder bereits enteigneter
Großbauer, ob Hochschulprofessor oder Offizier - niemand wurde vor der totalen
Entrechtung verschont; ausschlaggebend war allein die ethnische
Zugehörigkeit.
Die
seit Januar 1942 praktizierte umfassende Aushebung von Jugendlichen,
Männern und Frauen in Zwangsarbeitslager, von den Politoffizieren in den
Einsatzorten und später von den Behörden verschleiernd trudovaja armija bzw. trudarmija – Arbeitsarmee genannt, schloß
die deutsche Minderheit endgültig aus dem Kreis der „gleichberechtigten“
sowjetischen Völker aus. Der rechtliche Status dieser
Mobilisierten kann als eine Art Mischung aus Lagerhäftling, Bauarbeiter
und Militärangehöriger bezeichnet werden, wobei die Lagermerkmale
dominierten. Ähnlich wie die GULAG-Häftlinge wurden sie für
Schwerst- und unqualifizierte Arbeiten eingesetzt: beim Bau von Eisenbahnlinien
und Industriebetrieben, für die Öl- bzw. Kohleförderung oder
beim Holzeinschlag. In den Einsatzorten vornehmlich auf dem Ural und in
Sibirien kam es zu geballten Repressionen und Einschüchterungen der
rußlanddeutschen Zwangsarbeiter seitens des Innenministeriums und der
Organe der Staatssicherheit NKWD-NKGB.

Tscheljabmetallurgstroj des NKWD der UdSSR, das größte Zwangsarbeitslager für die Rußlanddeutschen.
Es wurde in der Nähe der Stadt Tscheljabinsk für den Bau eines metallurgischen Kombinats errichtet.
Im Verlauf des Krieges waren in diesem Lager nicht weniger als 38.000 Zwangsarbeiter im Einsatz,
in der überwiegender Mehrheit Rußlanddeutsche, aber auch sowjetische Bürger finnischer,
ungarischer und sogar italienischer Nationalität. Es bestand bis April 1947.
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Eine weitere Stufe der bürgerlichen
Entrechtung stellte der Beschluß des Staatlichen Verteidigungskomitees
vom 7.
Oktober 1942 dar, der eine Mobilisierung der deutschen
Frauen im Alter von 16 bis 45 Jahren anordnete. Nur Schwangere und Mütter
von Kindern unter 3 Jahren durften freigestellt werden. Diese massenhafte
Rekrutierung von Frauen durch die Sammelstellen des Volkskommissariats für
Verteidigung, ihre Unterstellung unter die Militärgerichtsbarkeit und die
jahrelange Trennung von ihren Kindern und Familienangehörigen stellte ein
weitgehend einmaliger Vorgang nicht nur in der sowjetischen, sondern in der
ganzen europäischen Militärgeschichte dar.
Darüber hinaus wurden im
Arbeitslager jegliche Beziehungen mit rekrutierten Deutschen, die
außerhalb der notwendigen beruflichen Kontakte standen, strikt untersagt.
Vor allem Verhältnisse mit russischen Frauen unterlagen repressiven
Maßnahmen: Wegen „intimer Kontakte mit einem mobilisierten Deutschen und
nachlassender Wachsamkeit“ verlor die Komsomolzensekretärin einer
Grundorganisation im Straf- und Arbeitslager Iwdel im Gebiet Swerdlowsk ihren
Posten und wurde aus dem Kommunistischen Jugendverband ausgeschlossen. Eine
Ärztin auf der Baustelle des Tscheljabinsker Hüttenkombinats
mußte öffentliche Anprangerungen hinnehmen, weil sie sich in ihrer
Wohnung mit einem Zwangsarbeiter einige Male traf, und das „entgegen den
strengen Vorschriften der Bauverwaltung, die dem vertragsfreien Personal
Beziehungen jeglicher Art zu arbeitsmobilisierten Deutschen untersagen“.
Keine andere Ethnie in der
Sowjetunion hat solch eine tiefgreifende physische Ausbeutung erlebt: von den
1,1 Mio. Rußlanddeutschen, die sich während des Krieges im
sowjetischen Machtbereich befanden, mußten etwa 350.000 Jugendliche,
Männer und Frauen Zwangsarbeit leisten. Eine verläßliche Zahl
der Opfer läßt sich bislang nicht quantifizieren; die
Sterblichkeitsrate soll Hochrechnungen einzelner Lager zufolge nicht weniger
als 20% betragen haben.
Besonders litten sie unter der fast ins Unermeßliche
gestiegenen germanophoben Propaganda, unter der gesellschaftlichen Ächtung
und den Anfeindungen aus der Bevölkerung. Nach dem Scheitern
anfänglicher Versuche, den anrückenden Gegner mit
klassenkämpferischen Parolen der internationalen Solidarität der
Arbeiter und Bauern zu beeinflussen, überschritten die sowjetischen
Massenmedien rasch die Schwelle zu ungehemmten Haß- und Greueltiraden.
„Deutscher“ und „Faschist“ galten so immer mehr als Synonyme, was für die
Rußlanddeutschen fatale Folgen haben sollte. Unzählige Beiträge
in Flugblättern und Zeitungen, Büchern und Zeitschriften,
Radiosendungen und Filmen, wo in erster Linie gegen Deutsche heftig Stimmung
gemacht wurde, vergifteten das Verhältnis der anderen Nationalitäten
zu den Deportierten merklich. Zumal die Behörden zwischen den „eigenen
deutschen Bürgern“ und der Angreifernation keinen Unterschied machen
wollten. Die weitgehende Entrechtung und Diffamierung dieser nationalen
Minderheit löste eine Signalwirkung aus, die der Bevölkerung
verdeutlichte, daß die Propagierung eines nationalen Hasses,
chauvinistische Äußerungen und jegliche Art von Benachteiligungen
erlaubt und straffrei sind. „Zu viel Humanismus lassen wir gegenüber
diesen faschistischen Halunken walten“ – mit solchen und ähnlichen
Äußerungen über die zwangsausgesiedelten Mitbürger stand
ein Rayonparteisekretär aus dem Gebiet Nordkasachstan nicht alleine da.
Der stalinsche Propagandaauftrag lief in letzter Konsequenz
auf den Aufruf: „Töte den Deutschen“ und nicht etwa „Töte den Feind“
oder „Töte den Faschisten“ hinaus. Es ist eigentlich zweitrangig, wer
diesen extrem haßerfüllten Appell am wirkungsvollsten verlautbart
hatte. Aus visueller Sicht sei hierzu besonders das Plakat der Malerin Maria
Nesterowa „Papa, töte den Deutschen“ zu erwähnen, das in
Hunderttausenden Exemplaren im ganzen Land ausgehängt wurde. Wie tief
einige sowjetische Kulturschaffende moralisch gefallen waren, läßt
sich aus solchen niederträchtigen Aussagen ableiten, wie etwa: „Der Krieg
hat in uns nicht nur den Haß gegen die Deutschen gezüchtet, sondern
auch die Verachtung für sie... – das sind keine Menschen, sondern Fritze.“
Nicht die Sprache oder der Glauben, nicht die Herkunft
oder die kulturellen Überlieferungen, sondern in erster Linie die
kollektiven Erfahrungen der gesellschaftlichen Ächtung und
alltäglichen Anfeindungen, der Erniedrigung und Entrechtung, der
Einweisung in Zwangsarbeitslager und das Leben als Sondersiedler unter der Kommandanturaufsicht
schufen letztendlich ein übergreifendes Gemeinsamkeitsgefühl und
prägen bis heute das nationale und historische Bewußtsein der
rußlanddeutschen Minderheit.

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Der gnadenlose Einsatz in den
Arbeitslagern beeinflußte nachhaltig ihre räumliche Verteilung,
soziale Struktur, ethnodemographische Entwicklung und gesellschaftliche
Aktivität. Die Konzentration auf den Baustellen und in den
Industriebetrieben zog einen gewaltigen Urbanisierungsschub nach sich; fortan
entstand in der vornehmlich bäuerlich geprägten Ethnie eine
verhältnismäßig große Gruppe von Arbeitern und
technischer Intelligenz. Die langjährige Trennung der deutschen Frauen und
Männer, das Leben in einer andersethnischen Umgebung führte zu einer
starken Zunahme von Mischehen, was eng mit zunehmenden Akkulturations- und
Assimilationsprozessen verbunden war. Die hartnäckige Weigerung der
post-stalinistischen Partei- und Staatsführung, substantielle
Wiedergutmachung zu leisten, verhinderte die erhoffte Gleichstellung der
Rußlanddeutschen mit anderen sowjetischen Völkern, blockierte die
Fortentwicklung der eigenständigen Identität und untergrub weitgehend
ihre Loyalität zum Sowjetstaat. Der Ausschluß von den
Kriegserfahrungen der Sowjetvölker, v.a. das totale Verschweigen ihres
opferungsvollen Einsatzes im Rahmen der sog. Trudarmija führten zu
weiteren Entfremdungen. Angesichts der verhängten Informationsblockade
mußten sie stellvertretend für die tatsächlichen oder
erfundenen Verbrechen des Dritten Reiches büßen, sich antideutsche
Ressentiments ihrer Nachbarn, Kollegen oder Vorgesetzten gefallen lassen und
mit staatlicher Diskriminierungspolitik im sozialen, politischen und
kulturellen Bereichen rechnen.

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Dies löste bei den Betroffenen
eine Protesthaltung aus, die sich in unterschiedlicher Weise ausdrückte:
zahlreiche Bittschriften an die zentralen Medien und obersten Partei- und
Staatsorgane der Sowjetunion wurden verfaßt, kommunistische Aktivisten
bildeten Delegationen, die in den 1960er und Anfang der 1970er Jahre von dem ZK
der KPdSU und dem Obersten Sowjet der UdSSR die Wiederherstellung der
Wolgadeutschen Republik forderten. Dazu kam eine beachtliche Zahl von Deutschen,
die als Mitglieder der nichtregistrierten baptistischen, lutherischen,
katholischen oder mennonitischen Gemeinden in der kirchlichen Opposition
standen. Auch die zunehmende Bereitschaft zur Emigration in die Bundesrepublik
und kollektive Aktionen, wie die öffentliche Absage an die sowjetische
Staatsbürgerschaft, waren sichtbarer Ausdruck der verbreiteten
Unzufriedenheit. Ausreisewillige waren in erster Linie jene
Schwarzmeerdeutschen und ihre Nachkommen, die unter die reichsdeutsche bzw.
rumänische Besatzung geraten waren und 1943-44 nach Warthegau oder in das
Altreich umgesiedelt wurden. Fast alle hatten zu dieser Zeit die deutsche
Staatsbürgerschaft verliehen bekommen (sog. „Administrativumsiedler“). Der
Großteil von ihnen wurde jedoch am Ende des Krieges in die UdSSR
zwangsrepatriiert und in den östlichen Gebieten unter Sonderregime
gestellt. So entstand das Problem der Familienzusammenführung, das
jahrzehntelang die (bundes)deutsch-sowjetischen Beziehungen belastete. Der
Entschluß zur Auswanderung fiel den Betroffenen um so leichter, zumal die
seit Ende der 1920er Jahre, aber vor allem seit 1941 betriebene Enteignungs- und
Unterdrückungspolitik den einst fest verwurzelten deutschen Landwirt oder
Handwerker systematisch zu einem besitz- und heimatlosen Proletarier
herabsetzte, der buchstäblich (frei nach Karl Marx) „nichts zu verlieren
hatte“.

Protestbewegungen der deutschen Minderheit.
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Mit dem beharrlichen Einfordern einer Wiedergutmachung
und der Wiederherstellung ihrer religiösen, bürgerlichen und
nationalen Rechte trugen die Deutschen zur Delegitimierung und letztendlich zum
Zusammenbruch des sowjetischen Unrechtsstaates nicht unwesentlich bei.
Der kurz nach der Perestrojka zum
wiederholten Male unternommene Versuch, die Rußlanddeutschen ein
gleichberechtigtes sowjetisches bzw. rußländisches Volk mit einer
territorialen Autonomie werden zu lassen, scheiterte erneut. Angesichts der
ungesühnten Verbrechen und der fortdauernden Diskriminierung waren die
meisten Vertreter dieser leidgeprüften Minderheit schließlich nicht
mehr bereit, ihren minderen Status widerspruchslos hinzunehmen und entschlossen
sich, in Deutschland den Neuanfang zu wagen. Der Spruch „Als Deutsche unter den
Deutschen zu leben“, den viele Zugewanderte als Ausreisegrund angeben und der
bei einigen wachsamen Bundesbürgern das Befremden auslöst, bedeutet
in Wirklichkeit „Als Gleiche unter den Gleichen zu leben“. Er bleibt nach wie
vor aktuell, weil auch in der heutigen Russischen (eigentlich:
Russländischen) Föderation nationale Minderheiten ohne eigenes
nationales Territorium im Vergleich zu den Titularvölkern weiterhin im
politischen und kulturellen Bereich stark benachteiligt sind.

Proteste der Einwohner der Stadt Marx
gegen die Wiederherstellung der deutschen autonomen Republik, 1989.
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In
der Bundesrepublik
Im vereinigten Deutschland leben
heute mehr als zweieinhalb Millionen Bundesbürger rußlanddeutscher
Herkunft; somit stellen sie einen bedeutenden demographischen, wirtschaftlichen
und soziokulturellen Faktor in diesem Land dar. Für ihr Selbstverständnis
spielt die Erinnerung an die Unterdrückung und Verfolgung eine
prägende Rolle. Dabei waren die Deutschen aus Rußland nicht nur
Objekte staatlicher Politik, sondern traten auch als handelnde und bestimmende
Personen auf, die Widerstand, Protest und Verweigerung leisteten.
Auf den ersten Blick ist es
erstaunlich, daß die deutsche Minderheit in der Sowjetunion und in der
Bundesrepublik vornehmlich als Problem aufgefaßt wurde bzw. wird. In der
Sowjetunion äußerte sich dies durch unzählige Beiträge in den
Massenmedien, in Propagandabroschüren und wissenschaftlich verbrämten
Schriften über das religiöse „Sektenunwesen“, dem eine große
Zahl der „Sowjetbürger deutscher Nationalität“ verfallen seien. Auch
warf man ihnen eine geringe gesellschaftliche Aktivität und mangelnde
sowjetpatriotische Gesinnung vor. Vor allem die Emigrationsbewegung galt als
Vorwand für die Beschuldigungen. Somit wurden geschickt Ursache und
Wirkung vertauscht. Gleichzeitig mangelte es jedoch nicht an Beiträgen und
Berichten über erfolgreiche Kolchosvorsitzenden, Traktoristen und
Schweinezüchterinnen, die beispielhafte Arbeitsleistungen vorwiesen. In
Nachschlagewerken, historischen Darstellungen und vor allem in Schulbüchern,
im Gesellschaftskundeunterricht wurde die Existenz dieses Volkes indes mit
keinem einzigen Wort erwähnt.
In den bundesdeutschen Medien werden
die übergesiedelten Rußlanddeutschen ebenfalls überwiegend als
Problemfaktor hervorgehoben: eine angeblich hohe Kriminalität,
Gewaltbereitschaft, Arbeitslosigkeit, Gettoisierung, schlechte
Deutschkenntnisse und mangelnde Integration sind dabei Begriffe, die am
häufigsten fallen. Solche infantile Urteile erlauben sich manche Politiker
und Wissenschaftler: „Ethnisch privilegierte Zuwanderer“, „die am schwierigsten
integrierbare Gruppe“, „selbstgewählte Abschottung“, „religiöse
Segregation“, „kaum vorhandene kulturelle Nähe zur Aufnahmegesellschaft“,
„autoritäre bzw. rechtslastige Vorstellungen“, „soziokulturelle Fremdheit
in Deutschland“ und ähnliches mehr.
Selbstverständlich gibt es in
Deutschland in Bezug auf die Aufarbeitung ihrer Vergangenheit gewaltige
Unterschiede gegenüber dem einstigen Sowjetstaat: so dürfen die
Betroffenen über ihre persönliche Erlebnisse ungehindert berichten
und schreiben, auch werden regelmäßig Monographien, soziologische Untersuchungen
über historische und kulturelle Fragen und über die gegenwärtige
Stellung der Volksgruppe in der Bundesrepublik publiziert. Aber es erfolgt eine
geringe gesellschaftliche Teilnahme an ihrem Schicksal. Gesamt- und übergreifende
Werke wie etwa die Reihe „Deutsche Erinnerungsorte“ berücksichtigen nicht
ihre historischen Erfahrungen. Auch hierzulande wird im Schulunterricht auf ihr
Schicksal sehr selten eingegangen. Das 65. „Jubiläum“ des
Regierungserlasses über die Auflösung der Wolgadeutschen Republik am 28. August 1941, der die bürgerliche Entrechtung und ökonomische
Ausplünderung der deutschen Minderheit einleitete und schlechthin als
unser nationaler Trauertag gilt, wurde in den hiesigen Medien kaum erwähnt
und in der breiten Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Das ist um so mehr
bedauerlich, da die Bundesbürger
rußlanddeutscher Herkunft inzwischen zu einem integralen Teil der
deutschen Nation geworden sind. Dies läßt sich vor allem am
Verhalten der zweiten (dritten…) Generation der Einwanderer feststellen: sie
haben einerseits die rechtsstaatlichen Grundwerte der Aufnahmegesellschaft
verinnerlicht und andererseits den Freiheitsdrang ihrer Eltern und
Großeltern bewahrt.
Vor allem das Thema Zwangsarbeit
verdient umfassendere Beleuchtung. In Deutschland ist sie unzertrennbar mit der
Leidensgeschichte von Millionen jüdischer und osteuropäischer Opfer verbunden.
In den Schulen werden Begegnungen mit Zeitzeugen organisiert, die ihr Wissen
über die schrecklichen Jahre der nationalsozialistischen Diktatur an die
jüngere Generation weitergeben und somit einen wichtigen Beitrag zu demokratischen
und freiheitlichen Erziehung leisten. Die vergleichbaren Erlebnisse der rußlanddeutschen
Zwangsarbeiter sind dagegen noch nicht in den Schulunterricht einbezogen
worden, obwohl sich hier im Lande bereits Zehntausende Überlebende der sowjetischen
Straf- und Zwangsarbeitslager befinden. Vor allem beim Thema „Geschichte der UdSSR“
würden ihre Lebenserinnerungen zum besseren Verständnis der stalinistischen
Diktatur, der menschenverachtenden Praxis des Terrors, der Zwangarbeit,
Verfolgung und Diskriminierung im sowjetischen Staat beitragen. Die
Aktualität dieser Problematik ergibt sich auch aus der Tatsache, daß
in vielen Ortschaften und Städten der Anteil der Schüler aus Familien
mit rußlanddeutschem Hintergrund bereits im zweistelligen Bereich liegt.
Schließlich möchte ich
daran erinnern, daß sich im Juli 2013 zum 250ten Mal die
Verkündigung des berühmten Einladungsmanifests der russischen Zarin
Katharina II. jährt, welche die eigentliche Geburtsstunde der
rußlanddeutschen Volksgruppe markiert. Gleichzeitig hoffe ich, daß sich die deutsche Gesellschaft auch
für diesen Teil ihrer Geschichte öffnet und anläßlich
dieses Jubiläums ein sichtbares Zeichen der Erinnerung an das kollektive
Schicksal der Bundesbürger rußlanddeutscher Herkunft in Form eines
ihnen gewidmeten zentralen Dokumentationszentrums und Museums setzt.