Robert Korn

EIN UNBEKANNTER VORLÄUFER GAVRIIL DERŽAVINS

Von den Volgadeutschen vermittelt, trug eine Ode Friedrichs des Großen dazu bei, dass der künftige russische Dichter seine wahre Berufung erkannte.



Der größte russische Dichter des 18. Jahrhunderts Gavriil Romanovič Deržavin hat sein Bedeutendstes in seinen Oden geschaffen. Wie jede große Dichtung vereinen auch Deržavins Oden die Elemente seiner Vorläufer. Die Literaturwissenschaftler nennen in diesem Zusammenhang gewöhnlich M.V. Lomonosov und A.P. Sumarokov.1 Und daran ist natürlich nichts auszusetzen, insbesondere wenn man an frühe Gedichte Deržavins denkt, die unter dem Einfluss dieser Meister des russischen Klassizismus entstanden sind. Es gab aber noch einen Dichter, der das frühe Schaffen Deržavins beeinflusste -, der preußische König Friedrich der Große, der ja bekanntlich nicht nur Schlachten schlug, sondern auch Gedichte schrieb. In Französisch. Der deutschen Übersetzung seiner Gedichte aus dem Sammelband „Poésies diverses du philosophe de Sans-Souci“ war ein merkwürdiges Schicksal beschieden: Sie halfen Deržavin, sein eigenes künstlerisches Ich, seinen eigenen künstlerischen Stil finden.

 

Retter in der Not

Wer sich mit der Kulturgeschichte der Volgadeutschen beschäftigt hat, weiß, dass die deutschen Auswanderer an die Volga aus ihrer Urheimat nicht nur Erbauungsbücher mitnahmen, sondern vereinzelt auch Unterhaltungslektüre, ja wissenschaftliche Werke.2 Das gilt auch für die Ode Friedrichs des Großen „Standhaftigkeit“, die ein volgadeutscher Pionier, Karl Wilmsen (in einigen Quellen wird er als Wilhelmsen angeführt), aus Deutschland mitgebracht hatte, und die dann die russische Literaturgeschichte auf einen neuen Weg brachte.3

Der unverdient vergessene volgadeutsche Schriftsteller Georg Löbsack charakterisiert Wilmsen als einen Mann, der „Sinn und Verstand für das Geistige“ besaß. Das kann man zweifellos so stehen lassen, denn nur auf diese Weise lässt sich die Tatsache erklären, dass sich Wilmsen vor der Auswanderung nach Russland ein Büchlein stärkender Oden besorgt hat, deren Verfasser unbekannt war. Sein Namen stand nämlich nicht im Büchlein. Und die Oden waren zuerst in Französisch verfasst worden. Irgendjemand hatte sie ins Deutsche übersetzt. Wilmsen nahm sie mit. In Russland ließ er sich mit seiner Frau in der 1767 gegründeten Wolgakolonie Schaffhausen (Michaelis) nieder, die im Jahre 1772 ganze 153 Einwohner zählte.

Das Ehepaar Wilmsen scheint kinderlos geblieben zu sein: Dem Verfasser dieser Zeilen ist es jedenfalls nicht gelungen, diesen Namen im Archiv der Volgadeutschen in Engels zu finden. Wilmsen schrieb aber seinen Namen glücklicherweise in das genannte Büchlein und viel später fand es der russische Literaturwissenschaftler V.F. Chodasevič auf dem Trödelmarkt in Kazan’, wobei er uns weitere Zusammenhänge aufdeckte.4

1774 wüteten an der Wolga die Räuberhorden des Donkosaken E. Pugačev, der natürlich auch vor deutschen Siedlungen, die damals zum großen Teil nicht einmal zehn Jahre alt waren, keinen Halt machte. So wurde die berühmte Kolonie Sarepta bei Caricyn (Stalingrad/Volgograd) völlig ausgeplündert,5 Gehöfte der deutschen Kolonisten wurden niedergebrannt, ihr Vieh davon getrieben. Es ist überliefert, dass allein in der Kolonie Warenburg sieben deutsche Kolonisten von den Aufwieglern am Tore aufgeknüpft worden sind. Obwohl die Deutschen womöglich ihre Pferde versteckt hatten, wurden ihnen doch „sehr viele von den Banden abgenommen“. Noch grausamer ging es in den Kolonien der Bergseite zu, durch die Pugačev seinen Weg nach Kamyšin nahm. In der Kolonie Kratzke befahl er gleich nach seiner Ankunft, einen Galgen zu errichten und vier fremde Männer zu erhängen. „Hierauf durchwühlten die Unmenschen“, erzählt der Augenzeuge Dewald, „die wenigen Häuser unseres damals noch sehr kleinen Dorfes, nahmen, was ihnen passte, schlugen Greise und alte Frauen samt den Kindern mit ihren Peitschen, ohne jedoch jemand zu töten und lagerten sich dann vor dem Dorf…“6

Nach dem Pugačev-Aufstand standen Tausende von Kolonistenfamilien wieder mit leeren Händen da, „wie am ersten Tage nach ihrer Ankunft am Gründungsplatze ihrer Kolonie. Nun hieß es, wieder von der Krone ‚Vorschuss’ nehmen, der die Schuldenlast gewaltig vermehrte, und von neuem anfangen“.7

Am Kampf mit den Pugačev-Horden beteiligte sich auch der ehrgeizige Gardeleutnant Gavriil Deržavin, ein leidenschaftlicher Verehrer der Kaiserin Katharina II., der es sich zum Ziel setzte, Pugačev eigenhändig zu fangen und nach Petersburg zu führen. Siegesbewusst stellte er auf den Schanzen bei der Kolonie Schaffhausen Kanonen gegen den Titelbetrüger, Pseudozaren und Räuber auf.

Doch Pugačev, der sich selbst zum Zaren ernannte, war zu dieser Zeit nicht die einzige Bedrohung. Eine andere Gefahr, die die Volgadeutschen in arge Bedrängnis brachte, kam aus den östlich von der Volga gelegenen kasachischen Steppen. Die nomadisierenden Kasachen, von den Volgadeutschen „Kergiser“ genannt, die immer wieder über die deutschen Siedlungen hergefallen waren, nutzten die Schwächung der örtlichen russischen Streitkräfte, die sich auf den Kampf mit dem Pugačev-Aufstand konzentrieren mussten, stießen über den Fluss Ural Richtung Wolga vor und unternahmen gegen die Deutschen neue Beutezüge.8 So gut es ging, half Deržavin den Kolonisten bei der Abwehr der Kasacheneinfälle. Die Deutschen selbst legten dabei die Hände keinesfalls in den Schoß. Angesichts der tödlichen Gefahr sollen sie versprochen haben, Deržavin mit einer Miliz zu unterstützen. Michael Schippan und Sonja Striegnitz, die sich auf V.F.Chodasevič berufen, behaupten sogar, Deržavins Truppen hätten die Kasachen besiegt und „etwa 800 deutsche Kolonisten aus der Gefangenschaft“ befreit.9 Das scheint übertrieben zu sein. Jedenfalls konnte ich hierfür in anderen Quellen keine Bestätigung finden. Nur aus der Bittschrift des Vorstehers der Kolonie Katharinenstadt Simon Müller  und 53 anderer Kolonisten aus dem Jahre 1784 auf den Allerhöchsten Namen geht hervor, dass einige gefangene Kolonisten durch „General Dershawin“ aus der kirgisischen Gefangenschaft befreit worden seien. Dabei hätte dieser zu diesem Zwecke unter großen Strapazen („cъ великимъ неудобствомъ“)10 die Uralische Steppe durchstreift. (Deržavin gewann zu dieser Zeit die Gunst der Kaiserin zurück und stieg enorm auf). Zunächst aber gestaltete sich seine Laufbahn in den Volgasteppen recht ungünstig. Es lässt sich mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit behaupten, dass gerade der Eifer des angehenden Dichters und seine Tapferkeit, die er im Kampf mit Rebellen und Nomaden an den Tag legte, ihm zum Verhängnis wurden: Seine Neider bezichtigten ihn des Abenteurertums und verklatschten den Offizier bei der Zarin, indem sie nach Petersburg meldeten, Deržavin köpfe die Anhänger des Räubers mehr aus poetischem Drang, denn aus militärischer Notwendigkeit.11 Was lag dieser Beschuldigung zugrunde?

Deržavin veranstaltete in zwei russischen Siedlungen – Malykowka und Sosnowka -, ganz in der Nähe der deutschen Kolonien, eine öffentliche Bestrafung russischer Gutsbauern. In Malykowka wurden in Anwesenheit aller männlichen und weiblichen Dorfbewohner drei der Verurteilten, die wiederum an der Tötung des Gutsverwalters mit Frau und Kindern beteiligt gewesen sein sollten, aufgrund der an Deržavin „von der Generalität erteilten Vollmachten“ hingerichtet. Deržavin, so hieß es, hätte dabei ein abschreckendes Schauspiel inszeniert: Die Verurteilten sollten nämlich mit brennenden Kerzen in den Händen und beim Klang der Glocken zum Erhängen geführt worden sein. Gerade dieser Vorfall hätte Deržavins Biographen J.V. Clardy zufolge den Dichter Ivan Dmitriev zur böswilligen Bemerkung veranlasst, Deržavin habe die Vollstreckungsszene „mehr der poetischen Kuriosität halber denn aus Notwendigkeit“ gestaltet.12

Wie dem auch sei, aus Petersburg kam die Order, den ehrgeizigen Offizier vom „Kriegsschauplatz“ abzuberufen. Die allmächtige Kaiserin sandte ihn erst dann wieder an die Volga, als Pugačev schon geköpft und nur noch mit seinen geheimen Anhängern aufzuräumen war. Deržavin gehorchte natürlich, aber seine große Verehrung der Kaiserin war bitter getäuscht worden. Trost spendete dem innerlich zerschlagenen und gedemütigten Haudegen eine Freundschaft, die ihm über sein schweres Schicksal hinweghalf.

 

Erneut in Schaffhausen

Das Haus des Bauern und Liebhabers der Poesie Karl Wilmsen in Schaffhausen, den Deržavin auf seinem ersten Feldzug kennen gelernt hatte, wurde dem niedergeschlagenen Gardeoffizier zum Zufluchtsort. Die Bevölkerung der Kolonie hatte sich von den Schrecken der Kasachen-Überfälle und des Pugačev-Aufstandes relativ schnell erholt. Der Dichter, der hier insgesamt drei Monate verbrachte, konnte sich daher mit der Kultur und Lebensart der Deutschen vertraut machen. Vereinsamt grübelte er auf den vor kurzem noch gestrengen und jetzt schon vom Gras überwucherten Schanzen bei Schaffhausen über seine wahre Berufung nach.

Zu seinen Bekannten, bei denen Deržavin regelmäßig zu Gast war, zählten neben Karl Wilmsen auch Johann Wilhelmi. Als der verbitterte Gast eines Tages wieder traurig zu den Schanzen hinausging, gab ihm Wilmsen sein Oden-Büchlein mit. Und von diesem Tage an soll sich das Wesen Deržavins verwandelt haben. Er war von den Versen des damals für ihn anonymen Verfassers bezaubert worden. Insbesondere begeisterte ihn die Ode „Standhaftigkeit“. Der niedergeschlagene russische Offizier empfand nämlich das Werkchen als philosophischen Gruß des namenlosen Künstlers aus dem Westen in die einsamen wilden „Kirgisensteppen“. Doch er schöpfte aus den Oden nicht nur Trost und Zuversicht. Vielmehr beflügelte ihn die Formschönheit, die ermutigende, poetisch perfekte Lebenskraft. „Sein Genius fing Feuer an dem Funken. Ein reifes und erhabenes Talent segnete ein unfertiges und gebrochenes“, schreibt in diesem Zusammenhang Georg Löbsack.13

Die von Wilmsen geschenkte Sammlung „Vermischter Gedichte“ entsprach fast haargenau Deržavins Stimmung, den die Erlebnisse vorvergangener Monate zur Reflexion angespornt hatten. Behutsam übersetzte er zunächst einige Oden aus dem Büchlein ins Russische. Dann begann er selbst Oden zu schreiben, die ihn schließlich berühmt machten.

Damals in Schaffhausen entstand nach dem Vorbild der friderizianischen Ode „Die Standhaftigkeit“ seine Dichtung „O postojanstwe“, in der er über die Wandelbarkeit des Glücks nachsann. Seitdem erfüllte die Dichtkunst Deržavins ganzes Leben. Auch von der Kaiserin war er erneut begeistert: Er besang die Herrscherin in der Ode „Feliza“, erwarb dadurch 1783 erneut die Gunst Katharinas und machte eine wechselvolle Karriere bei Hofe, die parallel zu seinem literarischen Schaffen verlief. Er wurde Gouverneur, Privatsekretär der Zarin (1791/93), Senator, dann unter dem Nachfolger Katharinas, Paul I., Mitglied des Gosudarstvennyj Sovet (Staatsrat) und Schatzmeister. Kaiser Alexander I. ernannte ihn schließlich zum Justizminister.

„Im Spiegel, von Friedrichs des Großen Hand ihm vorgehalten, erkannte Deržavin sein eigenes Gesicht“, bezeugt Professor Chodasevič, „Friedrichs Oden wurden ihm in den Volgasteppen zum philosophischen und künstlerischen Evangelium. Aus dem scherzhaft-ironischen Ton und aus hyperbolischer kluger Grobheit seiner Werke, beginnend auf den Anhöhen bei Schaffhausen an der Volga, stieg der schöpferische Realismus in der russischen Literatur auf. Das dichterische Lebenswerk Deržavins steht am Beginn unseres literarischen Realismus.“ Besser lässt sich das wohl kaum auf den Punkt bringen.

 

2008



1 STEINER, G./GREINER-MAI, H./LEHMANN, W. (1981): Lexikon fremdsprachiger Schriftsteller von den Anfängen bis zur Gegenwart. Leipzig, Bd. 1, S. 420; KASACK, W. (1994): Russische Autoren in Einzelporträts. Stuttgart, S. 108; DÜWEL, W., Hrsg. (1973): Geschichte der klassischen russischen Literatur. Weimar, S. 63-64.

2 PEPPLER, F. (1832): Schilderung meiner Gefangenschaft in Russland vom Jahre 1812-1814. Worms, S. 111.

3 LÖBSACK, G. (1936): Einsam kämpft das Wolgaland. Leipzig, S. 76-80.

4 LÖBSACK, G., ebenda.

5 DITC, J.E. (1997) : Istorija povolžskich nemcev-kolonistov (Geschichte der wolgadeutschen Kolonisten). Moskva, S. 99-100 ; KORN, R.A. (2008): V Rossii – nemcy, v Germanii – russkie. Istoričeskie očerki o rossijskich nemcach. (In Russland Deutsche, in Deutschland Russen. Historische Skizzen über die Deutschen aus Russland). Augsburg, S. 13-14.

6 BERATZ, G. (1923): Die deutschen Kolonien an der unteren Wolga in ihrer Entstehung und ersten Entwicklung. Berlin, S. 168-178; DITC, J.E., a.a.O., S. 87-99.

7 BERATZ, G., a.a.O, S. 178.

8 SCHNEIDER, A. (1999): Aus der Geschichte der Kolonie Mariental an der Wolga. Bearbeitet und herausgegeben von Victor Herdt. Göttingen, S. 36-52.

9 SCHIPPAN, M./STRIEGNITZ, S. (1992): Wolgadeutsche. Geschichte und Gegenwart. Berlin, S. 80; Vgl. V.F.CHODASEVIČ (1988): Deržavin. Moskva, S. 56-58 (Deržavin während des Pugačev-Aufstandes: S. 34-78). Der neuere Forschungsstand: (1988): Deržavin, Gavrila Romanovič. In: Slovar’ russkich pisatelej XVIII veka. (Lexikon russischer Schriftsteller des 18. Jahrhunderts), Vypusk 1: A-I, Leningrad, S. 249-259.

10 BERATZ, G., a.a.O., S. 199.

11 SCHIPPAN, M./STRIEGNITZ, S., a.a.O., S.

12 Zit. nach: CLARDY, J.V. (1967): G.R. Derzhavin. Apolitical biography. The Hague/Paris, S. 55.

13 LÖBSACK, G., a.a.O., S. 78-79.


Veröffentlicht in: "DEUTSCH-RUSSISCHE ZEITUNG" (2008/12, S. 18) unter dem Titel "Friedrich der Große, Gawrila Deshawin und die Wolgadeutschen".


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