Geschichte der Wolgadeutschen

SIEDLERNOT UND DORFIDYLL

KANONISCHE TEXTE DER RUSSLANDDEUTSCHEN


Siedlernot und Dorfidyll. Kanonische Texte der Russlanddeutschen. / Hrsg. von Annelore Engel-Braunschmidt. – Berlin; Bonn: Westkreuz-Verlag, 1993. – 87 S.

ISBN 3-922131-10-7


Vorwort
 
Es gibt bis heute — neben Liedern, Sprüchen, Schwänken — bei den Rußlanddeutschen einige wenige erzählende Texte, in Vers oder Prosa, die nicht nur die Generationen miteinander verbinden, sondern auch die über Kasachstan, Rußland, die Ukraine und andere Gebiete der ehemaligen Sowjetunion verstreut lebenden Deutschen. Die Rußlanddeutschen kennen fast nie den genauen Titel dieser Erzählungen, noch weniger die genauen Inhalte, aber sie erinnern sich dunkel an das „Deißche“, an das „Einwandererlied“ oder den „Kirgisenmicher (auch: „Kirgisermichel“), sie möchten diese Geschichten lesen, hören, neu erfahren, und sie wundern sich, wenn ein Bundesbürger ihnen nicht weiterhelfen kann. Sie machen sich dabei kaum klar, daß die Deutschen in Rußland und die Deutschen in der Bundesrepublik einem je verschiedenen historischen und gesellschaftlichen Kontext angehören, der sich eben auch in der Dichtung niederschlägt.
 
Als 1924 die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen (ASSRdW) aus der Arbeiterkommune (gegr. 1918) hervorgegangen war, stand der Aufbau einer neuen Gesellschaft im Vordergrund, und wenn der Blick zurückging, dann zumeist, um die alten Zeiten als schlechte und ablösenswerte zu charakterisieren. Als die Deutschen von der Wolga, aus der Ukraine, dem Kaukasus sich bei der 1941 befohlenen Deportation nach Sibirien und Kasachstan verfrachten lassen mußten, war es ihnen untersagt, irgend etwas mitzunehmen. Überdies waren die alten, vor der Revolution entstandenen Texte schon damals (außer in Bibliotheken) nicht mehr zugänglich. Als hätte die „Zeit des Schweigens“ — so der Euphemismus, mit dem die Jahre 1941—1955 im allgemeinen belegt werden — den alten Texten eine neue Aktualität verliehen, besann man sich ihrer, nachdem die Perestrojka endlich auch die Sowjetdeutschen erreicht hatte, und druckte sie in der rußlanddeutschen Presse ab. Damit konnten sie zwar von den Abonnenten der Zeitungen zur Kenntnis genommen werden, nicht aber von den Schülern, nicht von jenen, die sich die Zeitungen nicht hielten.
 
Wenn es irgend darum gehen soll, so etwas wie ein Identitätsbewußtsein bei den Rußlanddeutschen wiederherzustellen oder überhaupt erst zu schaffen, eine Assimilation an Rußland, Kasachstan oder die Bundesrepublik zu meiden und im Entdecken der eigenen Wurzeln einen positiven Wert zu zeigen, dann müssen die „kanonischen“ Texte der Rußlanddeutschen in ungekürzter Form und für alle erreichbar sein. Sie halten Phasen der Geschichte fest, und sie schildern Lebensumstände in einer Sprache, die weitgehend verständlich ist, vielen vertraut und überdies schön. Es ist an der Zeit, diese Texte in Buchform vorzulegen, damit jeder, der sie kennenlernen möchte, sie leicht zur Hand nehmen kann.
 
Hamburg, im August 1993
  Annelore Engel-Braunschmidt

Inhalt

Vorwort der Herausgeberin
5

Das Einwandererlied
9
     Bernhard Ludwig von Platen: Reisebeschreibung der Kolonisten 11
     Verzeichnis unverständlicher Wörter 19

Der Kirgisenmichel
21
     Friedrich Dsirne: Schön Ammi von Mariental und der Kirgisen-Michel 24

Küster Deis
46
     David Kufeld: Das Lied vom Küster Deis 48

Volkskundliches. Gedichte
65
     Emma Dinges: Sprichwörter, Redensarten, Rätsel und Schwänke 66
     Dr Taschkenter Broidijam, erzählt von dem Bauern Heinrich Brandt 69
     A. Rothermel: Die Hexe 71
     Kol’nijer (August Lonsinger): Ropp-zopp 78
     A. Rothermel: Kirgisenrache 85
     August Lonsinger: О teure Heimat... 86