Geschichte der Wolgadeutschen

JOHANNES SCHLEUNING

DIE WOLGADEUTSCHEN

IHR WERDEN UND IHR TODESWEG


Schleuning, J.: Die Wolgadeutschen. Ihr Werden und ihr Todesweg. – Berlin: Kranzverlag, 1932. – 35 S. – Reprint.


Einleitung

Immer noch geht das deutsche Volk in seiner großen Mehrheit achtlos an dem Schicksal eines Volksstammes vorüber, dem von der Vorsehung bestimmt war, auf Tausende von Kilometern vom Mutterlands getrennt, umgeben von slawischen und asiatischen Volksstämmen, sich in ungeheuer zähem Kampf eine neue Heimat und aus einer asiatischen Wildnis eine Kornkammer Rußlands zu schaffen. Dem aber ebenso bestimmt war, ein so unerhörtes Maß von beiden auf sich zu nehmen und schließlich einen Todesweg anzutreten, der einzig in der Geschichte aller Völker und Seiten dasteht.

Seit fast 1½ Jahrzehnten sind ein paar deutsche Männer unermüdlich dabei, die deutschen Gewissen zu wecken, die Herzen aufzurütteln und zu erwärmen für das Schicksal dieser unglücklichen Volksgenossen. Sie durften sich hier und da sagen, daß ihre Arbeit und ihre Bemühungen nicht ganz vergeblich waren. Aber wenn sie dann die Briefe ihrer Landsleute aus Rußland lesen, aus denen sie das Schluchzen verhungernder und erfrierender Kinder, das Todesröcheln der in Sklavenarbeit zusammenbrechenden Männer und Trauen, die Sehnsuchtsschreie gewaltsam auseinandergerissener Tamilienglieder heraus hören, dann kommt es ihnen erschütternd zum Bewußtsein, wie unzulänglich all die bisherige Aufklärung, wie wenig das noch Gemeingut ist. was jedes Kind in Deutschland wissen sollte. Und wenn sie vollends immer wieder feststellen dürfen, daß diese Sterbenden immer noch an die kommende Hilfe aus Deutschland wie an Gott glauben, dann empfinden diese paar Männer die Gleichgültigkeit des deutschen Volkes als ein ungeheures verbrechen vor der Geschichte. Denken sie dann noch daran, daß es Dutzende von deutschen Seitungen gibt, die jeden Tag viele Spalten für Sensationsnachrichten zur Verfügung haben und keinen Raum für die Berichte über das Schicksal unserer immer noch eine Million zählenden Brüder in Rußland, dann steigt ihnen die Schamröte über den Tiefstand des Volksbewußtseins in der Heimat ins Gesicht und sie möchten sich am liebsten verbittert vom Kampfplatz zurückziehen. Und doch dürfen sie nicht schweigen, sie müssen den fast aussichtslosen Aufklärungskampf immer wieder von neuem beginnen und dürfen trotz aller Enttäuschungen nicht müde werden, an das Schicksal der Brüder in Rußland zu erinnern. Steine müßten reden, wenn sie schwiegen.

Tin Weckruf an das deutsche Volk wollen auch die folgenden Geilen wieder sein. Sie sind der wesentliche Inhalt dessen, was der Verfasser ausführte in seinem Vortrag bei der großen öffentlichen Kundgebung des „Deutschen Bundes zum Schutze der abendländischen Kultur“ am 30. Mai 1932 im „Clou“ in Berlin ), die unter dem Thema stand: „Der Notruf der Wolgadeutschen — die Antwort der deutschen Christenheit.“ Auf dicht gedrängtem Raum soll das deutsche Volk auf das tragische Geschick der Rußlanddeutschen aufmerksam gemacht werden. Das geschieht in der Hoffnung, daß viele, die durch die folgenden Geilen aus ihrer Gleichgültigkeit aufgeweckt, sich weiter um das Schicksal der Brüder kümmern werden, daß sie gelegentlich auch nach den Schriften greifen, die ausführlicher einführen in die Geschichte des Rußlanddeutschtums, und daß sie daraus erkennen, daß unser Volk diesen Stammesgenossen gegenüber vor Gott und der Geschichte eine heilige Verantwortung und Verpflichtung trägt . . .


Auf den folgenden Seiten wird nur das Wolgadeutschtum behandelt. Das Rußlanddeutschtum aber ist größer als das Wolgadeutschtum. Es erstreckt sich über ganz Rußland, und es hat eine jahrhundertealte Geschichte. Es hat seine Anfänge bereits im 15. und 16. Jahrhundert. Ende des 17. Jahrhunderts ist bereits in Moskau ein ganzes deutsches Viertel mit einer eigenen evangelisch-lutherischen deutschen Kirche. In Petersburg ist das Deutschtum schon bei Gründung dieser Stadt (1705) von bedeutendem Einfluß. Die Schulen der Deutschen wurden grundlegend für das Bildungswesen in Rußland. Die erste Zeitung in Petersburg erschien in deutscher Sprache und behauptete sich bis zum Weltkriege. Die deutschen Gemeinden dieser einen Stadt zählten bei Ausbruch des Weltkrieges 70 000 Seelen.

Ein neues Blatt in der Geschichte des Rußlanddeutschtums beginnt mit der Regierungszeit Katharina II., die mit planmäßiger Besiedelung weiter russischer Gebiete mit Deutschen begann. Unter ihrer Herrschaft wird das Wolgagebiet besiedelt (1763—67). Ihr Nachfolger, Alexander I., setzt diese deutsche Siedlungstätigkeit fort. Es entstehen die Siedlungen im Schwarzmeergebiet bei Odessa, in Taurien, in Transkaukasien. Im 19. Jahrhundert dehnen diese Siedlungen sich immer weiter aus. Weite Flächen des Nordkaukasus und Sibiriens werden von den Alt-Kolonien im Wolgagebiet und Südrußland kolonisiert. Bei Ausbruch des Weltkrieges verteilte sich das Deutschtum über ganz Rußland wie folgt:

Das älteste und geschlossenste Kolonistengebiet, unter Katharina II. in den Jahren 1763—67 gegründet, befindet sich an der mittleren Wolga, in den Gouvernements Saratow und Samara, längs den beiden Wolgaufern. In 204 großen Dörfern (Kolonien) von durchschnittlich 5000 Seelen und etwa 150 Chutors (ein paar Höfe) wohnten dort etwa 600 000 Deutsche, die 2½  Millionen Hektar Land besaßen. Neben der Landwirtschaft blühten hier vor dem Kriege Handel und Industrie.

In Kongreßpolen begann die Kolonisation bereits im 13. Jahrhundert und dauerte bis in die Neuzeit fort, besonders stark war sie während der Regierung Friedrichs des Großen und dann wieder im 19. Jahrhundert, vor dem Kriege gab es da rund 400 000 deutsche Siedler — größtenteils Pächter —, mit den Städtern 700 000 Deutsche! Dies Gebiet gehört jetzt zu Polen.

Von Polen aus, vielfach durch Auswanderer direkt aus Deutschland, wurde das an Polen angrenzende südliche Gebiet, Wolhynien, im 19. Jahrhundert besiedelt, und seine Wälder und Sümpfe urbar gemacht, hier lebten gegen 300 000 deutsche Pächter und Kleingrundbesitzer. Die Hälfte davon gehört heute zu Polen, die andere Hälfte zu Sowjetrußland.

Südrußland (Bessarabien, Cherson, Taurien, Jekaterinoslaw und das Dongebiet) ist zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts unter Alexander I. besiedelt worden, hier wohnten in größeren und kleineren Gebieten über 600 000 deutsche Bauern, die gegen 5 Millionen Hektar Land besaßen. Bessarabien gehört heute mit über 100 000 Deutschen zu Rumänien, die andern Gebiete im Wesentlichen zur Ukraine.

Zwei Gruppen befinden sich im Kaukasus: die Gruppe des Nordkaukasus, die hauptsächlich von Siedlern aus den anderen schon übervölkerten Kolonien (Wolga- und Schwarzmeergebiet) angelegt ist und etwa 50 000 Seelen zählte, und die transkaukasische Gruppe, reine Schwabenkolonien, ebenfalls unter Alexander I. angelegt, die mit 8000 Städtern (Tiflis und Baku) etwa 22 000 Seelen umfaßte.

In Sibirien lebten etwa 100 000 Kolonisten, die im Laufe der letzten Jahrzehnte vor dem Kriege aus den Wolgakolonien und den Kolonien des Schwarzmeergebiets dahin auswanderten. Dann ist noch die Petersburger Gruppe zu erwähnen mit etwa 20 000 Seelen in 47 Kolonien, von denen 13 von den Auswanderern, die Katharina II. zur Besiedlung des Wolgagebietes berief, in den Jahren 1764—65 angelegt wurden.


Wenn wir im folgenden das Wolgagebiet herausgreifen, so geschieht das, weil es sich hier um die geschlossenste und älteste deutsche Siedlung im Innern des russischen Reiches handelt, die nicht nur in den 1½  Jahrhunderten vor dem Kriege ihre ausgeprägte Eigenart hatte, sondern die vor allem unter dem Bolschewismus zu Experimenten unerhörtester Art mißbraucht und dadurch auf einen Leidensweg, der seinesgleichen nicht hat, gestellt wurde. Zwingen die Machthaber Rußlands unsere Volksgenossen, diesen Weg weiter zu gehen, und wird ihnen die rettende Hand des eigenen Volkes sich nicht entgegenstrecken, dann muß dieser Weg im Abgrund, also mit völliger Vernichtung dieses zähen deutschen Volksstammes, enden. Was wir hier aber von der Not der Wolgadeutschen sagen, gilt in demselben Maße von den übrigen rußlanddeutschen Gebieten, wir können nicht glauben, daß unser Volk dauernd schweigen kann zu dem. was an unseren Volksgenossen in Sowjetrußland verbrochen wird, darum und nur darum wagen wir doch noch auf Abwendung des letzten furchtbaren Geschicks zu hoffen . . . Aus diesem Wagnis heraus werden wir nicht müde, auf den Todesweg unserer Landsleute hinzuweisen. Auch wenn nur ein Teil von ihnen gerettet werden sollte, hat diese Mühe sich gelohnt . . .


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