Geschichte der Wolgadeutschen

HEIMATLICHE WEITEN

SOWJETDEUTSCHE PROSA, POESIE UND PUBLIZISTIK

1983 № 2


Klemens Eck, geb. am 17. Dezember 1911 im Steppendorf Marienburg an der Wolga als Sohn eines Armbauern. Seit Anfang der 30er Jahre Lehrer und Dorfkorrespondent, dessen Bei­träge oft in der „Roten Jugend" und den „Nachrichten" erschie­nen. Seit 1935 Berufsjournalist. Während des Kriegs Mitarbeiter einer Betriebszeitung im Ural. Nach dem Krieg Journalist, seit 1957 Mitarbeiter der Zeitung „Neues Leben". Besonderer Be­liebtheit erfreuen sich seine zahl­reichen humorvollen Schwanke und Erzählungen. Lebt als Rentner in Tscheljabinsk.


Ktemens ECK

MIT GEZÜCKTER FEDER

(50 Jahre in der sowjetdeutschen Presse)

1

Man schrieb das Jahr 1924, als ich zum ersten Mal die Schwelle einer Dorfschule überschritt. Ich war zwar schon dreizehn, konnte aber nur mit Müh und Not lesen. Genaugenommen war es das Buchstabieren, worauf ich mich dank meiner Großmutter einigermaßen verstand. Vom Schrei­ben hatte ich überhaupt keine Ahnung.

Mein Banknachbar in der zweiten Klasse, in die ich trotzdem gleich aufgenommen wurde, sagte zu mir:

„In dr Schul werd net gbuchstawiert, do werd gleich glese..." Er schlug das Buch „Guck in die Welt" auf und las:

Ringsum, weit und breit
Wolgasteppenland
hat die heiße Zeit
nackt und kahl gebrannt...

Dann schob er mir das Buch zu: „Jetzt lese mol du!" Ich nannte einzelne Buchstaben und fügte sie zu Wörten zusammen. „Net doch, du mußt aan Buchstawe gleich an den anre ouhange!" Der Junge machte mir das wieder vor. Bald hatte ich die Sache heraus, lernte auch schreiben und wurde Mitte des Schuljahrs in die dritte Klasse versetzt. Gewiß hatte ich das vor allem unseren lieben Lehrern Alex­ander Schmidt, Johannes und Olga Kexel zu verdanken. Sie waren so gut zu uns, so tüchtig und lebensfroh, daß ich gleich vom Lehrerberui träumte — ich wollte auch mal so werden, wie sie es waren...

Nach der Bauernjugendschule machte ich einen Lehr­gang am Marxstädter Pädtechnikum durch und verließ ihn als „.. .klassenbewußter und mit guten Kenntnissen aus­gerüsteter" Lehrer der Anfangsschule. Doch mit dem Lehrerberuf hatte ich kein Glück. Auch ein Fortbildungs­lehrgang an derselben Lehranstalt hatte wenig an der Sache geändert, obwohl ich auch da gut abgeschnitten hatte und 1932 als Gesellschaftskundler an der unvollstän­digen Mittelschule zugelassen worden war. Im Dorf Ro­sendamm betätigte ich mich zugleich als Lehrer und als Schuldirektor, was mir nicht leichtfiel.

Nach zwei Jahren geschah es dann, daß ich meines Postens als Direktor enthoben wurde, weil die Leistungen der Schüler recht viel zu wünschen übrigließen. Begreif­lich, daß ich mich gar nicht wohl in meiner Haut fühlte und andere Pläne zu schmieden begann. Doch hier muß ich zurückblättern...

In unserem Steppendorf Marienburg wurde im Jahre 1927 unter reger Mitwirkung des Lehrers Alexander Schmidt eine Genossenschaft für gemeinsame Bodenbearbeitung gegründet. Mit der Zeit verwandelte sie sich in die Kollektivwirtschaft „Lenins Werk". Alexander Schmidt, ein Mann von umfangreichem Wissen und großer Tatkraft, wirkte damals an den Zeitschriften „Unsere Wirtschaft" und „Die Maistube" aktiv mit. Er verstand es, selbst die lese- und schreibekundigen Bauern für diese Blätter zu interessieren, las ihnen Artikel über Ackerbaukultur, Ge­nossenschaftswesen, aber auch aus den „Lustigen Ecken" vor. Wir älteren Schüler luden die Bauern zu solchen Tref­fen ein, und hörten uns die Diskussionen an. Eben damals machte ich den Versuch, für die Zeitungen „Rote Jugend" und „Nachrichten" zu schreiben. Anfänglich schrieb ich unter verschiedenen Pseudonymen — auf Anraten J. Vo­gels, eines sehr rührigen Verfechters der Kollektivierung und Korrespondenten aus dem Dorf Mannheim. Dieser Mann zeichnete seine Korrespondenzen stets mit „Freiheitskämpfer", kam oft nach Marienburg, um Material zu sammeln und Aktivisten für die „Nachrichten" zu wer­ben. Ich brauchte jedoch nicht lange zu einem Decknamen zu greifen: Die Kollektivierung verlief bei uns fast rei­bungslos, da es in Marienburg weder Kulaken noch ihre Anhänger gab.

Im März 1932 fand in Engels eine Beratung der Arbeiter- und Dorfkorrespondenten statt, zu der ich ebenfalls delegiert worden war. Während der Beratung wurden Korrespondentenbrigaden gebildet, die „Streifzüge" in staatlichen Einrichtungen durchzuführen und Erfolge und Mängel in deren Arbeit festzustellen hatten. Ich kam in die Brigade, die sich mit dem Volkskommissariat für Volks­bildung beschäftigte und von Harry Schnittke angeleitet wurde. In einer Korrespondenz, die in den „Nachrichten" erschien, legten wir unsere Eindrücke und Schlußfolgerungen dar. Bei dieser Arbeit hatte ich erstmalig richtig erfah­ren, wie man Zeitungsstoff sammelt und analysiert. Auf der Korrespondentenberatung lernte ich Gerhard Sawatzky, Andreas Saks, Johannes Rotärmel und andere spätere Arbeitskollegen und Freunde kennen. Mein Wunsch, Zei­tungsmann zu werden, wurde immer stärker.

Nachdem ich den Lehrerberuf quittiert hatte, wurde ich im Schweinezuchtsowchos „Rot Front", Kanton Marien­tal, Mitarbeiter der Politabteilung. Bald galt es, eine eigene Betriebszeitung herauszugeben. Wer sollte das aber ma­chen? Eines Tages sagte der stellvertretende Leiter für po­litische Massenarbeit, Grigori Jerkin, zu mir:

„Wie meinst du, Klim, könnten wir es nicht versuchen, unsere Zeitung doch herauszubringen, ich und du? Du sammelst Stoff und schreibst, und ich zeichne als verantwortli­cher Redakteur."

Jerkin wußte, daß meine Korrespondenzen ab und zu in den „Nachrichten" und der „DZZ" gedruckt wurden. Mein Aufgabenkreis in der Politabteilung war recht umfangreich, trotzdem sagte ich zu. Ich baute auf die Hilfe meiner Freun­de Heinrich Sittner, Oswald Dannecker, Ferdinand Leicht, David Lust und anderer Enthusiasten der schwungvollen sozialistischen Aufbauarbeit jener Jahre, und ich hatte mich in meiner Hoffnung nicht getäuscht. Unserem Blättchen gaben wir den schwerfälligen Namen „Kämpfer der Schweinezucht". Ich machte Jerkin mit dem Material ver­traut, indem ich es ins Russische übersetzte. Trotz meiner mangelhaften Russischkenntnisse — ich konnte da nur „patscheln" — war Grigori Petrowitsch sichtlich zufrieden: „Du machst es immer besser, Klim, ich vertraue dir voll­kommen, nur so weiter!" Und es ging wirklich weiter, ich war Redakteur geworden, wenn ich auch bloß Komsomolze war. Doch offenbar waren uns unsere Erfolge zu Kopf ge­stiegen...

Drei Schweinezüchter des Betriebs — Maria Kablowa, Heinrich Stürz und David Lust — waren für ihre Arbeits­leistungen 1936 mit Orden ausgezeichnet worden. Die Freude derer schlug im „Kämpfer der Schweinezucht" re­gelrechte Purzelbäume. Im Herbst erschien im Saratower „Kommunist" ein Artikel, in dem unser Blatt und sein Re­dakteur, aber auch andere Zeitungen und Redakteure, nach Noten heruntergeputzt wurden. Der Verfasser, und es war kein geringerer als Andreas Saks, kreidete uns Lobhudelei und mangelndes Taktgefühl an. Wir hätten, hieß es im Bei­trag, die Erfolge in der Arbeit nicht den Menschen, sondern dem Vieh selbst zugeschrieben.

„No sakrment, muß ich doch fluche, gucke mol do her, wos dr ,Patr Wutzki' iwr uns gschriewe hot", sagte ich zu Heinrich Sittner, unserem Schullehrer, und reichte ihm die Regionszeitung. Ich nannte Andreas Saks scherzeshalber „Patr Wutzki", weil sein Bühnenstück „Pater Wutzkis Höl­lenfahrt" in jener Zeit sehr populär war. „Siehste, wie's geht, wenn mr denkt, mr hätts an Kopp, do hot mrsch an Schwanz..." sagte Sittner, als er den Artikel las, und lief krebsrot an -- es ging darin auch um eine seiner Schöpfun­gen. Als er fertig war, wollte er sich totlachen, denn wir hatten in unserer Zeitung Tiere „denken", „diskutieren" und andere ihre geistigen Potenzen übersteigende Dinge machen lassen. Andreas Saks hatte uns mit Fug und Recht durch den Kakao gezogen. Wir überlegten es uns ordentlich und schrieben uns manches hinters Ohr.

Der Nasenstüber veranlaßte mich, meine Zeitungsarbeit kritisch unter die Lupe zu nehmen. Ich nahm mir vor, hart­näckig zu lernen, mit Bedacht und Akkuratesse an die jour­nalistischen Aufgaben heranzugehen.

2

Im April 1937 — unser Sowchos „Rot Front" gehörte nun dem neugegründeten Kanton Lysanderhöh an — wur­de ich in die Kantonzeitung „Rote Fahne" berufen, wo ich auch über ein Jahr als Redaktionssekretär arbeitete. Hier wurde ich Mitgliedskandidat der KPdSU (B). Da ich Ange­stellter war, mußte meine Aufnahme vom Büro des Gebiets­parteikomitees bestätigt werden, so lautete damals eine Regel des Parteistatuts. Offengestanden, war es mir bei dem Gedanken nicht ganz wohl zumute, daß ich mich dort eines Tages einzustellen hatte, und zwar aus folgendem Grund: Eugenia Herr, Chefredakteur der „Nachrichten", versuchte schon seit längerer Zeit, mich für ihre Redaktion zu gewinnen. Meine Frau wollte jedoch vom Leben in einer Stadt nichts wissen. Also lehnte ich das Angebot ab. Um es kurz zu fassen: In der Bürositzung des Gebietsparteiko­mitees sagte der erste Sekretär Jakob Popok:

„Genosse Eck, werden Sie auch weiter am Schwanz ihrer Kuh und am großen Krautständer kleben, wenn wir Sie als Redaktionssekretär für die ,Nachrichten' empfeh­len?" Ich wäre am liebsten in den Boden versunken. Woher kann der wissen, daß ich am Kuhschwanz klebe? Ach ja, die gute Herr hat ihn aufgeklärt! Vor Verlegen­heit rot geworden, antwortete ich:

„Nein, Jakob Abramowitsch, ich werde nicht mehr dar­an kleben, ich habe mir schon so manches überlegt..." Das war im März 1938. Im Juni kam Eugenia Herr mit ihrem „Emka"-Wagen in die „Rote Fahne"-Redaktion an­geprescht, händigte mir einen Auszug aus dem Beschluß des Gebietsparteikomitees ein, informierte den Redak­teur der Zeitung Heinrich Schäfer, und los ging es — nach Engels. So hatte Eugenia Moissejewna den trauten „Kuhschwanz" abgehackt...

Diese Frau hat es zweifellos verdient, daß ich über ihre fachlichen und menschlichen Qualitäten ein paar Worte sage. Eugenia Moissejewna hatte ein umfangreiches Wis­sen, war sehr leutselig und kontaktfreudig, verehrte leiden­schaftlich das Pressewesen und die Literatur, konnte junge Menschen für jede noch so schwere Aufgabe begeistern. Sie unterhielt rege Verbindungen zu Gerhard Sawatzky und Andreas Saks, zu den jungen Dichtern Edgar Eurich, Woldemar Leonhardt und anderen, die an der Zeitung mitarbeiteten, forderte sie auf, schöne, ergeifende Gedichte für die Literaturseite des Blattes zu schaffen. Als Ger­hard Sawatzkys Roman „Wir selbst" zum Druck vorberei­tet wurde, las sie das Werk mit unvermindertem Interesse und schrieb ein Vorwort dazu.

Eugenia Herr war Delegierte des III. Komsomolkon­gresses und lernte dort Wladimir Iljitsch Lenin persönlich kennen. Nach dem Großen Vaterländischen Krieg wurden ihre Erinnerungen an jene Zeit in der „Komsomolskaja Prawda" veröffentlicht.

Nun war ich Redaktionssekretär. Ein Zeitungsmann weiß, was der „Stangengaul" der Redaktion alles zu tun hat. Von seinen organisatorischen Fähigkeiten, seiner Rührig­keit und Sachkenntnis, seinem Elan und Weitblick hängt ab, wie das ganze „Getriebe" einer Tageszeitung funktio­niert. Mein Einsatz in den „Nachrichten" war für mich also eine ernste Prüfung. Er war eine harte Nuß, die es zu knacken galt. Meine Erfahrungen auf diesem Gebiet waren aber kärglich. Trotzdem kam ich recht schnell „auf die Spur". Eine feste, zuverlässige Stütze waren für mich da­bei Robert Pretzer, David Wagner, Edgar Eurich, Emanuel Spieker und andere Kollegen. Auch sie waren alle noch sehr jung, doch schon seit längerer Zeit in den „Nachrich­ten" tätig.

Anfang 1939 bekamen wir einen neuen Chefredakteur, Tatjana Alexandrowna Fadejewa, und zwei neue Stellver­treter des Chefredakteurs, Arnhold Rauschenbach und Ro­bert Pretzer. Ein neuer Leiter ist gewöhnlich bemüht, die Arbeit des ihm anvertrauten Kollektivs zu vervollkommnen und neue Wege zu gehen. Auch hier war das der Fall...

Tatjana Fadejewa und Arnhold Rauschenbach hatten zu gleicher Zeit die „Rote Professur" in Moskau absolviert, kannten sich in Politik und Philosophie, Kultur und Kunst gut aus, die Journalistik dagegen war für sie in vieler Hin­sicht Neuland. Auch in der Landwirtschaft, die in unserer Gegend vorherrschte, fanden sie sich anfänglich nicht ganz zurecht. Nichtsdestoweniger vermochten sie, einen neuen Arbeitsstil in der Redaktion einzubürgern. Dazu gehörten vor allem die Planung auf weite Sicht und die Beleuchtung aktueller Fragen der politischen, wirtschaftlichen und so­zialen Entwicklung in der ASSR der Wolgadeutschen. Auch sprachlich waren sie gut beschlagen. Auch Pretzers Beför­derung zum stellvertretenden Chefredakteur — er war zuvor Redakteur der Seelmanner Kantonzeitung „Kollekti­vist" und später Leiter der Abteilung Parteileben in den „Nachrichten" — erschien als durchaus begründet: Er wußte in Landwirtschaft, Parteileben und Kultur Bescheid und zeichnete sich durch organisatorische Fähigkeiten aus. Auf seine Anregung wurde von Tatjana Fadejewa in der Redaktion ein Zirkel zur sprachlichen Weiterbildung ge­gründet, in dem Dominik Hollmann als Sprachlehrer fun­gierte. Robert Pretzer sorgte unter anderem auch dafür, daß ich in den „Nachrichten" schnell „einfuhr".

Ja, jeder Tag hat eben seine Plag. In einer Tageszei­tung kann nichts auf die lange Bank geschoben werden, und wenn es auch „Kuhplattr" regnet. Die in den einzel­nen Abteilungen angefertigten Manuskripte müssen ter­mingerecht abgeliefert werden, damit der Chefredakteur und der Redaktionssekretär sie lesen können. Leider kom­men da Pannen vor. Von einer will ich hier erzählen.

Einmal kommt Konrad Körber, Leiter der Abteilung Industrie und Transport, ins Sekretariat und legt mir einen Artikel vor.

„Ich habe die Sache umgearbeitet, Klemens, aber jetzt Schabasch!" sagte er, seine Stummelpfeife in Brand set­zend. „Du kennst meinen Standpunkt in dieser Frage nicht..." Ich las den recht langen Artikel nochmals. Es ging darin um den Eisenbahnknoten Anissowka, der in letzter Zeit mit großen Unterbrechungen die Waggons für das Engelser Fleischkombinat bereitstellte. Die Ur­sachen wurden jedoch nicht aufgedeckt, die Schuldigen beim Namen nicht genannt. Auch die Begleitumstände wa­ren oberflächlich geschildert.

„Deinen Standpunkt kenne ich vielleicht wirklich nicht, Konrad", entgegnete ich, „dafür sind mir die Aufgaben unserer Zeitung, ihr Standpunkt bekannt. Man muß den Artikel kürzen, die Hauptfrage konkret behandeln, den Mängeln auf den Grund gehen, die ,Habakuks' nennen, die alles am Schwanz herumschleppen. Doktr noch e bisje drourom."

„Ja, du bist ewe dr Gendarm, net weniger!" rief Körber gereizt, packte das Material und schlug die Tür hinter sich zu. Emanuel Spieker, Literatursekretär, lachte, daß die Fensterscheiben klirrten. Mir aber verschlug es den Atem. „Dich soll owr doch, norwigr Deiwl!" Mit diesen Worten eilte ich zu Tatjana Fadejewa, die ich schon als gerechte, willensstarke, freundliche und hilfsbereite Leite­rin kannte.

„Der Konrad hat mich ,Gendarm' genannt, der..."

Aber auch Tatjana Alexandrowna lachte, während ich „flatterte".

„Na, Klemens", sagte sie, „der hat doch nur Spaß ge­macht. ,Gendarme' gibt es keine mehr bei uns..."

„Stimmt", antwortete ich, „aber der Konrad ist ein..." und, mir schlüpfte ein recht unanständiges russisches Schimpfwort aus dem Munde. Tatjana Alexandrowna schüttelte mißbilligend den Kopf. Das Blut schoß mir ins Gesicht, und ich retirierte beschämt zur Tür. Auch heute noch denke ich mit Unbehagen daran. Dabei war die Be­deutung des Schimpfnamens, den ich Körber „angehängt" hatte, mir nicht geläufig. Das begriff ich später. Von da an war ich vorsichtig im Gebrauch von Wörtern, deren Sinn mir nicht klar genug war. Trotz dieser peinlichen Begeben­heit blieben Konrad Körber und ich gute Freunde, aber das Vorgefallene gab uns beiden zu denken.

Zu Beginn des Jahres 1940 kam Harry Schnittke wie­der in die „Nachrichten" zurück, nachdem er eine Zeitlang im Gebietsradio gearbeitet hatte. Das war ein Mann, der viel wußte und konnte. Außerdem waren ihm große Ar­beitslust und Hilfsbereitschaft eigen. Obwohl parteilos, ar­beitete er in der Propagandaabteilung. Seine Beiträge wa­ren stets von echter Parteilichkeit und kommunistischem Geist durchdrungen. Bereits während der Kollektivierung und Entkulakisierung trat er mit Artikeln hervor, die zur Aufklärung und Erziehung der Bevölkerung erheblich bei­trugen. Wenn er seinen Namen nicht verlautbaren wollte, dann mußte sein Pseudonym „HaSe" herhalten.

Ungefähr zur gleichen Zeit kam auch Herbert Henke nach Absolvierung der pädagogischen Hochschule in un­sere Redaktion. Seine Aufgaben waren mit der Literatur verbunden. Er selbst schrieb oft Gedichte, die in „Nach­richten", „Rote Jugend" und „Junger Stürmer" erschienen.

Morgens, wenn ich zur Arbeit ging, traf ich oft Adolf Leichtling und August Lonsinger. Beide arbeiteten als Redakteure im Deutschen Staatsverlag, der sich in dem Gebäude befand, wo auch die Zeitungsredaktionen unter­gebracht waren. August Lonsinger war damals schon an die 60 Jahre alt. Sich vorwärtsbewegen konnte er nur mit Hilfe eines Krückstocks: Seine Beine waren krank und bereiteten ihm starke Schmerzen. Seine Devise blieb aber, nach wie vor „Nor net lopper g'gewal" Eines Tages sagte ich zu den beiden Männern:

„Wißtr wos, Fadejewa hot mir vrzählt, ihr Brudr Alex­ander Fadejew wollt s nächste Johr uf Bsuch zu ihr komme."

„Wohl wirklich?" sagte Lonsinger, „das wäre interes­sant. Vielleicht könnte sein Aufenthalt hier auch unserer Literatur zugute kommen. Fadejew ist doch Sekretär des Schriftstellerverbandes der UdSSR...“

Adolf Leichtling lächelte. „Das wäre eine Freude nicht nur für die Literaturschaffenden", sagte er, „sondern für die ganze Republik..."

Ja, es wäre gewiß eine große Freude für uns gewesen, wenn Alexander Fadejew 1941 zu uns gekommen wäre, denn er hatte seiner Schwester versprochen, auch seine Frau, Alla Tarassowa, eine beliebte hochgeschätzte Schauspielerin, für diesen Besuch zu gewinnen.

Tatjana Fadejewa hatte mir damals auch einzelne Episoden aus dem Leben ihres Bruders Alexander erzählt, unter anderem auch darüber, wie er mit zwanzig Jahren grau geworden war.

1921 fand der X. Parteitag der KPdSU (B) statt. Gera­de zu dieser Zeit zettelten die Konterrevolutionäre in Kronstadt einen Aufstand an. Der Parteitag forderte seine Teil­nehmer auf, nach Kronstadt zu gehen und der Roten Armee bei der Zerschlagung der Meuterei zu helfen. Alexander Fadejew nahm auch am Parteitag teil. Im Kampf wurde er verwundet und sank bewußtlos zu Boden. Auf ihn fielen andere Verwundete und Tote, so daß er kaum noch atmen konnte. Nach etwa vierundzwanzig Stunden wurden die Verwundeten und Gefallenen geborgen, und Fadejew kam zu sich. Aber sein Haar war inzwischen grau geworden. Davon wußten wir alle nichts...

1940 wurde den Gebietszeitungen gestattet, Eigenkor­respondenten in den größten und wichtigsten Rayons zu haben. Für die „Nachrichten" kamen fünf Kantons in Fra­ge: Marxstadt, Seelmann, Mariental, Unterwalden und Frank. Eigenkorrespondenten wurden Karl Welz, ich, Alois Schmidt, Reinhold Wagner und Johannes Fahrenbruch. Dieser Einsatz ging mir ein bißchen wider den Strich, hatte ich mich doch in Engels in jeder Beziehung schon ganz gut eingelebt. Aber Tatjana Fadejewa sagte:

„Seelmann ist beinahe eine Stadt, liegt an der Wolga, hat eine Anlegestelle. Und das Wichtigste, Klemens: Als Eigenkorrespondenten können nur Journalisten arbeiten, die den Aufgaben der Sowjetpresse, den Zielen und Erfor­dernissen unseres sozialistischen Aufbaus gerecht werden, Menschen, die objektiv einschätzen können, ob die örtli­chen Partei-, Staats- und Wirtschaftsorgane richtig han­deln und alles tun, um die Aufgaben des dritten Fünfjahrplans zu erfüllen..."

Ich seufzte. So ein Umzug ist keine ergötzliche Ange­legenheit, zumal man nicht mehr allein ist — wir hatten schon unsere vier Kinder. Aber natürlich willigte ich ein.

...Ende Mai 1941 wurde mit dem Bau des Engelser Irrigationssystems auf der Wiesenseite der Wolga begonnen. Die Bauorganisation hieß „Engelsstroi" und wurde von einem Baurat geleitet, an dessen Spitze Georg Brandt, ein tüchtiger Organisator und glänzender Redner, stand. Auf seine Initiative hin wurden an der Trasse die Kolchos­bauern, sobald sie zum zeitweiligen Einsatz am Bauvorha­ben eingetroffen waren, zu Meetings zusammengerufen. Manchmal fanden sich 6500 bis 6700 ein. Im sozialisti­schen Wettbewerb wurden hohe Verpflichtungen übernom­men. Es ging damals fast nur um Erdarbeiten, nur an der zweiten Pumpstation bei Ternowka liefen schon Betonierungsafbeiten. Die Gebietszeitungen „Nachrichten" und „Bolschewik" erhielten den Auftrag, eine Tageszeitung in Kleinformat in deutscher und russischer Sprache heraus­zugeben, die über das Bauvorhaben zu berichten hatte. Re­dakteur des „Stachanowarbeiter des Engelsstroi" wurde Robert Pretzer, seine Stellvertreterin — Anna Lossewa. Harry Schnittke, Wladimir Wodopjanow, Alexander Semjonow und ich wurden Mitarbeiter des Blattes.

Wenn ich jetzt an diese Arbeit zurückdenke, kommt jedesmal eine gehobene Stimmung über mich. Ich blättere in ein paar Zeitungen, die sich bei mir wie durch ein Wunder erhalten haben, und sehe meine Freunde aus der Re­daktion, Kolchosbauern und Parteiarbeiter vor mir. Es war für uns Zeitungsleute kein Honiglecken dort am Irrigationsbau, genau wie es für die Kolchosbauern keins war. Aber es war uns eine Herzensangelegenheit, ein Bauvor­haben, das uns von einer lichten Zukunft träumen ließ. Allen 22 Kantonen waren Bauabschnitte zugeteilt worden, und wir waren stets „in Fahrt", ich persönlich oft von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Und wenn ich dann meine Korrespondenzen geschrieben und Robert Pretzer übergeben hatte, sagte er belustigt:

„Na, Klemens, bei dir geht s Artikelschreiwe, wie bei dr Sau s Ferkele..." Schnittke lachte, daß ihm die Tränen ka­men, ich lachte natürlich auch.

„Wie wolle mir dann anrsch fertig wern", erwiderte ich, „du sehst jo, wie lang dr Kanal is un wieviel Mensche un ihre Arweit do zu bschreiwe sein..." Ja, da mußte „gstramplt" werden.

Spätabends, als das Tagespensum erledigt war — Schnittke mußte dabei oft Korrespondenzen ins Russische und ins Deutsche übersetzen — fielen wir in unseren Zel­ten auf die Klappbetten hin, ohne sogar Abendbrot geges­sen zu haben. Der Schlaf übermannte uns sofort. Sehr pro­duktiv arbeitete unser Fotokorrespondent Johannes Wilhelmi, ein rastloser Zeitungsenthusiast und vortrefflicher Meister seines Fachs. Wenn ich mir heute seine Zeitungsfotos ansehe, habe ich jedesmal feuchte Augen — „Iwan Iwanytsch" steht wie eh und je mit seinem Fotoapparat über der Schulter, erklärt, wie er sich diese oder jene Aufnahme denkt, und lächelt mir fröhlich zu...

Die Kolchosbauern arbeiteten mit solchem Schwung, daß sie täglich bis zu 43000—45000 Kubikmeter Erde aushoben, am Kanal entlang aufbetten und auch noch fest­stampfen konnten. Dabei gab es damals keine Straßenwal­zen; oft wurden sogar Dreschsteine zum Stampfen benutzt. Viele Männer und auch Frauen hoben täglich 8 bis 10 Kubikmeter Erde aus, während die Tagesnorm 4,96 Kubikme­ter betrug.

Damit der Leser die Atmosphäre am Kanalbau besser zu spüren bekommt, sei folgende Korrespondenz angeführt. Die handelnden Personen sind Mitglieder der Brigade aus dem Dorf Herzog, Kanton Mariental.

GESPRÄCH AM STANDORT

Nach dem Mittagessen steckten die Kolchosbauern ihre Pfeifen in Brand und ruhten aus. Die Arbeit am Kanal ist nicht leicht, aber wie dankbar wird sie sein! Wenn das Wolgawasser mal durch diese gro­ßen und kleinen Kanäle fließen wird und die Felder noch hübscher blühen werden, können die Kolchosbauern nicht umhin, sich an diese ihre Arbeit zu erinnern. O ja, werden sie sagen, auch ich trug mein Scherflein hierzu bei und half diesen Abschnitt in fruchtreiches Feld zu verwandeln...

„Genosse Terre! Sage mal, was wir gestern geleistet und verdient haben", wandte sich ein Kolchosbauer an den Tabellenführer.

„Ludwig Junker hob 18 Kubikmeter Erde aus und erarbeitete 8,84 Arbeitseinheiten; dasselbe tat auch Peter Remme..."

„Das ist eine Leistung, das ist ein Verdienst!" rief begeistert ein junger Kolchosbauer.

„...Lydia Hergert hob 13,5 Kubikmeter aus und verdiente 6,4 Ar­beitseinheiten", fuhr Terre fort, „und Melchior Linneberger hob 17 Ku­bikmeter Erde aus..."

Die Kolchosbauern erhoben sieh und setzten sich um den Tabellenführer herum, der seine Information fortsetzte.

„Möchte ich doch wissen, wie die eine solche Leistung erreichen!" rief wieder der junge Kolchosbauer, „acht—neun Kubikmeter, das be­greife ich noch, so viel hebt fast jeder aus, aber siebzehn — das ist sehr viel!" Er überblickte seine Kollegen.

„Genosse Linneberger, erzähle mal, wie du solche Leistungen er­reichst", wandte sich der Brigadier Dinkel an einen älteren Mann. Und Linneberger antwortete:

„Mir scheint, man muß gleichmäßig, ich möchte sagen fließend ar­beiten. Wenn mich jemand beobachtet, könnte er sogar sagen: Wie langsam ist doch dieser Mann! Wie erfüllt er nur seine Aufgabe? Das wäre aber nicht richtig geurteilt. Man darf nicht so hasten und flat­tern, daß man nach zehn Minuten schon atemlos nach Luft schnappt, wie das zum Beispiel Ewald Schätz tut..." Linneberger zeigte mit der Pfeife auf einen starken Jungen, der neben ihm saß. Der Junge wurde ein wenig verlegen. „Ich will dich nicht tadeln, Schätz", fuhr Linneberger fort, „du hast nicht wenig ausgehoben, ich meine acht Kubik­meter. Aber ich muß sagen, daß du mit deinen ,Forteln' keine große Leistung erreichen kannst. Fünf bis zehn Minuten lang steht um dich herum eine mächtige Staubwolke, aber dann ruhest du eine halbe Stun­de lang aus... Dann muß ich sagen, daß eine große Bedeutung selbst der Schippe zufällt: Der Stiel muß länger and die Schaufel breiter sein; auch die Schärf- und Wetzinstrumente, z. B. die Feilen, müssen im­mer zur Hand sein, die Schippe muß doch spitz und scharf sein! Dann dringt sie tief in die Erde ein." Linneberger zündete wieder seine Pfei­fe an und fuhr fort:

„Im vorigen Jahr arbeitete ich am Bauvorhaben im Dorfe Luis am Luisstroi, wie man sagt, wo Erdgas entdeckt wurde. Eines Morgens schärfte ich meine Schippe und ging früh zur Baustelle, ich wollte mal probieren, wieviel Erde man ausheben kann, wenn man will. Die Arbeit flutschte nur so, der Spaten fuhr bis ,über die Ohren' in den Boden. Am Abend kamen die Kontrolleure, stellten ihre Messungen an und sag­ten dann: .Weißt du, Melchior, wieviel Erde du heute ausgehoben hast? Vierundzwanzig Kubikmeter!' Das war meine Rekordleistung."

Der ältere Mann schloß seine Information — es war Zeit, an die Arbeit zu gehen.

Die Kolchosbauern erhoben sich und verließen mit heiterem Ge­spräch das Zelt. Der Wind stürmte gegen den gelben Erddamm, und der Staub flog ihnen ins Angesicht. Aber sie gingen ihres Weges, machten keinen Halt. Am Magistralkanal nahmen sie neben Hunderten anderen Kolchosbauern ihre Plätze ein, um ihre Herzensaufgabe zu erfüllen. Unter ihnen war auch der junge Ewald Schätz; jetzt bemühte er sich, gleichmäßig, fließend zu arbeiten. Ein harter Druck auf den Spaten und er drang tief in die Steppenerde. Der „Nasenstüber" des alten Linneberger war für ihn von Nutzen...

Klemens Eck

(„Stachanowarbeiter des Engelsstroi" vom 5. Juni 1941)

Ähnliches war in vielen Brigaden während der Ruhe­pausen zu beobachten. Zurückbleibende Brigaden, Kol­chosvorsitzende und Leiter der Kantonebene wurden schar­fer Kritik unterzogen. Das trug zum rechtzeitigen Abschluß der Bauarbeiten, und zwar am 20. Juni, bei. Manche Kol­lektivwirtschaften und Kantone wurden sogar am 13. bis 15. Juni fertig. Die Kolchosbauern waren sehr stolz auf ihre Leistung, verbargen nicht ihre Freude.

In der Reportage „Als sie Abschied nahmen", die in den „Nachrichten“ und im „Stachanowarbeiter des Engels­stroi" am 15. Juni erschien, hieß es darüber:

„Als der Vorsitzende der Kollektivwirtschaft, Genosse Bien, gesprochen hatte, forderten die Kollektivbauern, daß der Brigadier Genosse Damsin spreche. Ihm fällt es aber schwer, er ist überhaupt etwas schüchtern, und heute sind auch noch die Kantonleiter in der Versammlung anwesend. Aber die Kollektivbauern fordern ihn auf.

,Genossen Kollektivisten! Wir sind fertig und ziehen zurück in unsere Kollektivwirtschaft. Aber...' Damsin hielt inne. ,Ich will bloß sagen, daß wir nicht heimkehren, um zu ruhen, sondern um unsere Arbeit im Kolchos so wei­terzumachen, wie wir hier gearbeitet haben. Wir haben viel Arbeit und müssen den ersten Platz auch weiterhin be­haupten...’

Die Kollektivbauern klatschten in die Hände. Das Blas­orchester spielte einen Marsch. Die Musikklänge verloren sich in der weiten Steppe, und da war einem so wohl zu­mute, daß in der vor kurzem noch unbelebten Wolgasteppe fröhliche Musik erklingt, daß Tausende von Kollektivbauern energisch an einer so erhabenen Sache bauen, als ob sie alle aus einer einheitlichen Bruderfamilie seien.

,Ihr habt gut gearbeitet, Genossen', sagt der Vorsitzende des Vollzugskomitees des Lysanderhöher Kantonso­wjets, Genosse Meißner. ,2156 Kubikmeter Erde habt ihr in neun Arbeitstagen ausgehoben, und die Bauleiter haben die Arbeit als ,ausgezeichnet' anerkannt. Dafür haben wir euch auch die Rote Ehrenfahne des Kantonparteikomitees und des Vollzugskomitees zugesprochen. Kämpft auch daheim in eurer Kollektivwirtschaft so, dann werdet ihr stets die Vordersten sein.'

Nach der Versammlung spielte das Orchester noch einige Walzer und Polkas, und die Kollektivbauern schwenkten sich froh im Kreise. Am Standort der Brigade fuhren drei Lastautos an. Sie waren mit Fahnen und Lo­sungen geschmückt. Die Kollektivbauern bestiegen die Automobile und fuhren langsam vom Standort der Irriga­tionsbrigade.

,Auf Wiedersehen, Genossen!' riefen sie den Kollektiv­bauern zu.

,Auf Wiedersehen, Genossen!'

Die Mädchen stimmten ein wolgadeutsches Volkslied an und winkten zum Abschied mit ihren Taschentüchern."

Eine Woche später brach der Krieg aus. Viele, die beim Bau des Bewässerungsnetzes in der Wolga-Steppe mitge­macht hatten, trafen sich im Hinterland wieder — um Wer­ke zu errichten, Metall zu schmelzen, Kohle zu fördern, Eisenbahnen zu verlegen, Holz zu fällen, kurz, um den Sieg über das faschistische Deutschland mitzuschmieden.

3

Mitte April 1942 kam ich nach Tscheljabinsk zum Ein­satz an der Arbeitsfront. Zunächst arbeitete ich in einer Brigade, die Lagerräume für evakuierte Betriebsausrüs­tungen baute, dann wurde ich Buchhalter in der Verwal­tung „Stroimechanisazia".

Doch die Feder eines Zeitungsmannes wollte ich nicht aus der Hand lassen.

Als am 1. Mai 1942 die Zeitung „Sa stalinski metall" als Ausgabe der Politabteilung von „Tscheljabmetallurgstroi" erschien, erwachte in mir sofort der Wunsch, über Menschen zu berichten, die vom ersten Kriegstag an auf dem Bauplatz mit voller Hingabe die Voraussetzungen da­für mitschufen, daß dem faschistischen Ungeheuer das Rückgrat gebrochen wurde. Sehr bald konnte mein Wunsch in Erfüllung gehen. In der Korrespondenz „Selbstloser Einsatz" schrieb ich im Juli 1942:

„Der Dreher Emil Mertens stand an seiner Maschine und hörte dem Mann zu, der über die Bedeutung unseres Bauvorhabens und die Rolle der Stachanow-Arbeiter in der bevorstehenden Stoßarbeitdekade sprach.

,Unsere Heimat macht schwere Tage durch, wir müssen ihr besser helfen, damit der unverschämte Feind möglichst bald zerschlagen wird', sagte Mertens spontan zu seinen Arbeitskollegen, ,der Mensch da hat recht, wir können und müssen besser arbeiten.'

Bald darauf trat Emil Mertens eine Nachtschicht an und entschloß sich, sie als Stoßschicht zu arbeiten. Er machte sich mit seinem Auftrag vertraut, besorgte sich die nötigen Werkzeuge und setzte seine Maschine in Gang. Der Meißel fraß sich in den Stahlbarren ein, die Späne kräuselten sich wie Tannenbaumflitter zu Boden. Emil fertigte ein Werk­stück nach dem anderen an und stapelte sie neben der Werkbank auf. Er erfüllte diesmal sein Soll mit 250 Pro­zent.

Einmal, es war Ende Juni, ging Mertens in die Rote Ecke des Bautrupps, blätterte dort in den Zeitungen und stieß auf den Artikel Michail Scholochows „Die Wissen­schaft des Hasses". Als er den Artikel gelesen hatte, war­er zutiefst erschüttert. Auf seinem Arbeitsplatz erschien er, erfüllt von glühendem Haß gegen den verdammten Feind und von heißer Liebe zu seinem Heimatland.

Am Morgen sagte der Meister: ,Sie haben sich tüchtig ins Zeug gelegt, Genosse Mertens. Ihre Leistung beträgt 401,8 Prozent des Schichtsolls. So müssen wir immer arbeiten...'

Emil Mertens schaffte seine Norm in der Stachanow-Stoßdekade mit durchschnittlich 270 Prozent, was ein mitreißendes Beispiel für viele war."

Ich schrieb über Erdarbeiter, Zimmerleute, Elektro­schweißer, die es im Schweiße ihres Angesichts auf 250 bis 350 Prozent Normerfüllung brachten, über unsere mecha­nische Werkstatt, die das Bauvorhaben mit Bolzen, Schrauben und anderen Teilen reibungslos zu versorgen hatte und mit dieser Aufgabe in Ehren fertig wurde.

Im Mai 1943 wurde ich, für mich ganz unverhofft, in die Politabteilung des Bauunternehmens eingeladen. Ihr Leiter Abram Woronkow sagte zu mir:

„Der Redakteur unserer Zeitung möchte Sie in der Re­daktion als Mitarbeiter haben. Sind Sie einverstanden?" Mir pochte das Herz, wie wenn jemand darin mit dem Ham­mer „hantierte". Der Redakteur Wassili Bobylew zwinkerte mir zu, was soviel wie sage „ja" bedeuten sollte.

„Natürlich, mit Freude", erwiderte ich. „Ich hab' die Zeitungsarbeit sehr gern."

So wurde ich Mitarbeiter der Bauarbeiterzeiturig. Sie erschien zweimal wöchentlich auf vier Seiten, so daß wir reichlich zu tun hatten. Dort, wo früher außer Stock und Strauch nichts zu sehen war, erhoben sich jetzt zahlreiche Bauobjekte des künftigen Hüttenwerks, das Qualitätsstahl für Panzer und andere Waffen liefern sollte. Von Anfang an galt es, enorme Schwierigkeiten zu überwinden. In der Waldsteppe gab es weder eine Eisenbahnlinie noch son­stige Zufahrtswege, weder Obdach noch Trinkwasser. Die Bauleute mußten Schnee schmelzen und eine Art Erdkessel zur Speicherung von Tauwasser ausheben. Gleichzeitig wurden artesische Bohrungen niedergebracht. Im Som­mer 1942 hatte bereits jeder Bautrupp eine normale Was­serquelle.

Ende 1943 arbeiteten am Bauvorhaben rund 44000 Mann, darunter etwa 24000 Sowjetdeutsche.

Der Leiter des ganzen Bauvorhabens A. N. Komarowski schrieb später in seinen „Aufzeichnungen eines Bau­fachmanns":

„Wenn ich mich an die Arbeit von ,Tscheljabmetallurgstroi' erinnere und sie analysiere, so möchte ich hervorhe­ben: Daß die von der Partei und Regierung gestellten Auf­gaben erfolgreich erfüllt wurden, ergab sich nicht nur aus dem allgemeinen Enthusiasmus und dem Bestreben, mög­lichst schnell Stahl für die Front zu liefern, sondern auch aus der frontähnlichen Ordnung, die auf der Baustelle herrschte. ,Befehl ist Gesetz' — dies war keine leere Phrase, sondern der allumfassende Arbeitsstil."

Viele leisteten hier weit mehr, als man ihnen überhaupt zumuten konnte. Als Mitarbeiter der Lokalzeitung hatte ich die Möglichkeit, alle Bauabschnitte zu besuchen, wo ich wahren Helden der Arbeit und flammenden Patrioten der Sowjetunion auf Schritt und Tritt begegnete.

Beim Bau der Elektroschmelzhalle traten die Schweißer Jakob Knorre und Andrej Wenz eine zehntägige Stachanowarbeitswacht an und erfüllten ihr Schichtsoll zu 250 bis 350 Prozent. Der erstere ging einmal 15 Stunden lang nicht vom Bauplatz, als es darum ging, den von Kollegen einer anderen Bauabteilung verschuldeten Ausschuß zu be­seitigen. Die Baggermaschinisten Nikolai Istschenko, Andrej Gajewoj, Ambros Becker, Michail Pronin, Johannes Kußmaul, Alexander Schwab sorgten mit ihren längst veralteten Dampfkessel-Baggern für die rechtzeitige Ver­ladung riesiger Mengen Schotter, Sand, Kies und anderer Baustoffe, wobei sie oft zwei Schichten ohne „auszuspan­nen" fuhren. Hingebungsvoll arbeiteten die Maurer und Verputzer. Wassili Stepanow, Alexander Kuhn und Eduard Grünwald schafften in einer Schicht bis zu vier Tagesauf­gaben. Ludwig Werner aus dem mechanischen Reparatur­werk sagte jeden Montag eine Stachanow-Arbeitswacht an. Seine Leistung beim Zerkleinern der Gußbarren war acht bis zehnmal so hoch, als die Norm vorsah. „Jeder Hieb mit meinem Hammer ist ein Sargnagel für die faschistischen Barbaren", sagte er oft.

Dieser Arbeitselan trug bald Früchte: Am 19. April 1943 lief die Arbeit in der ersten Stahlschmelzhalle mit drei Öfen an; das bedeutete noch mehr Geschosse gegen die faschistischen Eindringlinge. Und im Mai des nächsten Jahres war die erste Baufolge des Hüttenwerks — ein Komplex aus Hochofen, Kokerei, Walzstraße, Wärmekraft­werk und Dutzenden Hilfsbetrieben — betriebsfertig.

Die Parteiorganisationen der Bautrupps waren, stets ihren Aufgaben gewachsen. 800 Kommunisten und über 900 Komsomolzen gingen überall mit gutem Beispiel vor­an, sorgten für effektive parteipolitische Massenarbeit, für die Aufrechterhaltung des patriotischen Bewußtseins der Bauleute, ihren selbstlosen Einsatz auf der Baustelle, für hohe Arbeitsdisziplin und Ordnung.

Ich kann mich noch ganz gut an die Parteisekretäre der größten Bautrupps erinnern, weil ich gern und oft dorthin kam, um Material über die aktivsten Kommuni­sten und Parteilosen für unsere Zeitung zu sammeln. Es waren Friedrich Dümel und Reinhold Loretz, Valentin Waimer und Eduard Großbach. Die beiden ersten leben noch. Friedrich Dümel war in der Nachkriegszeit in der Zeitung „Prawda Wostoka" als Leiter der Abteilung Parteileben tätig. Reinhold Loretz leitete jahrelang das Gewerkschafts­komitee des Bautrusts „Jushuralspezstroi" und wirkte dann als stellvertretender Chef einer Bauverwaltung. Heute sind sie schon im Ruhestand, stehen aber als Kommunisten von echtem Schrot und Korn nach wie vor ihren Mann. In der Kriegszeit kamen sie kaum dazu, mehr als vier, fünf Stun­den zu schlafen: tagsüber besuchten sie die Baustellen, abends wurden Versammlungen abgehalten, Aussprachen, Dispute durchgeführt. Und natürlich wandten sie viel Ener­gie auf, um die Politschulung wirksam zu organisieren.

 

Die Parteiorganisationen bildeten Agitbrigaden, bauten die Laienkunst auf, halfen, Kunstwerkstätten einzurichten, gaben Wandzeitungen heraus, in denen hervorragende Arbeitsleistungen propagiert wurden. Mit einem Wort, es gab alle Hände voll zu tun. Auf Anregung der Kommuni­sten spendeten die Bauleute 5 254 426 Rubel für den Bau einer Panzerkolonne und von drei Flugzeugen, den Solda­ten und Offizieren der Nordwest-Front wurden 1065 Ge­schenke (Feuerzeuge, Mundstücke, Klappmesser u. ä.) geschickt.

1945 wurden zwei Kokereien, zwei Hochöfen, eine neue elektrische Stahlschmelzhalle, eine Walzstraße und viele andere Produktionsabteilungen ihrer Bestimmung überge­ben. Unser Hüttenwerk wurde ein Betrieb mit vollem me­tallurgischem Zyklus.

Über all diese Taten berichtete unsere Zeitung, sie spie­gelte den Elan, den Mut und die Hingabe der Bauarbeiter wider, erzog ihnen höheres Pflichtbewußtsein und Heimat­liebe an. Ihr Bestes gaben dabei der erfahrene Redakteur Wassili Bobylew, meine Kollegen Nikolai Kuprijanow, Michail Kapustin und Juri Subow. Der letztere versorgte das Blatt mit Porträts der Bestarbeiter und anderen Fo­tos, die ihm meist großartig gelangen. Er schrieb auch hu­moristische Gedichte und Pamphlete und malte Karrikaturen, besonders auf die Leute, die mit dem Handel zu tun hatten und sich daran gesundstießen.

Auch ich trug mein bescheidenes Scherflein dazu bei, die Bauschaffenden zu aufopferungsvoller Arbeit zu be­geistern, aufzuklären und zu erziehen. 1944 wurde ich mit der Herausgabe einer Sonderausgabe unserer Zeitung be­auftragt. Wir setzten gerade alle Kräfte daran, den ersten Hochofen und das Wärmekraftwerk in Betrieb zu nehmen. Das Blatt war zwar sehr klein, etwa wie ein Schulheftblatt, aber es rief tagaus, tagein die Menschen auf, die Bauob­jekte vorfristig fertigzustellen. Im zweiten Nachkriegsjahr wurde mir die Ehre zuteil, die ganze Redaktion eine Zeit­lang zu leiten. Dann redigierte ich eine Zeitung, die „Uralez" hieß und einem anderen Wirtschaftszweig angehörte.

4

Eines Tages, es war Ende April 1957, saß ich am Radio­empfänger und hörte mir eine musikalische Sendung aus Moskau an. Als die Übertragung zu Ende war, verkündete der Ansager:

„Jetzt wendet sich Genosse Georgi Pschenizin in deut­scher Sprache an die Hörer..." Ich spitzte die Ohren. Als seine Ansprache zu Ende war, rief ich:

„Du liewe Zeit, vom erschte Mai ou soll in Moskau e Zeitung in deitscher Sprache rausgewe wern!"

Meine Frau Maria, die in der Küche hantierte, sagte:

 „Du machst jo Sache! Das wär jo die greßt Freid...“

Die Tatsache, daß in Moskau wieder mit der Heraus­gabe einer Zeitung für die Sowjetdeutschen begonnen wur­de, fand bei ihnen wärmsten Widerhall. Georgi Pschenizin war dann auch zwei Jahrzehnte lang Chefredakteur der Zeitung „Neues Leben" und tat mit seinem Kollektiv nicht wenig, um sie von Jahr zu Jahr zu verbessern. „Neues Leben" erschien dreimal wöchentlich in Kleinformat, und 1962 wurde es in eine Wochenschrift umgewandelt.

Kurz nach der Veröffentlichung meines ersten Beitrags im „Neuen Leben", es war im Juli 1957, wurde ich ins Tscheljabinsker Gebietsparteikomitee eingeladen. Man fragte mich, ob ich als Korrespondent der Zentralzeitung „Neues Leben" arbeiten möchte und könnte. Ich zuckte mit den Schultern. „Na, dann fahren Sie nach Moskau", sagte Maria Iwanowna Krochina, Leiterin des Pressesektors der Propagandaabteilung, „dort wird sich die Sache entscheiden."

In Abwesenheit des Chefredakteurs wurden wir uns mit seinem Stellvertreter, Lew Gurwitsch, schnell einig, und ich wurde NL-Eigenkorrespondent im Gebiet Tscheljabinsk. Doch mein Wirkungskreis erfaßte beinahe den ganzen Ural, Baschkirien, die Gebiete Kustanai und Nordkasachstan.

Es fiel mir nicht leicht, gleich „in Fahrt" zu kommen. Sechzehn Jahre lang hatte ich nicht deutsch geschrieben, so daß die großen Wandlungen in Industrie und Landwirt­schaft, Wissenschaft und Technik mich oft vor die Frage stellten: Wie muß ich dies und jenes deutsch nennen, wie heißen zum Beispiel all diese komplizierten Ausrüstungen in der Hüttenindustrie oder im Maschinen- und Bergbau? Zum Glück trieb ich doch ein gutes Wörterbuch auf, das mir nicht selten aus der Klemme half. Wenn aber auch die­ses Nachschlagewerk machtlos war, schrieb ich die mir im Deutschen nicht geläufigen Bezeichnungen einfach rus­sisch. In der Redaktion brachte man dafür Verständnis auf.

Im „Neuen Leben" war eine Reihe Menschen tätig, die ausgezeichnet ihr Fach beherrschten — Viktor Poljanski, Erich Richter, Leonhard Lorenz, Nikolai Fjodorow, Albert Grigorjanz, Heinrich Wolkow und andere. Es ist sehr zu bedauern, daß Leonhard Lorenz, Erich Richter und Maria Vogel, Harry Schnittkes Frau, allzu früh aus dem Leben schieden, sie waren alle sehr arbeitsfreudige und herzens­gute Menschen...

Als NL-Eigenkorrespondent mußte ich nicht nur eigene Korrespondenzen schreiben, Beiträge von Arbeitern und Kolchosbauern, Lehrern und Wirtschaftsleitern oragnisieren. Es ging auch um organisatorische Einsätze. Die Re­daktion beauftragte mich zum Beispiel, der Einführung des muttersprachlichen Deutschunterrichts  gebührende  Aufmerksamkeit zu schenken. In Tscheljabinsk, den Gebieten Kustanai und Nordkasachstan lebten und arbeiteten zwar viele Sowjetdeutsche, doch es gab weder geeignete Lehr­bücher noch Deutschlehrer in erforderlicher Anzahl. Mehr noch, manche Mitarbeiter örtlicher Volksbildungsorgane und Schuldirektoren beriefen sich auf allerlei Hemmnisse und Schwierigkeiten, um nur diese Angelegenheit von sich zu schieben. Erst wenn ich mich an die Gebietsparteikomi­tees und Gebietsabteilungen für Volksbildung wandte, kam die Sache ins Rollen. Bei der Organisierung des mutter­sprachlichen Deutschunterrichts in Tscheljabinsk erwies mir Schuldirektor Michail Duranow aktive Unterstützung. Heute ist er Doktor der Geschichtswissenschaften und lehrt an der Staatsuniversität in Tscheljabinsk.

Mit der Gründung des „Neuen Lebens" erwachten über­haupt viele Wünsche und Bedürfnisse der Sowjetdeutschen, aber auch der Verehrer der deutschen Sprache und Litera­tur anderer Nationalitäten wieder. Das möchte ich am Bei­spiel der Laienkunst verdeutlichen.

Es hieße wohl Eulen nach Athen tragen, wollte man be­weisen, daß sich jedes Volk, ob groß oder klein, zu seinen nationalen Traditionen, Sitten und Bräuchen, zu seiner Umgangssprache, ja seinem Humor hingezogen fühlt. Viele Menschen, denen ich auf meinen Dienstreisen begegnete, sagten mir, daß es sie sehr freuen würde, wenn deutsche Chöre, Schauspielzirkel u.a.m. organisiert wer­den würden. Und sie versprachen, selbst aktiv an der Laienkunst mitzuwirken. So kam ich auf den Gedanken, erst einmal im Stadtbezirk „Metallurgitscheski", wo viele Sowjetdeutsche wohnten, eine sowjetdeutsche Laienkunst auf die Beine zu bringen. Um Unterstützung bat ich das Parteikomitee des Trusts „Tscheljabmetallurgstroi". Sein Sekretär Pjotr Malow beschränkte sich nicht darauf, die Idee zu billigen — er beauftragte einen seiner Mitarbeiter damit, uns allseitig zu unterstützen. Der Mann hieß Wassili Polupan, nach dem Krieg arbeitete er längere Zeit in Deutschland und konnte ordentlich Deutsch. Später sang er sogar selbst im Chor mit.

In Seelmann hatte ich vor dem Krieg Konstantin Baier, einen fähigen Sänger, kennengelernt. In der Gewißheit, der Mann, der noch an der Wolga der Laienkunst mit Leib und Seele diente, würde sich für die Idee entzünden, bat ich ihn, einen deutschen Chor in Tscheljabinsk zu leiten. Obwohl nicht mehr jung, gab er sein Einverständnis. In der Organisationszeit wandte er viel Fleiß und Mühe auf, um begabte Enthusiasten auszusuchen. So geschah es, daß wir uns Mitte März 1960 im Jugendklub des Bautrusts erst­malig den Zuhörern vorstellten. Welch eine Freude! Älte­re Menschen konnten sich ihrer Tränen nicht erwehren. Hatten sie doch zwanzig Jahre lang nichts dergleichen in ihrer Muttersprache erlebt...

Bald war der Chor nicht nur in unserer Großstadt, son­dern auch in Kopejsk, Korkino und anderen Nachbarsied­lungen bekannt. Eines Tages lud ich meinen Kollegen Anatoli Panow vom Moskauer Rundfunk zu einer Chorprobe ein. Er war so begeistert, daß er ein Konzert des Chors auf Tonband aufzeichnete. Dann wurde es denn auch vom Mos­kauer Rundfunk übertragen.

Dem Chor gehörten 45 Personen an. Auf dem Programm standen deutsche Volkslieder, Lieder zeitgenössischer So­wjetkomponisten und russische Volkslieder. Jubel riefen Schwänke hervor, wenn Josef Baier sie vortrug. Das „Neue Leben" berichtete wiederholt von diesem Laienkunstkollek­tiv. Es war eines der ersten, die ihre Zuschauer nach dem Krieg in der Muttersprache geistig erquickten, und auch ein Beispiel dafür, was man erreichen kann, wenn man Energie und Zielstrebigkeit an den Tag legt.

Auch eine kleine Lektorengruppe wurde geschaffen, die vor jedem Konzert mit kurzen Berichten zum Zeitgeschehen in der Muttersprache vor dem zahlreichen Publikum auftrat. Hauptsächlich taten das Artur Ziebart, Emanuel Weigel, Jakob Gottwich und meine Wenigkeit.

Im August 1963 wurde ich in die Redaktion bestellt. Dort hieß es, man wolle mich als Eigenkorrespondent nach Zelinograd, in die Metropole der Neulandregion versetzen.

„Ich hätte ja nichts dagegen", erwiderte ich, „aber meine Kinder, die schon ihre eigenen Familien, wohleingerichtete Wohnungen und zahlreiche Freunde in Tscheljabinsk ha­ben, und meine Frau... Die werden sich dagegen stemmen. Keiner will den anderen verlassen, und Tscheljabinsk ist ihnen ans Herz gewachsen, sie sind dort großgeworden..."

„Überlegen Sie es sich", sagte mir der Redaktionssekre­tär, „fürs Neuland brauchen wir dringend einen Korrespon­denten. In Tscheljabinsk und Umgegend wirken schon recht viele Arbeiter- und Dorfkorrespondenten, es gibt deut­sche Laienkunstkollektive, die Zahl der NL-Leser macht über 5500 aus, der Deutschunterricht ist hier und dort ein­geführt, die Arbeit läuft also. Unser Eigenkorrespondent hat seine Aufgaben nicht schlecht erfüllt. Nun gilt es, derartige Arbeit anderswo anzukurbeln."

Persönlicher Umstände wegen mußte ich jedoch das verlockende Angebot ablehnen und wurde ehrenamtlicher Korrespondent der Zeitung.

5

Offen gesagt, es fällt mir schwer, den letzten Abschnitt meiner Tätigkeit als Zeitungsmann niederzuschreiben: Der Krug geht eben so lange zu Wasser, bis er bricht... Es handelt sich um meine Mitarbeit in der „Freundschaft", der Tageszeitung der sowjetdeutschen Bevölkerung Ka­sachstans.

Es war im November 1965, als mich eines Tages ein Mit­arbeiter der NL-Redaktion anrief und fragte, ob ich nicht bereit wäre, in der Zeitung „Freundschaft" zu arbeiten, die ab 1. Januar 1966 in Zelinograd herausgegeben wer­den soll. Vor freudiger Überraschung verschlug's mir bei­nahe den Atem, denn von diesem Ereignis hatte ich noch nichts gewußt... Ich mußte aber eine Antwort geben. Gewiß wäre ich sofort einverstanden gewesen, zumal meine Arbeit als Meister im Schotterwerk eines Baustoffkombi­nats mir keine rechte Genugtuung verschaffte — ich war ja kein Fachmann auf diesem Gebiet. Aber auch diesmal würde es mir meine Familie unmöglich machen, mein Ja-­wort zu geben. Aus den bereits angeführten Gründen. Aber ich kam doch in die „Freundschaft", allerdings zwei Jahre später.

Im Februar 1969 wurde ich vom Chefredakteur Alexey Debolski und dem Leiter der Literaturabteilung Karl Welz zu einem Treffen sowjetdeutscher Literaturschaffender, die für die „Freundschaft" schrieben, eingeladen. Ich fuhr nach Zelinograd, Doch das Treffen fand in jenen Tagen nicht statt. Dafür traf ich in der Redaktion meine Freunde und Arbeitskollegen aus der Vorkriegszeit wieder — Robert Pretzer, David Wagner, Karl Welz, Alexander Hasselbach. Sie arbeiteten in der „Freundschaft". Ich lernte Rudolf Jaquemien, Leo Weidmann, Leo Marx, Hugo Wormsbecher, Arvid Lange u. a. kennen. Das weckte in mir noch größeres Interesse für die neue deutschsprachige Zeitung. Besonders imponierte mir der Chefredakteur Alexey Debolski, den ich schon vom Briefwechsel her als NL-Mitarbeiter kannte, jetzt aber persönlich kennenlernte. Als Schriftsteller ist er dem breiten Leserpublikum wohl be­kannt. Ich möchte einiges über seine Charakterzüge sagen. Das ist ein Mensch mit offenem, großem Herzen, ein wah­rer Freund seiner Mitarbeiter und aller ehrlichen Menschen, mit denen er in Fühlung kommt. Was mich betrifft, so kann ich ihm nicht genug dankbar sein: Hätte er mir bei der Anstellung als Eigenkorrespondent nicht die helfende Hand gereicht, wäre ich kein Mitarbeiter der „Freund­schaft" geworden.

„Ich bitte Sie, Alexey Borissowitsch", sagte ich zum Schluß unseres Gesprächs, „mich als Eigenkorrespondent in Nordkasachstan anzustellen, ohne daß ich aber von Tscheljabinsk wegziehe." Er überlegte eine Weile und sagte:

„Nun, Tscheljabinsk liegt nicht weit von Kustanai, Petropawlowsk und anderen Orten Nordkasachstans. Ich habe nichts dagegen.“

Wäre meine Bitte abgelehnt worden — aus welchen Gründen auch immer — dann hätte meine Aktivität in der sowjetdeutschen Presse ganz bestimmt stark nachgelas­sen, ich hätte weit weniger Möglichkeiten gehabt, mein berufliches Können aufrechtzuerhalten. Gerade in der „Freundschaft" aber kam ein neuer schöpferischer Drang in mir auf, das Bestreben, sachkundig und packend zu schreiben, die Menschen beim Kommunistischen Aufbau wahrheitsgetreu und einprägsam zu schildern. So kann ich meine Arbeit an dieser Zeitung nicht anders einschätzen als einen erfolgreichen Finish meiner langjährigen journalistischen Tätigkeit. Allein die Tatsache, daß in den vier Jahren meiner Arbeit als Eigenkorrespondent an die 500 meiner Beiträge verschiedener Art in der „Freundschaft" veröffentlicht wurden, spricht für sich. In den Sammelband „Orte, die uns heilig sind", vom Verlag „Kasachstan" zu Lenins 100. Geburtstag herausgegeben, wurde mein Bei­trag über die Reise Wladimir Iljitschs in die sibirische Ver­bannung nach Schuschenskoje aufgenommen. Im Sammel­band „Helden der goldenen Sterne" erschienen drei Porträtskizzen aus meiner Feder, und zwar über die Melkerin Katharine Decker, den Mechanisator Christian Schwarz und den Kolchosvorsitzenden Jakob Zwinger.

Im April 1971 wurde Martin Dirks, Direktor des Sow­chos „Toluschinski", mit dem Ehrentitel „Held der Sozia­listischen Arbeit" ausgezeichnet, und am 2. Mai veröf­fentlichte die „Freundschaft" meinen Beitrag über sein Leben und Wirken.

Martin Dirks leitet nun seit Jahren die Gebietsverwal­tung Landwirtschaft des Gebiets Nordkasachstan. Er hat für die Entwicklung des Ackerbaus und der Tierzucht in diesem Landstrich wirklich viel getan und genießt zu Recht bei seinen Mitarbeitern und allen Landsleuten großes An­sehen.

Betrachtet man die Arbeit des Journalisten von verschie­denen Standpunkten aus, so bietet sie sich vielgestaltig dar, so wie sie in Wirklichkeit ist. Ich weiß, was die Arbeit im Redaktionsapparat einem gibt. Vor allem ist das eine gute Schule, ein fortwährender Weiterbildungskursus. Stets schöpft man hier neues Wissen, eignet man sich neue Knif­fe und Griffe an. Das gilt durchweg für alle Mitarbeiter.

Der Eigenkorrespondent hingegen schmort im eigenen Fett.

Arbeitet man im Redaktionsapparat und hat man einen Beitrag verfaßt, so wird er unbedingt in einer der Letutschkas unter die Lupe genommen, gelobt oder getadelt, und man kann sich gleich etwas hinter die Ohren schrei­ben.

Der Eigenkorrespondent bekommt aber nur selten eine Übersicht seiner Beiträge zugeschickt. Er lebt und wirkt manchmal „in der Schweb". Andererseits hat er es stets mit Menschen zu tun, die materielle und geistige Werte schaffen, Kinder lehren, Kranke kurieren, kurz, er steht mitten im kommunistischen Aufbau und sieht, wie diese Ar­beit rund um die Uhr vollbracht wird. Er sieht Menschen Taten vollbringen, für die Ziele und Aufgaben der Partei und des ganzen Sowjetvolkes kämpfen, und das formt stark sein Bewußtsein.

Es ist einfach unmöglich, auch nur ungefähr zu sagen, wieviel Menschen ich während meiner Arbeit als Eigen­korrespondent kennengelernt habe — von Erdarbeitern und Hirten bis zu Parteifunktionären und Wissenschaftlern. Im Straßengewühl mit seinen Hunderten und Tausenden Gesichtern ertappe ich mich oft bei dem Gedanken: Diesen Menschen habe ich sicherlich früher getroffen, bloß wo? In Swerdlowsk oder Iwdel? Omsk oder Nowosibirsk? Ufa oder Petropawlowsk? Auf dem Feld oder in der Werkhalle, am Rednerpult oder auf der Bank vor dem Tore zu stiller Abendstunde? Von diesem Standpunkt gesehen, ist die Arbeit eines Eigenkorrespondenten überaus lehr- und far­benreich. Er lernt an vielen Menschen Lebensziele und Verhaltensweisen kennen und stellt das, was er und seine Redaktion für richtig und unseren kommunistischen Idealen entsprechend halten, als Vorbild hin.

Am 17. Dezember 1971 legte ich meinen dienstlichen Ku­gelschreiber zur Seite und wurde Altersrentner. Meine „Freundschaff“-Kollegen verabschiedeten mich sehr herzlich und äußerten die Überzeugung, daß ich auch wei­terhin der Sache unserer Partei treu und unermüdlich die­nen werde. Das tue ich denn auch schon seit zwölf Jahren als ehrenamtlicher Korrespondent sowjetdeutscher Zei­tungen.

Nun bin ich am Ende meiner Erinnerungen angelangt. Ich hielte meine Aufgabe für erfüllt, wenn der Leser diesen Bericht nicht so sehr als etwas Persönliches, als Schilde­rung einer journalistischen Laufbahn, sondern vielmehr als Streiflichter aus der Geschichte der sowjetdeutschen Presse und Bevölkerung aufnehmen würde.


Heimatliche Weiten. – М., 1983, № 2, S. 187-211.