Geschichte der Wolgadeutschen

Персоналии

Rose Steinmark

ZWISCHEN DEN UFERN

„Menschen, die ihre Vergangenheit bewahren, tun es für ihre Nachkommen. Das Volk ist ja nicht tot. Das Volk lebt. Das Volk erinnert sich. Es lebt in Prosa, Gedichten und Liedern!“

Aus dem Vorwort des Redaktionskollegiums.

„… Ich will, dass Kinder und Enkel wissen,
wie bitter es den Vorahnen erging…“

(Russisch: „...И я хочу, чтоб дети, внуки знали,
О горькой жизни прадедов своих.“
)

Лидия Матыцина

Diese bescheidenen Zeilen könnten als Epigraf der Jubiläumsausgabe „Die Ufer/Берега“ dienen. Sie wären zweifellos nicht fehl am Platz, weil sie jeden von uns, Nachkommen der Russlanddeutschen, betreffen. Wir tragen alle unsere eigenen Erinnerungen an diese Vergangenheit im Herzen und wünschen uns, sie nicht zu verlieren.

Die Vorbereitungsphase dieser Ausgabe war höchst ungewöhnlich: Es gab keine langen Sitzungen, die den Inhalt bestimmten, keine hochrangigen Chefs, keine Kommission, die sich um alles sorgte, keine Behörden, die bereit waren, die Kosten für die aufwändige Arbeit zu übernehmen. Um alle Angelegenheiten kümmerte sich das Forum – eine große Gruppe von Anhängern der russlanddeutschen Geschichte, die sich auf der Internetseite www.wolgadeutsche.net kennen gelernt haben. Bereits seit 10 Jahren besteht dieses Forum. Tausende von Menschen treffen sich in dieser virtuellen Welt des Internets und tauschen ihre Erinnerungen aus. In Form von kurzen Familiengeschichten, historischen Büchern und wissenschaftlichen Abhandlungen… Den ständigen Teilnehmern des Forums schwebte vor einem Jahr die Idee vor, ein Buch herauszugeben, in dem sie die wichtigsten Ereignisse ihrer zehnjährigen Debatten präsentieren könnten. Zwei leidenschaftliche Befürworter des Forums – Natalja Schmidt und Andreas Raith übernahmen die Koordinierung und die Inhaltsgestaltung. Sie kümmerten sich auch um den technischen Aspekt, um den schriftlichen Verkehr mit den Autoren, um die Themen – ein riesiger Aufwand, dem sich nicht jeder aussetzen möchte. Ich verfolgte die Diskussionen über das künftige Buch, war aber überzeugt, dass diese Idee nie ausreifen wird. Trotz meiner Skepsis, setzten die Teilnehmer der langen Debatten ihre Träume um: Der Almanach erschien mit einer Auflage von 300 Exemplaren. Die Kosten für den Druck und sämtliche Ausgaben, wurden eigens von den Autoren dieser einzigartigen Erscheinung übernommen.

Jetzt liegt der Almanach auf meinem Tisch und ich bin von der Buchausstattung, von der künstlerischen Darstellung und… ja, auch vom Inhalt des Almanachs überwältigt! Die symbolische Karte auf dem Deckel, die den langen, oftmals bitteren Weg der russlanddeutschen Geschichte andeutet, gehört zum Teil des Inhalts und spiegelt die Schilderungen der Autoren wieder. Die Vorsatzblätter, ausgestattet mit Zeichnungen des eigenständigen russlanddeutschen Künstlers Oskar Aul, stellen die Geschichte mehrerer Generationen unserer Vorahnen fragmentarisch dar und erwecken im Leser das Gefühl der eigenen Zugehörigkeit zu dieser Geschichte, deren Puls in unseren Adern schlägt.

Unter den 43 Autoren, die im Buch vorgestellt sind, finde ich Namen von den bekannten Dichtern und Schriftstellern – D. Hollmann, K. Ehrlich, I. Bender, E. Mater, R. Leinonen, O. Schulz…, von den gern gelesenen Publizisten – A. Fitz, E. Voigt, von den Wissenschaftlern und Historikern – V. Krieger, A. Obholz, O. Lizenberger, A. Raith, A. Brester, A. Spack… und, was besonders frisch und faszinierend wirkt – viele neue Namen, die im russlanddeutschen Literaturkreis bisher noch unbekannt waren – N. Schmidt, E. Fischer, L. Matyzina, L. Loor… Ich lese im Buch und stelle fest: Rührend sind die Werke der Angehenden und bewegend die der Koryphäen.

Mit dem Werk des Schriftstellers, Dichters, Geschichts- und Kulturwissenschaftlers Konstantin Ehrlich „Lied der Russlanddeutschen“ beginnt die Reise in die, buchstäblich, von Erinnerungen sprudelnde Welt des Almanachs:

„Mein Trautes Volk, bleib zielbewusst und sittlich rein –
der deutschen Mutternation – ein Edelstein,
von Mutter Wolga und des Vaters Rhein Geblüt, –
die Welt entzücken soll dein Glanz, der nie verblüht…“

Der Verfasser widmet das Lied seinen Stammesbrüdern, es klingt in gewissem Sinne wie eine Hymne (eine Hymne, die unser Volk noch nie besaß!)

Bemerkenswert, dass der Dichter nicht nur den Text, sondern auch die Melodie geschaffen hat. Ein beeindruckendes Novum, das K. Ehrlich mit beneidenswerter Leichtigkeit seinen letzten poetischen Werken verleiht. Sein zweites Lied „In Gedanken an Russland“ schließt das Buch und bilanziert die Gefühle der Autoren und Leser. Woher kommen wir, wo sind wir, was ist aus uns geworden?

„Ich bin kein Mankurt, der die Wurzeln nicht kennt,
ich schwing mich aufs Ross, renn kopfüber, behend,
entgegen Sibiriens Schneestürmen und Wind,
am Rand meines Schicksals den Rhein längs geschwind…“

Somit bilden die beiden Lieder einen kunstvoll geschmückten Rahmen für die Werke der Autoren des Almanachs.

Mir scheint, dass der Begriff „Mankurt“ – ein Menschenwesen, dass das Gedächtnis über seine Wurzeln verloren hat, wie eine blutende Ader durch die Werke aller Autoren des Almanachs zieht, an ihrem Gewissen zerrt und sie mit unheimlicher Kraft auffordert das, was sie aus ihrem persönlichen Geschichtserbe zusammentragen konnten, zu erhalten.

Wie es seinerzeit unser bekannte Dichter und Schriftsteller Dominik Hollmann in der Verbannung tat:

„...Sinnend steh ich vor dem Stacheldrahte,
und mein Blick in weite Ferne schweift…
Nur wer Gleiches mit mir hat erlebet,
so wie ich den tiefen Schmerz begreift.“

Das Gedicht „Sehnsucht“, das der Dichter 1942 in der Trudarmee, in Wjatlag schrieb, musste auf seine Veröffentlichung bis 1989 warten, der Leser des Almanachs hat das Glück den Worten der großen Persönlichkeit unserer Literatur zu lauschen und sich noch ein Bild von der russlanddeutschen Vergangenheit zu machen.

Deutlich zu spüren ist auch die Parallele, die man zwischen der Zeit des Dichters Hollman und der Dichterin Emma Fischer ziehen kann: Hollmann lebte in Russland und „genoss“ alle „Prioritäten“ seiner Heimat und Identität: Aussiedlung, Trudarmee, Verfolgung und Rechtlosigkeit, E. Fischer kam in den 1990ern aus Russland nach Deutschland und hat hier, im Land ihrer Ahnen, die Kehrseite der Medaille kennengelernt. In ihrem Gedicht „Heimatlos… Schutzlos“ beschreibt sie ihren unaufhörlichen Schmerz:

„Man nannt` uns „Faschisten“ und „Fritzen“.
In Russland war das unser Stand.
Jetzt sind wir nach Deutschland gekommen
und werden „die Russen“ genannt“.

Man fühlt mit der Autorin, man versteht sie und man stellt sich dieselbe Frage: „Ach, Schicksal! Was hab ich verschuldet?“

Viktor Pflaum schreibt Schwänke. Er schreibt viel und so wie ihm der Schnabel gewachsen ist, in der Mundart halt. Einige Geschichtchen sind ihm gut gelungen (Mai-Dimansdrazije) und geschickt aufgebaut, die anderen wieder nicht (Wu komme tie Bolidiker her), aber was wirklich zur Sache tut, das ist sein Mundartgefühl, das er pflegt und hegt.

Alexander Spack gibt seinen „Traurigen Seiten des Lebens“ freien Lauf und bietet dem Leser Ausschnitte aus der Familiengeschichte – die leidvollen und spannenden Erinnerungen seines Onkels – wahrheitsgetreu und mit ruhiger Hand geschrieben…

Edmund Mater hat für den Almanach sein „Lustiges Märchen über die stummen Nomaden und klugen Beamten“ ausgewählt. (Russisch: Сказка про немых кочевников и умных чиновников). Seine humorvolle Charakteristik der Beamten, „die keine Nationalität, oder nationalen Besonderheiten besitzen, weil sie wie ein Chamäleon nur die Haut wechseln“, übernahm der Schriftsteller der Realität und fügte dabei mit Sarkasmus und Gelassenheit hinzu: „Es wird einem Menschen mit großen „Arbeitsschwielen“ nicht mal im Traum vorkommen, mit einem Beamten zu konkurrieren“. – Ein Märchen aus allen Zeiten, in dem sich Gegenwart und Vergangenheit widerspiegeln und wer weiß, – vielleicht auch die Zukunft.

Es fällt mir äußerst schwer, nicht alle Autoren des Almanachs, die sich der pulsierenden Ader ihrer Erinnerungen aussetzten, zu erwähnen, aber einige Namen möchte ich hier doch noch anführen: Natalija Schmidt mit ihren bildhaft geschilderten kurzen Dokumentationen aus der Vergangenheit Дорога длиною в одиннадцать лет und Портрет. Ihrer Feder entstammten schon viele Gedichte und Erzählungen. Eine Autorin, die mit Herz und Seele an ihrer Geschichte hängt und zielstrebig die winzigsten Einzelheiten ihres Lebens und das ihrer Ahnen schildert.

Alexander Brester, Vertreter der jüngeren Generation, beschäftigt sich mit der Geschichte der Russlanddeutschen und konzentriert sich dabei auf die Herkunftsorte seiner Ahnen – die Kolonien Grimm und Bettinger – trägt Fotos und Erinnerungen zusammen und schreibt Geschichten. In diesem Almanach präsentiert der junge Autor den Lebensweg seiner Großmutter (Modr) – „Умереть вовремя“, – lyrisch, rührend und ein wenig nostalgisch.

Alexander Fitz kenne ich noch aus meinem Theaterleben und erinnere mich gut an die erste Begegnung mit ihm. Mit meinen Kollegen aus dem Theater besuchten wir ihn in der Redaktion der usbekischen Jugendzeitung Комсомолец Узбекистана. Wir unterhielten uns über dies und das und ließen uns von seinem unermüdlichen Humor hinreißen. Mit der Zeit lernte ich ihn auch als Autor kennen. Die Vielfalt seiner Publizistik, die Sachlichkeit, mit der er jedes Detail in seinen Beiträgen beschreibt und sein Wissen, sind nicht zu übersehen. Dem Almanach traute A. Fitz einen Ausschnitt aus der Skizze Российские немцы и кино. Советские...“ an, in der dem Leser die lang genug verborgenen Kapitel aus dem Leben bekannter russlanddeutscher Schauspieler enthüllt werden. Wieder sachlich, genau und zum Teil ironisch.

Mit großer Freude stellte ich fest, dass außer lyrischen, zum Teil sentimentalen Erzählungen der angehenden Autoren, in diesem Buch auch wissenschaftliche Abhandlungen veröffentlicht wurden. Hut ab vor den Herausgebern des Almanachs. Die Abhandlungen der Wissenschaftler V. Krieger, O. Lizenberger, A. Obholz, A. Raith geben dem vollbrachten Werk die akademische Note der Vollkommenheit wieder, die sonst wirklich gefehlt hätte. Viktor Krieger hat mit seiner langjährigen wissenschaftlichen Tätigkeit auf dem Gebiet russlanddeutscher Geschichte schon mehrere verschwiegene Brutalitäten unserem Volk gegenüber enthüllt und sie reichlich mit Archivdokumenten belegt. Sein, hier veröffentlichter Beitrag „Массовая гибель российских немцев, мобилизованных в Вятлаг НКВД СССР на принудительные работы. Документ из архива ГУЛАГа passt wunderbar in das Konzept der Verfasser des Almanachs, das Dokument tritt als Zeuge der unverzeihbaren Geschehnisse unserer Vergangenheit auf. Professor Albert Obholz, Doktor der medizinischen Wissenschaften, beschäftigt sich seit Jahren mit der Geschichte der russlanddeutschen Mediziner und stellt in diesem Buch einen Teil seiner Forschungen vor: Уроженцы Поволжья, окончившие медицинский факультет Дерптского университета und führt Angaben aus dem Universitätsarchiv der Zeiten 1802-1889, 1900-1918 an. Namen, kurze biografische Aufzählungen – welch eine riesige Schicht unserer Geschichte der Wissenschaftler an Tageslicht gebracht hat! Professorin Olga Lizenberger, Doktor der historischen Wissenschaften, Autorin von über 300 weltweit veröffentlichten wissenschaftlichen Abhandlungen, erzählt uns aus der Geschichte der Kirche in der Kolonie Zürich an der Wolga (Russisch: Из истории церкви колонии Цюрих) und veranschaulicht sie mit dem Bild des Professors und Rektors der Universität zu Berlin-Scharlottenburg Johann Eduard Jacobstahl, der 1873 die Zeichnungen zum Projekt machte. Die Zeit der Verfolgungen hinterließ ihre Spuren auch an diesem architektonischen Denkmal unserer Geschichte – viele Jahre lag sie in Ruinen. Was aber erfreulich klingt: die Kirche wird rekonstruiert und wird bald wieder in voller Pracht glänzen.


Der Almanach „Die Ufer/Берега“ ist sehr informativ und macht den Leser mit Geschichten aus vielen Bereichen des Lebens vertraut. Man kann darin blättern, lesen und sogar Stimmen hören: Die Glocke der Kirche in Zürich, die leise, einfühlsame Stimme der Modr, das wehmütige Klagen der Frauen in der schrecklichen Nacht 1942 und das monotone Plätschern des Wassers am Ufer der Wolga…

Der Titel entspricht seinem Inhalt – russlanddeutsche Autoren aus Deutschland und Russland teilen dem Leser ihre verborgenen Gefühle mit, Gefühle, die mehr als genug zwischen zwei Ufern – der Vergangenheit und Gegenwart, herumirrten und nun zu Offenbarungen gekommen sind.

Im Vorwort zum Almanach schreibt das Redaktionskollegium:

„Zwischen den Polarufern der Zustimmung und Ablehnung fließt der Strom des Lebens. Die niemals zusammenkommenden Ufer können nur mit einer Brücke verbunden werden. Manchmal lohnt es sich einfach eine Brücke zu bauen“.

(Russisch: „Между полярными берегами приятия и неприятия течет река жизни. А между никогда не сходящимися берегами может быть только мост. Иногда нужно просто взять и построить его.“)

Die Verfasser des Almanachs haben mit dem Bau dieser Brücke begonnen und hegen geheime Wünsche, den 2. Band des Almanachs ins Leben zu rufen. Die elektronische Version des Almanachs wird bereits vervollständigt. Hoffentlich wird der Leser im zweiten Band mit mehr Geschichten in deutscher Sprache beglückt, denn unsere Sprache ist ja auch ein Teil unserer Vergangenheit, die nicht in Vergessenheit geraten darf…

Rose Steinmark,
Münster

In: DipKurier / Russlanddeutsche Allgemeine, Nr. 32, 2014.