Geschichte der Wolgadeutschen
DER WOLGADEUTSCHE
Unabhängige Zeitung für die kulturelle und wirtschaftliche Förderung des Wolgadeutschtums
1922 Nr. 18

Verblassende Feste.

Von G. S. Löbsack, Berlin-Lankwitz.

Nicht zu Unrecht klagen unsere führenden Volksmänner das Schicksal der Härte auch in Bezug auf die wolgadeutsche Volkskultur, die Volkssitten, die Gebräuche an. Die Schwächung der Wolgadeutschen Kraft ist zum Volksschmerz in vollem Umfang geworden. Wie es heute um den ehemaligen wirtschaftlichen Wohlstand bestellt ist, so verhält es sich auch mit dem Verblassen dessen, was man — das Wort richtig verstanden — völkisch heißen kann. Ein tiefer Schmerz erfüllt denjenigen, der seiner Steppe wahrhaft treu ist, ob des Absterbens der Volksfeste, eines Absterbens, das wir nun schon seit Jahren sehen und das seit dem Ausbruch des Weltkrieges Jahr für Jahr krasser in Erscheinung tritt.

Die wolgadeutschen Volksfeste sterben und mit ihnen diejenigen der Feste, die dank ihres tief-sittlichen religiösen Gehalts seit altersher heiligstes Eigentum auch unseres Volksstammes gewesen sind. Da war der Weltkrieg. Es braucht niemand an die Qualen der Fremd- und besonders Deutschstämmigenhetze in Rußland während jener unglücklichen Jahre erinnert zu werden. Ein jeder hat sie an Leib und Seele verspürt. Doch, es soll nicht solche Versündigung am Menschenbruder mit Haß oder Schimpf vergolten werden — jene Zeit ist nun ja Geschichte geworden. Aber der Schaden, der unserem Volkstum zugefügt worden ist, kann nicht vergessen werden, weil er der Anfang des eiligen und hektischen Verblassens auch unserer Feste ist. Fühlten wir die Freude am Lichterglanz des Weihnachtsbaumes, an dem Fest der aufleuchtenden Friedensbotschaft ungeteilt in uns? In der Zeit in der wir auf den Straßen der eigenen Dörfer nicht deutsch sprechen durften? Beugten sich vor dem Sinn des Festes der Weihenacht und des Friedens unsere Knie in voller Demut, waren wir ohne inneren hohen Zorn? Als man unser Volkstum, unsere Herkunft, unser Herzblut und Lebensmark, unsere Feste und unsere Kultur bespie? Damals wohnten in der Brust eines jeden Deutschen u Rußland zweierlei Gefühle: das der Ergebenheit an die  eigene Nation und das der Treue zu dem Staat, dessen besoldete Diener vom Großfürsten bis zum Hansnarren hinab uns mit Füßen traten. Der künstliche erzeugte Zwiespalt in uns ergab eine Mischung von Liebe und Gekränktsein, von Treue und Haß: eine Giftmischung, die den Lebenssaft unseres Volkstums schwächte. Man verbot uns nicht nur das Deutschsprechen, das Deutschschreiben, man hätte uns, wenn es nicht gar zu lächerlich gewesen wäre, auch das Deutschdenken und -fühlen verboten. Was blühen und gedeihen hätte können und sollen, wurde vergiftet und gewürgt. Als wir dann einmal glaubten ausatmen zu sollen, war die „Freiheit“ ein Trug; oder ließen die „zeitweilig verschobenen“ Ausnahmegesetze gegen die Deutschen andere Schlüsse zu?

Die Jahre des Bangens um das eigene Deutschtum wurden uns nicht durch Monate, geschweige denn Jahre des Aufatmens abgelöst. Kriege und Revolutionen kennen keine Feste der Verinnerlichung, der Menschen- und Volksfreude. Bajonette und Galgen sind da blutbefleckt, und über die Felder ziehen hungrige Raben krächzend zu den Leichenhausen. Es ist den Wolgadeutschen frostig einsam gewesen in seinen entlegenen, verschneiten Steppen. Dachten Menschen au uns? Dachte die Welt an die  Ringenden und Kämpfenden an der Wolga? Oh, es ist so unsäglich schwer, auf den leuchtenden, spiegelglatten, prunkstrotzenden und reich duftenden Boulevards jauchzender Großstädte an Völker und Stämme zu denken, die im Titanenkampf um  — ja, um was? — um irgend ein Recht dem Hunger verfallen. Das Schicksal wurde unerträglich schwer, Hungerleichen lagen plötzlich zu Hausen an den Wegen und in den Gründen, wo im Frühjahr Ostern- und Pfingstblümlein, im Winter Tannen und Fichten das Menschenherz hätten erfreuen sollen. Nur der Totensonntag verblieb als Tag, besten Sinn stärker wurde: die an deren Festtage — was sind sie heute?

In den Bauernhäuslein der Steppe, aus deren Fenstern ehedem warme helle Lichtstrahlen aus den Weißen weichen Winterschnee fielen, goldig-gelb, mattfarben, wie Sternenschimmer — stehen in diesen Häuslein zu dieser Weihnacht Christbäume? Brennen knisternd Kerzen? Duften Tannen? Frohlocken Kinder um den Gabentisch? — In den Ecken kauern abgehärmte Gestalten, graufarben, tiefäugig, seufzend, vor Hunger leblos vor sich hinstierend. Wo ist die Weihnachtsfreude, wo das Weihnachtsfest? Doch nur bei den Wenigen, die trotz Hunger und Elend noch immer reich geblieben oder geworden sind.

Es ist alles vergänglich, und neue Zeiten bringen neue Sitten. So sagt man, und es ist so. Aber ist’s nicht auch anders, irgendwie anders, wenn auch nur winzig wenig? Doch, ja! Vor allem: Ist es unbedingt notwendig, daß neue Zeiten alle Sitten ändern? Sollte und darf nicht ein Leuchten herübergleiten und strahlen aus der Vergangenheit in die Jahre der neuen Kämpfe, der Aufreibung, des Hungers? Es sollte so sein, und wenn auch vieles vergänglich ist und in seiner Vergänglichkeit gut ist, weil es Neuem, Besserem Platz macht, wenn auch,  meine ich, vieles vergänglich ist, — die Dinge der Freude sollten von Menschenhand und vom Schicksal unberührt bleiben.  Feste sind solche Dinge, und mag sich auch um sie ein Glaube sammeln, der anderen Aberglaube zu sein scheint, — sie sollten  bleiben dürfen, weil sie des Mensch Los leichter tragen machen.

Als Kinder warteten wir am Heiligabend in den dunklen Stuben und freuten uns auf den Lichterglanz, den uns der Christbaum brachte. Und wir zehrten noch lange später an der Erinnerung an die Weihnachtsfreude. Als Erwachsene warten wir heute auch in dunklen Stuben, aber wir sind wie solche, die im Dunkeln weinen. Worüber? Das Meer der Schmerzen ist seit 1914 tiefer geworden, und heute klagen wir das Schicksal an, weil es uns die Freude nimmt, nach und nach alles nimmt, was uns heilig ist uns war. Unser Volkstum, unsere Feste, unsere Kultur, unsere Kraft.

Aber jede Weihnacht ist ein Fest der Freude. Immer wieder, trotz alledem. Auch diese Weihnacht, und wer ein Christbäumlein sein eigen nennen darf, der freue sich darüber, daß es ihm noch vergönnt ist, wer aber keines hat, der denke an die Zukunft. Sie bringt Änderung, bringt Neues, bringt auch Freude. Und dieses Frohsein um der kommenden Freude willen sei das Sternlein an des Christbaums Spitze, der einem jeden blüht, auch wenn er ihn nicht in seiner Stube hat. Wenn auch der äußere Schein der Feste schwindet, die Freude an ihnen soll uns nicht genommen werden.


Der Wolgadeutsche, Berlin, 1922, Nr. 18, Beilage, S. 1.