Geschichte der Wolgadeutschen
DER WOLGADEUTSCHE
Unabhängige Zeitung für die kulturelle und wirtschaftliche Förderung des Wolgadeutschtums
1923 Nr. 4

Die Zarentochter in Balzer.

Ein ergötzlich wolgadeutsch’ Schwabenstücklein, getreu der Wirklichkeit nacherzählet
von G. S. Löbsack.

In Berlin ist dieser Tage eine gewisse Anni Sanneck vom Schöffengericht wegen mehrfachen Betruges zu drei Monaten Gefängnis verurteilt worden. Die Strafe ist deshalb so leicht ausgefallen, weil die Angeklagte schon von früher Jugend an sehr krankhaft veranlagt war. Ihr Vater ist an Gehirnerweichung gestorben, sie selbst ist Morphinistin, hatte schon mit 17 Jahren ein Verhältnis mit mehreren Männern zu gleicher Zeit, war Mutter eines unehelichen Kindes und hat einen Teil ihres Lebens in Sanatorien und Irrenanstalten verbracht. Während der Verhandlung beliebte sie, den hohen Gerichtshof mit Du anzureden. Besonders interessant ist, daß diese in ihrer Krankhaftigkeit auch dreiste Dame öfters als russische Großfürstin ausgetreten und von vielen als solche auch behandelt worden ist.

Der letztere Umstand bringt einem ein tragikomisches Geschichtlein in Erinnerung, das sich im Frühjahr 1915 in Beideck und Balzer an der Wolga zugetragen hat und ergötzlich zu hören ist.

Es war in jener schweren Zeit, als über das gesamte Rußlanddeutschtum dräuende Gewitterwolken hinzogen, als zu uns in die Wolgakolonien endlose Scharen vertriebener wolhynischer Deutschen kamen und schon damals als die ersten Boten des späteren tragischen Schicksals der Deutschen in Rußland galten. In dieser Stimmung durften die vielen umherschwirrenden Gerüchte über eine besondere Wohlgeneigtheit der damaligen russischen Kaiserin Alexandra Feodorowna, die ja eine geborene Prinzessin von Hessen-Darmstadt war, zu den bekanntlich auch aus Hessen, und Süddeutschland stammenden Wolgadeutschen aus besonders günstige Ausnahme rechnen. Natürlich nur unter den Wolgadeutschen, denn die russischen Saratower und Samaraer Kreise sahen in der Kaiserin eine „deutsche Verräterin“, die für Rußland sehr gefährlich werden könne. Ein wie ein Wild gehetztes, verlachtes und verfluchtes wolgadeutsches Gemüt ließ es sich deshalb nicht nehmen, vertrauensselig allem und allen zu begegnen, was für ihn eine Art Trost in nationaler Bedrängnis zu bedeuten schien. Unsere biederen Wolgadeutschen konnten deshalb mitunter nicht weniger einsaitig bezeichnet werden, als jene sieben Schwaben, von denen man auch in den deutschen Wolgakolonien manch drolliges Stücklein zu erzählen weiß.

Eines frühjährlich-schönen Tages wurde der Dorfverwaltung, dem „Prikas“ in Balzer von Beideck her die hocherfreuliche telephonische Nachricht gebracht, die älteste Tochter des Zaren, die Großfürstin Olga, sei in höchsteigener Person eingetroffen und wünsche das Balzerer deutsche Lazarett für Kriegsverwundete zu besichtigen. Die Balzerer hatten nämlich damals im Benderschen Hause auf dem Kirchplatz ein Lazarett für 30 Soldaten eingerichtet; die Dorfverwaltung, die bis dahin im selben Hause war, hatte sich anderweitig Unterkunft suchen müssen. Dies Lazarett war ihr Stolz, und noch heute erzählen sie mit Vergnügen von jenen Tagen. Was Wunder also, wenn die Nachricht aus Beideck wie eine Bombe einschlug! Die Tochter der Zarin! In dem kleinen Balzer! Und was die biederen Leutchen in diesem Zentrum der Wolgadeutschen Textil- und Lederindustrie am meisten mit Ehrfurcht erfüllte, war, daß Ihre Kaiserliche Hoheit so ganz und gar ohne Hofstaat, mutterseelenallein reiste. Wie konnte sie nur so etwas tun? Ja, man sah doch ein, daß das Vertrauen der Zarin und ihrer Familie zu den Wolgadeutschen und besonders zu den Balzerern strotz war. Dafür wollte man sie auch recht schön empfangen und ihr alle Ehren und Bequemlichkeiten erweisen. Man erbot sich telephonisch, die Großfürstin in der schönsten Kutsche des Dorfes abzuholen, aber Ihre Hoheit lehnten es gnädigst ab und fuhren die 10 Werst von Beideck nach Balzer auf einfachstem Tarantas. Der „Jemschik“ war ihr Kutscher und so traf sie denn in den Mittagsstunden, von Staub umwirbelt, bei den Windmühlen am nördlichen Ende Balzers ein.

Sie konnte zufrieden sein: ihre Untertanen waren recht aufmerksam gewesen: 20‒30 junge Schulmädchen, schneeweiß gekleidet, mit Blumen im Haar, mit Blumen aus der jungfräulichen Brust, standen an der Einfahrt zum Dorf. An jenem Morgen waren wohl alle Blumentöpfe in den Häusern ihres Schmuckes entledigt worden, zu Ehren des kaiserlichen Gastes. Die Mädel waren ja zwar blau gefroren — es wehte noch ganz frostig von der Wolga her — aber, aus den Taktstock des Herrn Schulmeisters sehend, aber auch die Fürstin mit freudigen Blicken anbetend, sangen sie das erhabene Lied „Gott, sei des Kaisers Schutz“. Es war ungemein feierlich, trotz verschiedener Singfehler, und dann hielt der Ortsgeistliche, ein lutherischer Pfarrer, eine schwungvolle Ansprache an die in den Tarantas zurückgelehnte Hoheit. Der bekanntlich sehr holprige Weg zum Kirchplatz hinunter war von weiß-blau-roten Flaggen und von weißen Flaggen aus in der Eile aus den Betten hervorgezogenen Laken umsäumt. Kaum hatte sich der Zug, bestehend aus den Würdenträgern des Dorfes, aus Schulkindern, freudig erregten Einwohnern, Gassern und Hunden, in Bewegung gesetzt, so rief die Staffettenpost von Straßenecke zu Straßenecke bis zur Kirche hinunter: „Läuten!“ Und nun wurde es ganz feierlich. Man wußte vor Erregung nicht ein noch aus, lies hin und her, ordnete an, ordnete um, befahl, schrie, juchheite. Es war zu schön.

Ordnungshalber hatte man nach Solotoje angeläutet: der Herr Pristaw möge doch sofort nach Balzer kommen, um an dem feierlichen Mittagessen zu Ehren Ihrer Hoheit teilzunehmen. Der jagte die 25 Werst im Galopp zur Stelle. „Hoheit, es ist uns eine hohe Ehre, wir werden uns Eurer Hoheit würdig erweisen.“ Hoheit waren sehr, ja sehr zufrieden. Das Lazarett war sogleich vom Tarantas aus besichtigt worden, Salz und Brot hatte man schon an den Windmühlen alle untertänigst überreicht. Es ging alles wie am Schnürchen, trotz der so großen, so verwirrenden Überraschung.

Bis, ja, bis man plötzlich Grund zu haben glaubte, mit den Augen zu schielen. Die Besitzerin des Gasthofes auf der heutigen Trotzki-Straße, die Ihre Hoheit zu beherbergen hatte, hatte nämlich, als sie der Fremden eine Schüssel mit Wasser ins Zimmer brachte, festgestellt, daß Hoheit zerrissene Strümpfe, nur ein Strumpfband und — man entschuldige gütigst — ein nicht sauberes Unterröckchen und gesticktes weißes Höschen besitze. Das sprach sich herum, und die Stimmung begann abzuflauen. Hoheit sprachen aber auch ein merkwürdiges Russisch, das so ganz nach dem Mitrofanowski Basar in Saratow schmeckte. Hm! Zuerst wurde der Ortspfarrer stutzig; der Pristaw machte eine bittere Miene, die örtlichen Würdenträger begannen zu erröten. Beim Essen wußten Hoheit Messer und Gabel nicht richtig zu handhaben. Es war merkwürdig, sehr merkwürdig. Hoheit bemerkten die nur sehr vorsichtig geäußerte allgemeine Verdutztheit, und sprangen plötzlich, um sich herauszureißen, vom Stuhl aus, liefen vor das Bild des Zesarewitsch-Thronfolgers Alexei und jauchzten: „Ach, Aljoschenka, was machst Du jetzt? Grüße Mama und sage ihr, die Wolgadeutschen, ihre Hessen, seien doch prachtvolle Leute!“

Ader die Finte zog nicht mehr, und nach Aufhebung der Tafel, bei der jedoch noch mehrfach auf das kaiserliche Wohl getrunken worden war, baten Pristaw, Geistlicher und der reichste Mann des Dorfes Hoheit zu einem kleinen geheimnisvollen Gespräch in ein Seitenzimmer des eleganten, reichen Saales. „Hoheit begreifen, wir möchten, wir würden, es wäre uns eine Ehre ...“ Kurz, Hoheit sollten doch einmal aller gnädigst ihre — Papiere zeigen. Hoheit waren höchst empört, es sei eine Unverschämtheit, ja, Hoheit schimpften im Saratower Straßenjargon. Nun wurden die Papiere erst recht verlangt, und Hoheit nestelten nun, schimpfend und weinend, unterm Röckchen am Strumpf herum. „Meine Herren, ich hatte sie noch in Beideck, meine Papiere müssen im Tarantas liegen.“ Aber, dudki, Marja Iwanowna: aus Beideck wurde zurückgemeldet: der „Jemschik“ sei zwar zurückgekommen, von Papieren sei im Tarantas aber keine Spur. Dagegen sei aus Saratow ein Telegramm eingetroffen, die vermeintliche Großfürstin sofort zu verhaften und unter starker Bewachung zum Gouverneur, dem Fürsten Schirinski-Schichmatow, zu bringen. Das geschah denn auch, und die Feierlichkeiten nahmen ein jähes Ende. Die Hausfrauen und Mädchen beklagten ihre Topfblumen, der reichste Mann des Dorfes seine Ausgaben für das Mittagsmahl und die Getränke — die Dorfverwaltung blechte natürlich nichts —, die Gasthofswirtin bedauerte das Zimmergeld, der Ortspfarrer, der Schulmeister, der Pristaw und alle sonstigen Herren bewarfen sich gegenseitig mit Vorwürfen. Niemand aber wollte die Schuld tragen. In den Annalen Balzers aber bleibt verzeichnet, wie die sieben Schwaben 1915 nach Christi Geburt auch in Balzer waren und einer gewiegten Betrügerin zum Opfer gefallen sind.

Was mit der „Großfürstin“ noch passiert ist, weiß niemand in Balzer, denn man mied ängstlich und beschämt das Gespräch vom Empfang der Zarentochter. Heute spricht man ja wieder davon, aber das Schicksal der Betrügerin blieb unbekannt.

Im übrigen aber ist Balzer ein anheimelndes, nettes und liebes Dorf.


Der Wolgadeutsche, Berlin, 1923, Nr. 4, 2. Beilage, S. 1-2.