Geschichte der Wolgadeutschen

BEITRÄGE ZUR HEIMATKUNDE
DES DEUTSCHEN WOLGAGEBIETS


Beiträge zur Geschichte von Sarepta.

Von Emil Meyer. Professor.

Bei der Gründung der Kolonie Sarepta an der unteren Wolga kamen nicht die kolonisatorischen Bestrebungen der Kaiserin Katharina in Betracht, sondern eine religiöse Geistesrichtung einer Brüdergemeinde. Diese Gemeinde wurde durch den Grafen von Zinzendorf am Hutberge bei Berthelsdorf in der Lausitz (Deutschland) geschaffen. Seit 1722 entstand dort in der Nähe der Ort Herrenhut, das der ganzen Bewegung den Namen Herrenhuter Brüdergemeinde gab. Die offizielle ursprüngliche Bezeichnung lautet: „Herrnhuter Brüdergemeine“. Die Hauptaufgabe derselben liegt in erster Linie auf dem Gebiete der Heidenmission. In allen Ländern sieht man sie verbreitet, wie in West-Indien, Südafrika, Zentral-Asien usw. Bei der Gründung von Sarepta trat daher in erster Linie das Missionswerk und zwar unter den Kalmücken in den Vordergrund. Die Kalmücken aber zum christlichen Glauben zu bekehren, ist ihnen nie gelungen und noch heute sind die Kalmücken, auch die in der nächsten Nähe Sareptas wohnen, trotz ihrem etwas kultivierten Leben, Heiden (Lamaisten) geblieben. Hätte man dieses in Herrenhut vorausgesehen, so wäre Sarepta wohl nie in der Kalmückensteppe emporgewachsen. Wenn auch der Hauptzweck gescheitert ist, so hat ein anderes Ziel diese Kolonie zum Zentrum deutscher Kultur an der Wolga gemacht. Dieses entstand durch ein geordnetes Wesen, tätigen Arbeitsgeist und praktischen Erwerbssinn, der auch die irdischen Dinge großzügig und mit Geschick behandelte.

In Sarepta wurde ein deutsches Gemeinwesen geschaffen, welches in der Geschichte stets eine hohe kulturelle Bedeutung haben wird. Heute ist Sarepta keine Herrenhuter Brüdergemeine mehr. Auch haben die Nachschube aus der Heimat schon vor längerer Zeit aufgehört und die verhältnismäßig wenig zahlreichen Kolonistenfamilien sind in der Eheschließung ganz aufeinander angewiesen. Es gilt dieses auch von allen anderen deutschen Kolonien an der Wolga. Ein Umstand, der leider schwere Folgen nach sich zieht und das Deutschtum an der Wolga bedroht.—

Immerhin ein Geist, der sich durch Sarepta anderthalb Jahrhunderte so kräftig in Sarepta behauptet hat verschwindet nicht so bald und Goethes Worte bleiben wahr:

„Die Stätte, die ein guter Mensch betrat,
Ist eingeweiht;
Nach hundert Jahren klingt
Sein Wort und seine Tat dem Enkel wieder.“

— Und nun lassen wir dem Chronisten Sareptas[1] das Wort: Mit frohem Mut zogen im Jahre 1765 fünf unerschrockene Männer aus, die den Grund zu der künftigen Stadt „Sarepta“ legen sollten. Ihnen schlossen sich zur Hinreise fünf Begleiter an. Unter diesen Begleitern befand sich Abraham Louis Brandt, der als Porträtmaler in Öl sich großer Beliebtheit erfreute; er hatte im Aufträge der Gemeine eine ganze Galerie von Herrenhutern Deutschlands und Englands geschaffen und meldete sich nun zum Dienst in Rußland. Er diente als Reisemarschall der neu zuziehenden Kolonisten, die er in Moskau in Empfang nahm, er hatte dort als Kommissionär der Gemeinde seinen Wohnsitz. Sein feuriges Wesen und sein guter Humor mögen manchen Kolonisten die Anpassung an die neue Heimat erleichtert haben.

Die Reise von Petersburg über Moskau nach Nishny-Nowgorod legten die zehn Auswanderer in sieben Wagen mit siebzehn Pferden bespannt, zurück. Dank mieteten sie sich ein Schiff und kamen auf abwechslungsreicher Wolgafahrt, nach manchem Auffahren auf Sandbanken über Kasan und Saratow nach Zarizyn und brauchten hierfür 25 Tage stromabwärts! Ein Kommando von zehn Kosaken, die ihnen bei der Landvermessung behilflich sein sollten, begleitete sie auf dem rechten Ufer. Am 16 August, nachdem sie die große Biegung der Wolga bei Zarizyn umfahren hatten, lagerten sie sich an einer Stelle, wo der die Wolga begleitende Höhenzug der Hergenigebirge, sich von dem Fluss abwendet, um in südwestlicher Richtung nach der Steppe weiterzuziehen. Aus einem Sandlager brach dort eine starke Quelle zutage, deren wohlschmeckendes Wasser sie erquickte und die ihrem Herzen ein Bild sein mochte, von dem ebendigen Wasser, das vielleicht hier seine Quelle finden sollte, zu tränken ein dürftiges Volk. Von Süden her, den Bergen entlang, floß in tiefem Bett ein kleiner Fluß, die Sarpa genannt, der in die Wolga mündete. Dieser kleine Fluß, (eher Bach), seine Ufer, die Hügelkette, das Land an der Wolga, alles wurde genau untersucht und geprüft, und man fand, daß der Boden zum Ackerbau Wiesenwuchs, zu Obst- und Wein- und Maulbeerplantagen dienlich sein konnte; zur Betreibung von Mühlen schien die Sarpa hinreichend Wasser zu haben. Lehm und Sand zu Ziegeln fand sich ebenfalls und da ihnen bekannt war, daß in der Richtung nach Astrachan das Holz auf der rechten Seite der Wolga nur sparlich vorhanden sei, so gedachten sie fürs erste nicht weiter zu gehen, zumal sie vernommen hatten, daß in einer größeren Bergschlucht, die nach Süden mündete (der Tschaparnik) Eichen einen kleinen Wald bildeten. Darauf traten die Brüder in einer Schlucht zusammen und legten unter Gebet die endgültige Bestimmung zur Entscheidung durch das Los vor. Diese lautete dahin, daß sie hier bleiben und zwar den größten Teil des Landes auf der linken Seite der Sarpa nehmen sollten.

Planmäßig gingen sie nun ans Werk. Zuerst wurde der Marktplatz der künftigen Stadt abgestreckt und am 1. Oktober das erste Hans bezogen. Bald darauf stellte sich der russische Winter mit gewaltigen Schneestürmen ein, sodaß haushohe Schneewälle sich um ihre Hänschen legten. Wölfe und Füchse kamen in nächste Nähe und die ausgehungerten Kalmückenhunde fielen gelegentlich sogar die Menschen an. Der nächste Ort, von dem sie Lebensmittel beziehen konnten, Zarizyn, lag 28 Werst entfernt, das Wasser mußte von der Bergquelle hergeholt werden. In der Brüderhütte am Sarpabach (Bezeichnung des Ortes auf den ersten Briefen) mit ihren Ölpapier- und Fischhautfenstern herrschte ein reges Leben. Da wurde fleißig gehobelt, gehämmert gefeilt, poliert und daneben am russischen Alphabet buchstabiert. Die hier noch gänzlich unbekannten Talglichter bildeten den ersten schwunghaften Fabrikations- und Handelsartikel. Die Bestellungen liefen pudweise ein. Und als der Frühling kam, da staunten die zehn Brüder über die Wunder der zum Leben erwachenden Steppe. Wildenten und andere Vögel ließen sich auf den Teichen der Sarpa nieder, die Fische konnten sie an feuchten Stellen des Baches mit den Händen fangen, die Mengern der Tulpen und anderer Gewächse entzückte ihr Auge. Bald stellten sich aber ungeheure Schwärme von Fliegen und Mücken ein und gewaltige Viehherden der Kalmückenhorden wurden von russischen Händlern über ihr Land getrieben wodurch beträchtlicher Schaden verursacht wurde.

Damals kam der erste Brief aus der alten Heimat und teilte mit, daß die Kolonie an der Sarpa „Sarepta“ heißen solle, in Verbindung mit dem Bibelspruche von I. Kön. 17, 9 mit dem Namen des Flüßchens. Bereits am 18. Juni traf eine Gesellschaft von 51 Personen beiderlei Geschlechts ein, sodaß schon vor ihrer Ankunft der Baueifer der Brüder aufs Höchste stieg. Ganze Flöße wurden in Zarizyn gekauft und eine Schar Zimmerleute dort aufgehoben. Die Überraschung der Ankommenden soll nicht gering gewesen sein, als sie die in so kurzer Zeit vollbrachte Arbeit sahen: „14 Häuser und Hütten standen teils fertig da, teils noch in Arbeit; zwei Weinberge waren angelegt, andere Gärten mit Gemüse und Obstbäumen bepflanzt; ein großes Arbusenfeld bot schon beinahe reise Früchte dar.“ Da legten sich auch die Ankömmlinge mit Wucht ins Zeug; alle waren gelernte Handwerker und arbeiteten einander in die Hand; wer in seinem Berufe noch keine Verwendung finden konnte, griff an, wo es nötig war. Ein kleiner Kramladen wurde eröffnet, eine Tabakfabrik eingerichtet und der Gasthof mit dem Bäckerladen in Betrieb gesetzt.

Drei Jahr nach der Gründling wurde der Ort mit Graben und Wall umgeben und letzterer mit 18 Kanonen, von welchen die Regierung zwölf Stück lieferte, ausgestattet, die den wilden Kabardinern aus dem Kaukasus — Respekt einflößen sollten. Als der kubanische Fürst Sokov Adschi im Jahre 1771 Sarepta bedrohte standen die Sareptaner mit brennenden Lunten in den Batterien. Wegen der räuberischen Kirgisen mussten die Zugbrücken zurückgezogen und die Wachen verdoppelt werden. Eine sechzig Mann starke Räuberbande beabsichtigte Sarepta auszuplündern und anzuzünden. Auch Flußpiraten auf einem mit 3 Kanonen versehenen Schiff machten die Gegend unsicher. Alle diese Vorkommnisse bewogen den Gouverneur von Astrachan, nach Sarepta eine ständige Besatzung zu verlegen, die unter dem Befehle des Gemeindevorstehers — eines alten Soldaten, stand.

Mit den Kalmücken wurde von Anfang an ein freundschaftliches Verhältnis unterhalten. Hier schlug die ärztliche Mission die erste Brücke zu den Herzen, lange dauerte es, bis man durch die Sprache sich einander nähern und gegenseitig verständigen konnte. Auf dem rechten Sarpaufer entstand ein Dörfchen, das meistens von kranken Kalmücken bewohnt war. Hier begannen auch die ersten Missionsversuche. Nur durch die Brücke getrennt, siedelten sich daselbst einige Brüder in einer Rinderhütte an und richteten sich in Kleidung und Nahrung ganz auf kalmückische Weise ein; später bauten ihnen die Kalmücken eine richtige Kibitka, die ihnen auf den Wanderzügen mit der Horde als Wohnung diente. Erwähnt sei hier noch ein Besuch bei der Chanin der großen Torgotenhorde, die ihre Gäste in einem Zelt empfing, das 300 Personen Raum bot, und sie mit Kumys bewirtete.

Im Jahr 1773 bedrohte Pugatscheff Sarepta. Dieser Kosak trat auch in vielen deutschen Wolgakolonien verheerend auf. Da er Zarizyn nicht nehmen konnte, ließ er Sarepta überfallen, das in Eile geräumt wurde. Die Frauen und Kinder sind aus der Wolga nach Astrachan geflüchtet, die Männer zogen dem Ufer entlang. Der tapfere Gemeindevorsteher Daniel Fick verließ den Ort als letzter, erst eine Stunde bevor die Plünderer anrückten und eine greuliche Verwüstung anrichteten. Das war ihre letzte Tat, denn noch während der Plünderung kam die Nachricht, daß Pugatscheff geschlagen und gefangen worden sei. Sarepta war gerettet. In neun Jahren war Sarepta unter zäher freudiger Arbeit erstanden. Ein Tag verwüstete und vernichtete alles, nur nicht den Mut der Bewohner. An den auf 70.000 Rubel geschätzten Schaden steuerte die Brüdergemeinde in der Heimat 12000 Rubel und die Regierung verlängerte die 30-jährige Frist der Steuerfreiheit.

Bis 1800 kamen jährlich Verstärkungen aus der Heimat, sodaß das Gemeinwesen auf 500 Seelen anwuchs, eine Zahl, die im ersten Jahrhundert des Bestehens von Sarepta nur noch ganz wenig überschritten wurde. Es war alles da, was eine Brüdergemeindekolonie an Einrichtungen aufweisen muß; nicht weniger als 20 Gewerbe waren vertreten. Das Gedeihen beruhte auf dem großen Absatzgebiet, das sich die Kolonie schuf. Zu diesem Zwecke wurden Geschäfte in Saratow, Petersburg und Moskau gegründet. Es wurde nichts unversucht gelassen, was irgendwie zum Anbau, zur Rohstoffgewinnung, zur Fabrikation, zur gedeihlichen Entwickelung des Handels geeignet schien. Als z. B. die Regierung die Einführung von Wollstoffen verbot, dagegen spanische und persische Schafe einführte, entschloß man sich auch in Sarepta, selbstgezogene Wolle zu verarbeiten. Die Zuchttiere mußten in Odessa und Astrachan abgeholt werden. Die Regierung bewilligte ein großes Stück Weideland unter der Bedingung, daß die Herde binnen zehn Jahren auf 1000 Stück vermehrt werde. Das geschah zwar; gleichwohl mißglückte das Geschäft, hauptsächlich infolge von mangelnder Blutauffrischung, sodaß die Qualität der Wolle sehr zu wünschen übrig ließ. Dann wurde persische Ziegenwolle verarbeitet, aber die Pestquarantäne erschwerte die Zufuhr und die Fabrikation geriet ins Stocken. Die westliche Zufuhr von Rohmaterial wurde zeitweise durch die von Napoleon I verhängte Kontinentalsperre fast ganz abgeschnitten. Hauptfabrikationsartikel waren halbseidene und baumwollene Tücher, halbseidene Leinwand, baumwollene Mützen und Strümpfe. Die Hauptfabrikate erhielten den Namen Sarpinka, nach dem Fluße Sarpa benannt und heute ist dieser Name überall bekannt.

Weniger lohnend als erwartet wurde, erwies sich der Landbau. Den Sareptatabak konnten, wie es scheint, auf die Dauer nur die Kalmücken vertragen. Anders verhält es sich mit dem Senf. Der Kalmückenmissionär und Arzt Konrad Neitz widmete in seinen älteren Tagen seine Zeit allerlei landwirtschaftlichen Versuchen, so der Schafzucht, dem Anbau von Wein, Safran und Hanf, Rizinus, Indigo Kolbenhirse (Zuckerrohr), Erdnüssen usw. Als Anerkennung seiner Verdienste erhielt er im Verlauf der Jahre von der russischen ökonomischen Gesellschaft 13 silberne und goldene Medaillen. Im Jahre 1801 machte er einen Versuch mit dem Anbau von Senf, der die vorzügliche Qualität der hier gebauten Frucht ergab. Durch die von ihm angewandte Methode der Entölung durch die Ölpresse gab er seinem Fabrikate die nötige Schmackhaftigkeit und Haltbarkeit. Der Handmühlenbetrieb wurde in ein Göbelwerk verwandelt und dann brachte die Kontinentalsperre das Glück! Am kaiserlichen Hofe entbehrte man schmerzlich den englischen Senf; als nun, wie gerufen, eine Probe vom Sareptasenf auf die Tafel des Zaren kam, da vergaß man darauf den englischen Senf. Der Kaiser fand das neue Laudesprodukt so vorzüglich, daß er den Fabrikanten mit einer goldenen Uhr beschenkte. Und von Stund an konnte Bruder Neitz die Nachfrage nach seinem Senf in Petersburg nicht mehr befriedigen. Im Jahre 1815 ging das Geschäft an J. C. Glitsch, feinen Schwiegersohn über und blieb seit einem Jahrhundert in den Händen dieser Familie. Die Firma stellte 1856 die erste Dampfmaschine in Sarepta auf.

Noch ein anderes Genußmittel bildete eine Zeitlang eine reiche Einnahmequelle. Man fabrizierte in Sarepta einen vorzüglichen Branntwein. Nur war es der Gemeinde nie recht wohl dabei, denn die Überlegung, daß dann eben andere den Schnaps brennen würden, wenn man es nicht selber tue, beruhigte auf die Dauer das Gewissen nicht. Man fand es mit der Würde der Gemeinde unvereinbar, diese Art von Pest im russischen Reiche zugunsten „der Ökonomie“ zu pflegen und ließ diese Einnahmequelle versiegen. (Das Sareptarer Balsam lieferten sie jedoch auch weiter noch. Die Red.)

Einen edleren Fabrikationszweig, der die Vielseitigkeit Sareptas noch besonders kennzeichnet, betrieb Göttlich Mücke. Von Haus aus ein Schindelmacher, aber voll künstlerischer Begabung, baute er nach englischem Muster Klaviere, die damals geschätzt und zu guten Preisen verkauft wurden.

Vieles Interessante wäre noch zu erzählen von diesem erwerbsfleißigen Völklein, das mit knapper Not ein zweites Mal der Vernichtung seiner Existenz entronnen ist. Das geschah bei Anlaß der großen Feuersbrunst am 9. August des Jahres 1813. Zwei Drittel der blühenden Ortschaft wurden eingeäschert; 350 Personen waren obdachlos. Der Schaden belief sich auf über l Million Rubel. Auch den Mutigsten hätte diesmal der Mut sinken müssen, wenn nicht die Brüdergemeinde in ganz Europa 115.000 Rbl. aufgebracht hätte; einen zinsfreien Vorschuß von 100.000 Rubel gewährte die Regierung Überdies abgeflossen aus der Kasse der Brüdergemeinde bis zum Jahre 1848 total 163.000 Rubel, und dank seiner opferwilligen Hilfe und der zähen Willenskraft der Gemeinde gelang es, sämtliche Gläubiger zu befriedigen. Sarepta aus der Asche neu erstehen zu lassen und das Gemeinwesen im Jahre 1862 völlig schuldenfrei zu machen.

Im Jahre l830 brach in Astrachan die Cholera aus. Das veranlagte eine panikartige Flucht von vielen Tausend Menschen wolgaaufwärts. Die Flüchtigen wurden in Sarepta mit Speise und Trank versehen, doch wurde ihnen der bleibende Aufenthalt innerhalb der Stadt verweigert und gleichzeitig umfassende Vorsichtsmaßregeln getroffen. So kam es, daß in Sarepta kein einziger Todesfall zu beklagen war, während die Seuche in Zarizyn und besonders in Saratow furchtbar wütete. Gewiß dürfen wir auch darin den Sieg einer überlegenen Kultur erblicken, welche dieses deutsche Gemeinwesen im Inneren Rußlands so vorteilhaft auszeichnet. Sarepta besaß schon seit 1783 eine vorzügliche Trinkwasserversorgung mit einem Reservoir auf dem Marktplatz, das unter Druck gesetzt werden konnte und auch zur Speisung der Feuerspritzen gute Dienste leistete. Im gleichen Jahre hatte die Gemeinde mit bedeutenden Kosten eine Feuerspritze aus Herrenhut kommen lassen. Die Quelle wurde aus einer Entfernung von 3 Werst hergeleitet.

Reich ist die Geschichte an Einzelzügen, welche die hohe Auffassung vom Zweck der Gemeinde und ihrer Verantwortung gegenüber ihrer engeren und weiteren Umgebung darlegen.

Sarepta wurde beinahe überall in Rußland bekannt und sein Ruhm reichte bis ans Ende von West-Europa. Kein Wunder, daß auch berühmte Leute gern dort einkehrten und sich bei diesem Völklein wohlfühlten. Den Ehrenplatz nimmt wohl der große deutsche Naturforscher Alexander von Humboldt ein, der 1829 auf der Rückkehr von Sibirien, wo er geographische Messungen vorgenommen hatte, Sarepta besuchte und froh war, als der geschickte Meister David Hamel die schadhaft gewordenen Instrumente wieder in Stand setzen konnte. Er würdigte auch die naturwissenschaftlichen und ethnographischen Sammlungen des Vorstehers Zwick. Ein anderer Gelehrter, Professor Parrot, reiste nach seiner Ararat-Besteigung nach Sarepta. Der Entomologe Kindermann begeisterte mehrere Sareptaner für dieses Studium, aus dem eine eigentliche Erwerbsquelle wurde. Alexander Bäcker, Weber und Organist, sammelte und trocknete Pflanzen der Steppen und versah viele inländische und ausländische Sammlungen wissenschaftlicher Institute mit südöstlichen russischen Pflanzen. A. Bäcker, gab auch ein Verzeichnis der um Sarepta wildwachsenden Pflanzen heraus, 1862, und Beiträge zum Verzeichnis der um Sarepta und am Bogdoberge vorkommenden Pflanzen und Insekten, 1867. Ein Doktor Auerbach unternahm von hier aus eine Expedition nach dem Bogdoberg und die Gelehrten der Kasaner Universität Dimo und Keller machen in neuerer Zeit, 1907, von Sarepta aus ihre Boden- und botanischen Forschungen, welche sie in einem größeren Werke „Im Gebiet der Halbwüste“ niederlegten. Der bekannte Staatsrat Karl Ernst von Bär traf 1854 an der Spitze einer Expedition ein, um die Fischereiverhältnisse im Kaspischen Meere zu erforschen; er machte in Sarepta Versuche mit künstlicher Fischzucht.

Aber nicht nur Fremde erhöhten den Ruhm Sareptas; es hatte hinter seinen Wällen eigene Leute, die sich Auszeichnungen erwarben. Der frühere Kalmücken-Missionär Isaak Jak. Schmidt zeichnete sich als Orientalist aus, sodaß er zum Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Petersburg ernannt wurde. Die gleiche Ehre erfuhr Joseph Hamel, der durch eisernen Fleiß als Mechaniker und Naturforscher sich verdient machte.

Das Schulwesen wurde auf das Sorgfältigste gepflegt. Es gab um das Jahr 1832 eine Knaben- eine Mädchen- und Kleinkinderschule und eine Art Internat für auswärtige Kolonistenknaben, die sonst keine Gelegenheit zu ihrer Schulbildung gehabt hätten und später in Ämter und Handel eintraten. Umgekehrt wurden von der Gemeinde Mädchen nach Deutschland geschickt, um sie in den Erziehungsanstalten der Brüdergemeinde zu Lehrerinnen auszubilden, und Knaben kamen nach der alten Heimat, um zu tüchtigen Handwerkern in die Lehre zu gehen, so wurde in Sarepta das Handwerk auf der Höhe erhalten. — Wer aber glaubte, daß über dem Arbeitsgeist die Kunst zu kurz gekommen, der wird erstaunt sein, zu vernehmen, daß z. B. in den Jahren 1850 bis 1862, nicht weniger als 43 Konzerte, zum Teil mit großer Orchesterbegleitung, aufgeführt wurden.

Überblicken wir die Geschichte Sareptas, so muß jedem für dieses Gemeinwesen volle Hochachtung erfüllen, welches aus deutschem Geist hervorgegangen ist. Die jetzigen Bestrebungen der deutschen Wolgakolonien, mit dem Mutterlande Verbindungen anzuknüpfen, werden allen Wolgadeutschen zum Vorteile gereichen. Möge aus dieser Verbindung der Geist, der einstmals über Sarepta schwebte, sich ausbreiten und erneuern und Saat ausstreuen unter den in Finsternis und Rohheit Lebenden, zum Wohle aller Deutschen an der Wolga!


[1] Alexander Glitsch. Geschichte der Brüdergemeine Sarepta im östlichen Rußland während ihres 100-jährigen Bestehens — 1865. Kl, 80, 400 S.


Beiträge zur Heimatkunde des deutschen Wolgagebiets. – Pokrowsk, 1923, S. 29-33.