Geschichte der Wolgadeutschen

DIE UFER / БЕРЕГА

ALMANACH DER RUSSLANDDEUTSCHEN
АЛЬМАНАХ РОССИЙСКИХ НЕМЦЕВ


Ausgewählte Werke
von Dominik Hollmann


Доминик Гольман (Dominik Hollmann, 1899-1990) – педагог, прозаик и поэт, публицист и литературный критик. Последовательный борец за восстановление доброго имени российских немцев и их автономной республики. Коллеги-писатели уважительно называли его «Старейший мастер российско-немецкой литературы».

Для альманаха DIE UFER/БЕРЕГА я выбрал некоторые стихи из его литературного наследия, в которых, на мой взгляд, отражена судьба нашего народа с момента прибытия немецких колонистов на Нижнюю Волгу во второй половине 18-го и до конца 20-го века.

Во время так называемого «Периода Большого Молчания» (1941-1957) и позже, вплоть до периода гласности, любая публикация на тему истории российских немцев, которая каким-либо образом могла напомнить об их жизни в довоенный период, о немецкой автономной республике, была невозможна. Слова «трудармия», «депортация» не должны были упоминаться в произведениях российских немцев. Даже слово «Волга» было под запретом.

В семейном архиве Гольман-Бендер хранится рукопись повести Доминика Гольмана „Vergangene Tage“ («Прошедшие дни»). Рядом со словом «дистрофия» и описанием актирования нетрудоспособных трудармейцев красным редакторским карандашом начертано: „Das kommt nicht durch“ («это не пройдет»). Автору было предложено перенести место действия из советского трудармейского лагеря в фашистский концентрационный лагерь. Гольман на это не согласился, и повесть отклонили.

Не был опубликован в советское время и рассказ „Brudergrab in der Taiga“ («Братская могила в тайге»). В книге „Russland-Deutsche Autoren. Weggefahrten, Weggestalter.1764-1990“, изданной в Германии, Рейнгольд Кайль пишет: „Der Autor ist mir bekannt, aber seinen Namen kann ich hier noch nicht nennen“ («Автор рассказа мне известен, но я не могу назвать его имя»).

Такие стихи Д. Гольмана как „Nachkommen“ («Потомкам»), „Wiegenlied einer sowjetdeutschen Mutter in der sibirischen Verbannung“ («Колыбельная советской немки в сибирском изгнании»), „Mein Heimatland“ («Моя Родина»), где поэт открыто говорит и о жизни на Волге до войны, и о недоверии и несправедливости по отношению к своему народу, не могли быть опубликованы. Автор послал их своему соратнику по перу. Так, в письмах распространялись они среди российских немцев и стали поистине народными. Многие из них пели на мелодии известных русских песен; так, например, стихотворение „Mein Heimatland“ («Моя Родина») положили на мотив песни о Стеньке Разине.

У стихотворения «Колыбельная советской немки в сибирском изгнании» своя предыстория. Когда в 1948 году родилась моя старшая сестра и родители пришли в ЗАГС за получением свидетельства о рождении, им было заявлено, что новорожденная должна быть внесена в список выселенных и находящихся под надзором, и лишь тогда, с письменного разрешения коменданта, может быть выдано свидетельство о рождении. Мама написала об этом своему отцу, и так возникло стихотворение, в котором Доминик Гольман призывает:

Wachse Kind! Straff deine Sehnen!
Sei kein stummer Knecht!
Denk an deiner Mutter Tranen
und verlang dein Recht!

Расти, дитя! Укрепляй свои мускулы!
Не будь безмолвным рабом!
Помни о слезах своей матери
И требуй свои права!

Не были изданы в советское время и другие стихотворения Д. Гольмана, публикуемые в этом альманахе. Лишь в период гласности некоторые из них появились в немецкоязычных газетах с указанием имени автора.

В 1989 году мы, уже без контроля цензуры, издали книгу стихов Доминика Гольмана „Ich schenk‘ dir Heimat, meine Lieder“ («Тебе, о Родина, дарю я свои песни»), посвященных его горячо любимой волжской Родине.

Рудольф Бендер


Dominik Hollmann (1899-1990), Schriftsteller und Dichter, Publizist und Literaturkritiker, von seinen Schriftstellerkollegen hochachtungsvoll „Altmeister der russlanddeutschen Literatur“ genannt, aktiver Mitstreiter der Bewegung für die Wiederherstellung der Autonome Republik der Wolgadeutschen.

Für den Almanach „Die Ufer“ habe ich einige Gedichte aus seinem Nachlass ausgewählt, die den Lebensweg unserer Volksgruppe von der Ankunft der Neusieder an der unteren Wolga im 18. Jahrhundert bis zum Ende des 20. Jahrhunderts wiederspiegeln.

Zu seiner Zeit durfte nicht über die Geschichte und das Leben der Deutschen in Russland geschrieben werden. Die Worte „Trudarmee“ und „Deportation“ durften nicht erwähnt werden, nichts sollte an das Leben vor dem Krieg bzw. auf die autonome Republik erinnern. Sogar das Wort „Wolga“ war unerwünscht. Im Archiv der Hollmann-Bender-Familie wird eine Handschrift von Dominik Hollmanns Großerzählung „Vergangene Tage“ aufbewahrt, wo ein Redakteur, in Bezug auf das Wort „Dystrophie“ und die Beschreibung, wie die kranken Insassen der Trudarmeelagern beschrieben werden, vermerkt: „Das kommt nicht durch“. Hollmann wurde vorgeschlagen, den Handlungsort zu ändern. Anstatt der sowjetischen Trudarmeelager sollte es um die faschistischen KZs handeln. Da Hollmann diese nicht bewilligt hat, wurde die Großerzählung ganz abgelehnt.

Auch die Kurzerzählung „Brudergrab in der Taiga“ konnte damals in der Sowjetunion nicht veröffentlicht werden. Reinhold Keil schreibt in seinem, in Deutschland herausgegebenen, Buch „Russland-Deutsche Autoren. Weggefährten, Weggestalter.1764-1990“: „Der Autor ist mir bekannt, aber seinen Namen kann ich hier noch nicht nennen“.

Auch solche Gedichte wie „Nachkommen“, „Wiegenlied einer sowjetdeutschen
Mutter in der sibirischen Verbannung“, „Mein Heimatland“, wo der Dichter offen und direkt von dem Leben an der Wolga vor dem Krieg, von Misstrauen und Ungerechtigkeit zu seiner Volksgruppe schreibt, konnten nicht veröffentlicht werden. Sie wurden an Freunden geschickt und in Briefen, ohne den Autor zu nennen, weiterverbreitet. Einige wurden zu den Melodien bekannter russischer Lieder gesungen, wie z.B. das Gedicht „Mein Heimatland“ zu der Melodie von „Stenjka-Rasin-Lied“, und so zu „Volksliedern“ wurden.

Das Gedicht „Wiegenlied einer sowjetdeutschen Mutter in der sibirischen Verbannung“ hat eine Vorgeschichte. Als meine älteste Schwester 1948 geboren wurde und meine Eltern den Geburtsschein im Standesamt beantragt hatten, wurde ihnen mitgeteilt, dass das Neugeborene erst in der Liste der Verbannten bei dem örtlichen Kommandanten eingetragen werden muss. Nur dann, mit der schriftlichen Erlaubnis der Kommandanten, dürften sie wieder kommen. Meine Mutter hat über den Vorfall ihrem Vater Dominik Hollmann geschrieben und so entstand das Gedicht, wo Autor ruft:

Wachse Kind! Straff deine Sehnen!
Sei kein stummer Knecht!
Denk an deiner Mutter Tränen
und verlang dein Recht!

Auch die anderen, in den Almanach aufgenommenen, Gedichte wurden nie zur Sowjetzeit gedruckt.

Erst mit der „Glasnostj“ der 1980ger Jahre wurden sie in der deutschsprachigen Zeitungen dem Leser vorgestellt und der Autor beim Namen genannt.

Im Jahre 1998 erblickte der Band „Ich schenk‘ dir Heimat, meine Lieder“ das Licht der Welt, wo die Gedichte von Dominik Hollmann, gewidmet seiner geliebten Wolgaheimat, ohne Zensur veröffentlicht wurde.

Rudolf Bender



Thymian

(Prolog zu dem unbeendeten Poem über die ersten
deutschen Kolonisten an der Wolga )

Die Steppe ist schon ausgebrannt,
grau ist das Gras und brüchig:
Ein traurig kahles Stachelland.
Die Kratzdisteln sind wutentbrannt.
Wie weh tun ihre Stiche!

Der Peter sieht sich schaudernd um,
und seine Lippen beben.
Nur fremde Öde ringsherum!
Ist es denn nicht doch allzu dumm,
Von nun an hier zu leben?!

Ein Erdhas da, mit langem Schwanz
und kurzen Vorderbeinen,
hüpft leicht im heißen Sonnenglanz
zum Hügel, wo er sich verschanzt
im Sande hinter Steinen.

Und kerzengrad der Pfiffer1 steht,
weit tönen seine Pfiffe,
daß Steppenaar schon nach ihm späht,
der Geier schon zum Sturzflug geht,
das hat er nicht begriffen.

Der Echse tut die Sonne gut
auf jener Sandsteinplatte.
Sie wärmt ihr träges kaltes Blut.
Dem Mann vergeht beinah der Mut:
kein Baum verbreitet Schatten.

Ist das nicht unser Missgeschick
und lauerndes Verderben?
Umsonst sucht einen Wald sein Blick!
O, könnten wir noch mal zurück!
Zu Hause möcht ich sterben...

Und fast zertritt er mit dem Fuß
ein unscheinbares Kräutlein...
Welch herber Duft! Als wär’s ein Gruß,
ein lieber trauter Heimatgruß
wie Abendglockenläuten!

Bezaubert steht er da und weint,
doch sind es Freudetränen.
O, Thymian! Du kleiner Freund
fühlst meine Not. Mit dir vereint
will ich daheim mich wähnen!

Trost redet zu er seiner Frau
und seinen Nachbarsleuten.
„Zwar gibt’s hier keine Blumenau
und wenig Grün, zumeist nur Grau,
doch seht mal – diese Weiten!“


* * *

Schweres Los, mein böses Schicksal
hast mir übel zugespielt,
hast mich von der schönen Wolga
nach Sibirien hingeführt.

Nicht für böses Tun und Treiben,
nicht für eine schlechte Tat.
Keine Schuld stürzt mich ins Unglück, –
nur Verleumdung und Verrat.

Kein Verbrechen je begangen,
immer Gutes nur im Sinn.
Mußte geh’n in die Verbannung
nur weil ich ein Deutscher bin.

Längst ist jener Feind zerschlagen,
das Land von andern wird regiert.
Aber ich muß hier verharren,
widerrechtlich hergeführt.

Und ich sehn mich nach der Heimat,
frag in aller Welt herum:
Warum darf ich nicht nach Hause?
Sagt mir’s Leute! Sagt: Warum?

1970-iger Jahre.

 

Sehnsucht

Mir ist heut so sonderbar zu Mute.
‘S ist die Sehnsucht, die mein Herz mir preßt,
nach der Heimat, nach den lieben Kindern.
Ja, die Sehnsucht mich nicht ruhen läßt.

Sinnend steh ich vor dem Stacheldrahte,
und mein Blick in weite Ferne schweift...
Nur wer Gleiches mit mir hat erlebet,
so wie ich den tiefen Schmerz begreift.

Wenn die Sonne golden sich erhebet,
denk ich: Ostwärts weilt mein trautes Weib.
Wenn sie purpurn sich im Westen neiget,
mich die Sehnsucht um so stärker treibt.

Und der Mond am blauen Firmamente,
und der Silbersternchen milder Schein –
alles weckt in mir die gleiche Sehnsucht,
auf dem Herzen liegt ein schwerer Stein.

Dürft ich wünschen, wie man ‘s tat vor Zeiten,
wünscht ich mir des Adlers Flügelpaar,
wollte fliegen in die alte Heimat,
wo mein Leben voller Freude war.

Wo die Wolga majestätisch fließet,
Wo der Weizen goldne Ähren trägt,
Wo die Steppe sich unendlich weitet,
Wo die Nachtigall im Garten schlägt.

Aber ach! wann wird die Zeit mir blühen?
Ringsum dunkler, wilder Tannenwald,
graue Wolken decken stets den Himmel
und der Wind weht rauh und eisig kalt.

Wjatlag, 1942


Mein Leidensweg
(Erinnerung)

Ich war ein Mann in besten Jahren,
doch hungrig, elend, arm und schwach,
als mich „Spartak“ – der alte Dampfer
hinauf zum hohen Norden bracht’.

Das Wiedersehen mit den Lieben
war weniger als freudenreich;
es lag die Gattin krank darnieder,
die Kinder waren stumm und bleich.

Und ringsum mürrische Gesichter…
Und Schimpf und Spott, und Schmach und Hohn
gelangte mir für heißes Streben –
zum Feind gestempelt, – bittrer Lohn.

Es siechte hin die teure Gattin,
vom Schuß getroffen fiel mein Kind…
Die Herzensqualen zu beschreiben
zu schwach die Menschenworte sind.

Doch hab ich alles überwunden
und langsam wieder mich ermannt,
weil sich auch mancher Freund gefunden
und manche hilfsbereite Hand.

Ich fühlte meine Kräfte schwellen,
das Blut pulsierte wieder echt.
Ich konnte mich zur Arbeit stellen,
zum Kampfe für das Menschenrecht.


Wiegenlied einer sowjetdeutschen Mutter
in der sibirischen Verbannung

Schlaf mein Kind, mein lieber Knabe!
Dunkel ist die Nacht.
Nur der Mond am Wanderstabe
hält allein noch Wacht.

An dem schönen Wolgastrande
waren wir zuhaus.
Doch man trieb mit Schmach und Schande
uns von dort hinaus.

Malte uns ‘nen schwarzen Flecken
auf die freie Brust.
Mußten leiden Greul und Schrecken,
Kummer und Verdruß.

Jeden Sowjetdeutschen nennt man
Diversant, Spion...
Schlaf, mein kleiner deutscher Landsmann!
Schlaf, mein lieber Sohn!

Und auch du, in deiner Wiege
hast schon diesen Fleck,
denn trotz aller großer Siege,
niemand wischt ihn weg:

In dem großen Sowjetlande
jedem blüht sein Glück.
Du allein bleibst ein Verbannter,
denn zum heimatlichen Strande
darfst du nicht zurück.

Viele schöne Worte sagt man
einst auch dir, mein Sohn.
Doch solang den Fleck wir tragen,
ist es schnöder Hohn.

Schlaf mein Kind, beim Silberscheine,
bist noch klein und schwach,
weißt noch nicht, warum ich weine,
nichts von Haß und Schmach.

Wachse Kind! Straff deine Sehnen!
Sei kein stummer Knecht!
Denk an deiner Mutter Tränen
und verlang dein Recht!


Mein Heimatland2

Wo der Karaman leise plätschernd
um den sandigen Hügel biegt,
wo die alte Trauerweide
über ihm die Äste wiegt,
wo die breiten Ackerfelder
dampfen in dem Sonnenbrand, –
an der Wolga, an der Wolga
ist mein liebes Heimatland.

Wo beim ersten Sonnenstrahle
sich die Lerche trillernd schwingt,
wo des Dampfers schrilles Tuten
weitaus in die Steppe dringt,
wo mir jeder Stein und Hügel
ist von Jugend auf bekannt, –
an der Wolga, an der Wolga
ist mein trautes Heimatland.

Wo die Kirschen purpurn glühen,
reift der Äpfel goldne Last,
wo die saftigsten Arbusen
labten uns zur Mittagsrast,
wo wir deutschen Tabak bauten,
wie kein zweiter war bekannt, –
an der Wolga, an der Wolga
ist mein teures Heimatland.

Wo mein Herz der ersten Liebe
und der Freundschaft Macht erkannt,
wo bei gut und schlechten Zeiten
ich auf festen Füßen stand,
wo mein Vater arbeitsmüde
seine letzte Ruhe fand, –
an der Wolga, an der Wolga,
ist mein wahres Heimatland.

1948


* * *

Weint, ihr Berge und Klippen,
Weint, ihr Hügel und Täler!
Weint, ihr Bäume und Sträucher!
Weint mit mir, ihr Bäche und Flüsse!
Weint, ihr Sterne am nächtlichen Himmel!
Weint bittere Tränen mit mir, ihr Naturgewalten!
Weint – ob des kläglichen Schicksals unseres armen
vertriebenen, mißachteten Völkchens.

17. September 1987


Ein Traum

Nach langen und qualvollen Jahren
in ferner bewaldeter Schlucht
hab ich, meine Sehnsucht zu stillen,
die liebliche Heimat besucht.

Zwar weiß ich, dort darf ich nicht wohnen,
mir ist es von Oben versagt.
Wie oft hab ich das schon im Stillen
im Kreise der Freunde beklagt.

Doch scheut ich nicht Müh noch Beschwerden
und zog über Täler und Höh’n,
um einmal noch, wenigstens einmal
die Heimat, die Heimat zu sehn.

Das trauliche Mütterchen Wolga,
sie lächelt mich wehmütig an:
"Wo warst du so lange gewesen?
Was hab ich dir böses getan?

Wahrhaftig du warst und du bleibst mir
mein armer, geächteter Sohn"–
so sagten die plätschernden Wellen.
Das war meiner Sehnsucht zum Lohn.

Mich grüßt das gebirgige Ufer
und links sich die Wiese hinzieht.
Erkenne auch manchmal die Ortschaft,
wo einst reiche Gärten geblüht.

Die Dörfer, mir einst so bekannten,
sie scheinen so fremd und verwaist...
Nur unverändert und heimisch
und friedlich die Ilowlja fließt.

Der Karamysch schlängelt noch immer
die hüglige Gegend entlang.
Das Rauschen der Quellen in Balzer
gleicht uralter Freunde Gesang.

Der Karaman ist trübe und traurig,
denn hin ist sein Ruhm, seine Pracht.
Wo sind all die fleißigen Bauern,
die er einst zum Wohlstand gebracht?

Auch unten zum Jerusslan3 komm ich.
Der flüstert vertraut wie ein Kind:
Kannst du mir, o Wandersmann, sagen,
wo jetzt meine Landsleute sind?

Noch flüchtig erblick ich auch Seelmann.
Nach Marxstadt4 gelüstet mich sehr.
Da sind meine Augen verschleiert,
ich sehe vor Tränen nichts mehr.


Der Wunsch

An der Wolga möcht’ ich weilen,
in die grünen Wellen schau’n,
möchte meine besten Zeilen
ihr, dem Mütterchen, vertrau’n.

Möchte deutsche Dörfer sehen,
grade Straßen, rein gefegt.
Lerchen in den blauen Höhen,
Apfelgärten, gut gepflegt.

Möchte hören frohe Lieder
und der Muttersprache Klang.
Das vermiß ich, liebe Brüder,
ach, schon zwanzig Jahre lang.

1960


Mutter Wolga

Schon manches Jahr leb ich mit heiterem Mut
in meiner Geburtsstadt Kamyschin.
Ich sehe die Wolga durchs Fenster ganz gut:
sie blinkt hinter Bäumen und Büschen.

Es ziehen flußauf und flußab ihre Spur
die Schiffe und Barken und Boote.
Sie tut ihre Pflicht, unsre Mutter Natur
nach alter erprobter Methode.

Ihr Silberglanz bringt meinem Herzen Genuß.
Was kann sich an Schönheit vergleichen!
Ihr strahlendes Antlitz ist mir wie ein Gruß,
ein mildes, ein herzhaftes Zeichen.

Wenn rosig Aurora den Himmel bemalt,
schmückt sie sich in liebliche Farben,
wenn golden die Sonne die Fluten durchstrahlt –
kein Mensch widersteht diesem Scharme.

Bisweilen nur runzelt sie ängstlich die Stirn,
und rauscht mir ganz sacht in die Ohren:
„Wie lang soll ich warten mit trauerndem Sinn
auf euch, die ich einstmal verloren?“

Ich gehe dem sandigen Ufer entlang
und lausch diesem Raunen der Wogen:
„Geh, sag allen Deutschen, ich warte auf euch,
kommt bald an die Wolga gezogen.

Ihr Kinder, ihr Lieben, die damals verscheucht
nach Norden, nach Osten vertrieben!
Kommt wieder zurück! Ach ich sehn mich nach euch.
Wo seid ihr so lange geblieben?

Die fruchtlosen Felder, sie rufen nach euch,
nach euren fleißigen Händen.
Daß goldener Weizen wie damals gedeih,
den Hungernden Labsal zu spenden,

daß hier werde wieder ein blühendes Land
und Wohlstand erstehe für alle.
Wir reichen auch brüderlich allen die Hand
und fröhliche Lieder erschallen.“


An die Wolga

Wolga, traute Mutter Wolga!
Dir gilt all mein Weh und Schmerz.
Wo ich bin und wo ich weile,
immer streb ich wolgawärts.

Dir, als meiner trauten Mutter
sang ich einst mein schönstes Lied,
weil mein Volk an deinem Strande
war durch fleiß’ge Tat erblüht.

Oft erscheinst du mir im Traume,
breit und lang – ein blaues Band.
Und ich beug mich hin und schöpfe
Wasser mit der hohlen Hand.

Rechts die hohen rauhen Berge,
links – voll Anmut grüne Flur.
Unauslöschbar sind die Bilder
deiner herrlichen Natur.

Fern von dir muß ich jetzt weilen,
muß dich meiden ungewollt...
Eine karge Männerträne
über meine Wange rollt.

1973


Den Nachkommen

Einst lebten wir im schönen Wolgalande.
Am Karaman stand mein altes Vaterhaus.
Da kam der Krieg. Mit Freunden und Verwandten
wir mußten nach Sibirien hinaus.

Hart war der Krieg, der Hunger und die Fröste.
Es mangelte gar oft am lieben Brot.
Doch schafften wir und mühten uns aufs beste
und langsam überstanden wir die Not.

Jahrzehntelang verachtet und entrechtet,
aufs schmählichste verleumdet und verkannt.
O denkt daran, ihr künftigen Geschlechter,
die ihr die Schmach der Väter nicht gekannt.

Ihr Jungen lebt in Wohlstand und Vergnügen,
zufrieden mit der Welt und eurem Aufenthalt.
Denkt ihr daran, wie viele Männer liegen
in Massengräbern dort im wilden Wald?

Kein Kreuz, kein Denkmal zeigt die Grabesstätte
und keine Tafel zählt die Namen auf
der Menschen, die vor Drangsal und vor Hunger
zu früh beendet ihren Lebenslauf.

Ende 1960ger Jahre


1 Pfiffer – Ziesel

2 Geschrieben als Antwort auf bekannten Erlass der Sowjetregierung von 1948 „Ihr seid verbannt auf ewige Zeiten“.

3 Ilowlja, Karamysch, Karaman, Jerusslan – Nebenflüsse der Wolga und des Don, an denen die Siedlungen der Deutschen lagen.

4 Balzer, Seelmann, Marxstadt – deutsche Städte an der Wolga.



Aus Dominik Hollmanns Tagebuch:

Ich bekam einen Brief von einem mir völlig unbekannten Menschen. Es ist nicht der einzige. Des öfteren wenden sich Unbekannte an mich mit Bitten, Fragen, Meinungen. Manche von diesen Briefschreibern werden dann meine Bekannten wie das Ehepaar Jorg aus Kopejsk. Dieser Brief enthielt eine besondere Bitte. Der Vater des Briefschreibers starb im Arbeitsdienst während des Krieges. Der Sohn möchte den Ort seiner Bestattung gern wissen, um dem Vater möglicherweise ein Grabmal zu errichten. Vermutlich war er in demselben Lager, wo ich meinen Arbeitsdienst entrichtete. Ob ich da nicht den Ort der Bestattung angeben könnte.

Der Brief entlockte mir zunächst einen schweren Seufzer und weckte traurige Gedanken. Die Trudarmejzen starben massenhaft – harte Arbeit, mangelhafte Nahrung. In der Nacht wurden die Leichen auf einen Wagen geladen und irgendwo in der Taiga in einer gemeinsamen Grube verscharrt. Dieses Loch, diese Grube wurde nie und wird nie den Ehrennamen Brudergrab tragen. Jene, die auf dem Schlachtfeld oder auch bei sonstigen Kriegsaktionen gefallen sind, wurden in Brudergräbern begraben. Gleich oder später errichtete man Grabmäler, wenn es nur ein einfacher Stein war, ein schlichtes Monument, eine Inschrift. Aber da, wo Sowjetdeutsche zugrunde geschändet wurden („Sie gaben ihr Leben hin“ ist ein viel zu hoher Ausdruck und entspricht der Wirklichkeit nicht), wo sie wie Tiere in dunkler Nacht verscharrt wurden, wird kein Stein, keine Inschrift den Ort bezeichnen. Ist das nicht ein krasser Fall schreiender Ungerechtigkeit, die nie gutgemacht werden kann.

Ich besuchte im Juli Salaspils bei Riga, wo die Faschisten ein Arbeitslager für Sowjetmenschen errichtet hatten. Fast die gleiche Situation: Schwere Arbeit, schlechte Verpflegung, massenhaftes Zugrundegehen. Die Leichen wurden in lange tiefe Gruben geworfen, die dann mittels Bulldozer zugeworfen wurden. Fast das gleiche Verfahren. Nur ein kleiner Unterschied. Jenes taten Faschisten mit Sowjetmenschen – ihren Feinden.

Dies in der Taiga taten Sowjetmenschen mit Sowjetmenschen.

Zum Andenken an alle jene in der Trudarmee zugrunde geschändeten verfasste ich.


Das Brudergrab in der Taiga

Ringsum die weite, kaum merklich abfallende Landschaft ist bis in die ferne Senke (vielleicht ein Graben) mit Baumstümpfen bestanden, die wie geduckte Wildtiere aussehen, und man meint, bei einem jähen Aufschrei würden sie hochschnellen und Reißaus nehmen. Hie und da wackelt und wiegt sich im Wind ein dünnes grünes Reis, als ob es sich über eine Unzahl von Stubben wundere. Eine gute Strecke rechts ist der Nachwuchs schon gut gediehen – die junge Nachwelt. Was hier an Stämmen, Schwellen, Grubenstützen und gewöhnlichem Brennholz beschafft worden ist – unglaubliche Mengen. Von unterernährten Menschen mit primitiven Geräten: Beil und Handsäge.

Über der Mulde drüben auf dem gigantischen Elefantenbuckel stehen die Föhren und Fichten noch in ihrer stolzen Starre und Unnahbarkeit, wie geharnischte Krieger, die jeder Gewalt trotzen – unberührte Taiga.

Der Vater war nach dem Kriege nicht nach Hause gekommen. Seine Gebeine ruhen tief in der Taiga. In einem Brudergrab. So sagten damals jene Alten. Adam wollte es sehen, wollte wissen, wo diese Taiga, wo dieses Brudergrab ist, das Vaters sterbliche Reste barg. Das hatte er sich gelobt, hatte es sich in den tiefsten Winkel seines Herzens geschrieben, als er hungrig und barfuß im dünnen Hemd mit den kurzen Ärmeln und den Flicken auf den Hosen neben dem Blechofen kauerte. Jetzt, ein Mann geworden mit eigenem Sinn und Charakter, wollte, nein, mußte er sein Gelübde einlösen. Er empfand es als eine Schuld, die er tilgen mußte. Er wollte dem Vater sagen ... Adam biß die Zähne aufeinander und stapfte das leicht ansteigende Terrain hinan, die sturen, stumpfen, fest in der Erde verkrampften Holzblöcke umgehend. Sie ärgerten ihn, er betrachtete sie als ein feindseliges Element, das seinen Haß weckte und je weiter desto mehr steigerte.

Ein Grabhügel war da nicht zu erkennen. Eher noch war die Stelle abgeebnet, sogar etwas eingesenkt. Aber wohl zehn Mannesschritte im Viereck gab es keine Baumstümpfe. Dagegen ragten zu beiden Seiten des flachen Platzes zwei alte Föhren hoch in den Himmel, die Äste skelettartig verknöchert und mit wehendem blaßgrünen Moos behangen. Sie standen da wie zwei ewigtreue Wächter. Ihnen allein ist bekannt, wie viel erstarrte nackte Leiber hier bei Schnee und Windesheulen in die breite tiefe Grube hinabgeworfen wurden. Ihre altersgrauen Wipfel raunten es dem Himmel zu – den Menschen verraten sie ihr Geheimnis nicht.

Am oberen Ende des viereckigen Platzes beschattet eine verkrüppelte, gebeugte, lebensmüde Birke das Grab. Ihre herabhängenden Ruten muten an wie die Haarsträhnen eines greisen Mütterchens, das sich über das Grab neigt, seine Kinder zu beweinen. Adam fiel auf die Knie nieder, umklammerte in heftiger Bewegung den rauhen Stamm der Birke, lehnte seine heiße Stirn an die rissige Rinde. „Vater“, stöhnte es aus ihm hervor, „Vater“.